2022-01:Lehren aus dem Ukrainekonflikt – Krisen vorbeugen, Gewalt verhindern: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 16:42, 5. Sep 2022

Rezension:

Lehren aus dem Ukrainekonflikt – Krisen vorbeugen, Gewalt verhindern

fb Dieser von Andreas Heinemann-Grüder, Claudia Crawford und Tim B. Peters herausgegebene Tagungsband erschien kurz vor der Invasion der Ukraine durch die russische Armee im Frühjahr 2022. Er trägt Beiträge von Expert*innen verschiedener Felder zusammen und umfasst sowohl militärische als auch politikwissenschaftliche Perspektiven, behandelt die Sondermission der OSZE, diskutiert sowjetische und russische Außenpolitik in Hinblick auf die Drohung mit dem größten Atomwaffenarsenal der Welt sowie die Positionen verschiedener Regierungen in diesem Konflikt. Obwohl das Thema des Buches nicht der aktuelle Krieg ist, sondern die sieben vorausgehenden Jahre einschließlich der Annexion der Krim durch Russland 2014 und der Ausrufung der prorussischen Separatisten-Republiken im Donbass zugrunde liegen, zeichnet es erstaunliche Parallelen insofern, als Erkenntnisse und Positionen, die seit dem 24. Februar 2022 medial oft als „neu“ präsentiert werden, in Fachkreisen schon seit vielen Jahren erörtert werden.

Auf den Punkt bringt diese Einschätzung die Verwendung des Begriffs der „Zeitenwende“, die heute im allgemeinen – bestätigt durch eine Fachartikelrecherche in politikwissenschaftlichen Datenbanken – Putins seit dem Frühjahr laufende „Militärische Spezialoperation“ meint und insbesondere Bundeskanzler Olaf Scholz zugeordnet wird, der diesen Begriff bei seiner Ansprache vor dem Bundestag kurz nach Kriegsbeginn benutzte. Tatsächlich wurde dieser Terminus aber bereits seit 2014 auf die veränderte russische Politik gegenüber der EU und den USA nach der Rückkehr Putins ins Präsidentenamt und insbesondere im Angesicht der militärischen russischen Interventionen in der Ukraine angewandt.

Sicherlich sind Stellungnahmen und Einschätzungen in Kriegszeiten besonders kritisch zu beäugen, weil auch um Informationen und die öffentliche Meinung Krieg geführt wird, und nicht nur die direkt kämpfenden Parteien Ukraine und Russland hierbei gewichtige Interessen verfolgen, sondern auch viele andere Staaten und Akteur*innen Deutungshoheit anstreben. Aspekte wie Transparenz, Ehrlichkeit und offene Diskussionskultur sind in einem laufenden Krieg noch schwieriger als ohnehin schon, weil einerseits der direkte Zugang zu Orten und betroffenen Personen komplizierter, teils sogar nicht möglich, ist, andererseits weil unterstellt werden muss, dass Akteur*innen, die das Töten von Menschen als – unter Kriegsbedingungen – alltägliche Normalität und legitim betrachten, auch mit Informationen strategisch umgehen. In diesem Zusammenhang ist der Kontext der Publikation nicht unbedeutend. Die Tagung, von deren Vortragenden einige diesem Buch – aktualisierte – Beiträge beisteuerten, fand im September 2020 in Wien statt und wurde von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung organisiert. Dass diese ihre Veranstaltungen – wie andere Parteistiftungen auch – strategisch ausrichtet und durch eine eigene Agenda motiviert Redner*innen und Beiträge auswählt, kann als sicher angenommen werden. Dies sollte im Hinterkopf behalten werden, auch wenn die Analysen von unabhängigen Expert*innen verantwortet werden. Die Auswahl der behandelten Fakten, die Analyseperspektiven und die Interpretationen können dadurch beeinflusst sein.

Der Tagungsband ist angesichts des andauernden Blutvergießens in der Ukraine und der grundsätzlichen Infragestellung des in der Konsequenz des Zweiten Weltkriegs entwickelten internationalen Rechts sowie der nach dem Ende des Kalten Krieges entstandenen europäischen Friedenssicherungsinstrumente hochbedeutend und aufschlussreich. Die Eskalation der nun Wirklichkeit gewordenen, im Buch erst noch erörterten, außenpolitischen Aggression des Putinschen Regimes wird zu einem Zeitpunkt erörtert und diskutiert, als viele der Autor*innen noch hofften, dass es nicht dazu kommen würde, unterliegt damit also einem geringeren Risiko der kriegerischen Instrumentalisierung von Information als dies der Fall ist, wenn der Krieg gerade aktiv geführt wird und die Verfasser*innen aus Staaten kommen, die, wenn derzeit auch nur indirekt, am Kriegsverlauf beteiligt sind. Vorteilhaft in diesem Sinne erscheint auch, dass die damalige Russlandpolitik der CDU-geführten Bundesregierung einen deutlich anderen Kurs hatte und Russland bevorzugt behandelte. Die hier publizierten Einschätzungen entsprechen daher kaum einer Strategie zur Unterstützung der (damaligen) deutschen Regierungspolitik.

Tatsächlich ist jeder einzelne Beitrag spannend und voller interessanter Informationen und Einschätzungen. Hier im Detail auf alles einzugehen, ist unmöglich. Stattdessen sollen nur beispielhaft einzelne Themenfelder angerissen werden. So wird zu Beginn ein politikwissenschaftlicher Überblick verschiedener Theorierichtungen in den Internationalen Beziehungen geboten, welcher nicht nur die Grundzüge dieser Denkschulen umfasst. Vielmehr werden die theoretischen Perspektiven und Schlussfolgerungen, die sich aus diesen ergeben, anschaulich auf den seit 2014 in der Ukraine laufenden Krieg angewendet. Diese Theorien sind nicht nur Fachkreisen vorbehalten, sondern spiegeln sich in den medialen Analysen und Positionierungen wider, die bekanntermaßen von imperialistischen Ambitionen des Diktators Putin bis zu einer Schuldzuweisung an „den Westen“ für den russischen Angriff auf die Ukraine reichen. Auch wenn solche, oft sich diametral widersprechend scheinenden, politischen Statements in den Medien ideologisch fundiert wirken, basieren einige ihrer Ideen auf den außenpolitischen Theorieschulen der Internationalen Beziehungen. Diese Theorien nehmen in Hinblick auf den Ukrainekonflikt oft verschiedene Perspektiven ein, beleuchten unterschiedliche Aspekte – und müssen sich deshalb nicht immer widersprechen, auch wenn die öffentlich daraus gezogenen Schlussfolgerungen zu entgegengesetzten Beschuldigungen bzw. Stellungnahmen führen. Auf diesen, teils kombinierten, Interpretationen russischer Außenpolitik bauen wiederum geläufige politische Antworten, auch deutscher, Politiker*innen auf, die vereinfacht als „Entspannungspolitik“, „Eindämmung/Abschreckung“ oder „Systemwandel“ bezeichnet werden können. Somit hilft der Tagungsband zu verstehen, auf welchen Annahmen und Sichtweisen gängige politische Forderungen basieren, aber auch zu erkennen, dass sie jeweils nur Antworten auf Teile des komplexen politischen Gesamtbildes sein könnten.

Einer intensiven Analyse wird die deutsche Russlandpolitik unterworfen. Hierbei geht es um Grundannahmen über die Intentionen und Verhaltensweisen der russischen Regierung, die Argumentation deutscher Positionen und die tatsächlichen Handlungsmuster Russlands in den letzten zehn Jahren. In diesem Zusammenhang wird einerseits die veränderte Rolle der Bundesregierung als aktiver Part bei der europäischen Sanktionspolitik infolge der Krimannexion, andererseits ihr widersprüchliches Auftreten mit konsequenzlosen Megakooperationen wie Nord Stream 2, mit denen Russlands Politik gegen die Ukraine gefördert wird, angesprochen und herausgestellt, wie diese Inkonsequenz der russischen Führung gezeigt hat, dass die deutsche Politik sich beeinfluss- und erpressbar hält.

Faszinierend ist auch die Erörterung der Geschichte russischer Innenpolitik seit der Auflösung der Sowjetunion sowie des Einflusses der Einstellungen relevanter Geburtenjahrgänge des Landes auf die Außenpolitik. Hier spielten die enttäuschten Hoffnungen auf Annäherungen des Lebensstandards an die westlicher Länder offenbar eine wichtige Rolle bei der Rückkehr zum kurzzeitig überwundenem Feindbild „Westen“. Nachdem die anfangs von Putin angestrebte Verbreiterung des Mittelstandes in Russland zugunsten einer winzigen Elite von Superreichen scheiterte, tauschte dieser seine politische Zielgruppe aus und orientierte seine Argumentation von da an an den anti-westlichen Ressentiments der älteren Bevölkerungsgruppe.

Spannend wäre es zu erfahren, wie die Autor*innen ihre Analysen und Einschätzungen nach Beginn der russischen Offensive in der Ukraine bewerten bzw. aktualisieren würden. Vieles deutet darauf hin, dass sie ihre Prognosen und Annahmen der Basis von Putins Handeln und der erforderlichen Antwort der internationalen Gemeinde im wesentlichen als bestätigt betrachten würden.

  • Heinemann-Grüder, Andreas; Crawford, Claudia; Peters, Tim B. (Hrsg.): Lehren aus dem Ukrainekonflikt. Krisen vorbeugen, Gewalt verhindern
  • Verlag Barbara Budrich, Opladen 2022
  • 249 Seiten, Paperback
  • ISBN: 978-3-8474-2555-7.