2016-01:Jean Ziegler und die Revolution

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Jean Ziegler und die Revolution

fb Einen radikal klingenden Untertitel hat Jean Zieglers neues Buch: "Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen". Die öffentliche Lesung im Museum der Bildenden Künste Leipzig im Rahmen des MDR Kulturcafé zog ein großes Publikum an und hätte Bühne sein können, um revolutionäre Ideen einer breiteren Masse nahe zu legen. Doch die Veranstaltung reizte dieses Potenzial nicht aus. Zieglers aus dem Nähkästchen geplauderten Geschichten aus revolutionäreren Zeiten, wie zum Beispiel seine Rolle als Chauffeur Che G. bei dessen Tour durch Europa, waren spannend und teils amüsant. Überzeugende Gesellschaftsanalysen und Argumente für die postulierte Zerstörung des Kapitalismus gab er jedoch nicht ab, sondern blieb bei nicht weiter begründeten Statements zum Stand der Gesellschaft und einem nicht linksradikal konditionierten Publikum kaum nachvollziehbaren Forderungen. Er machte auch einen sonderbaren Spagat zwischen der Botschaft, das System müsse gestürzt werden, und dem Appell dazu sollten nur die demokratisch bereitgestellten Mittel genutzt werden. Peinlich waren die wiederholten Bekräftigungen, die BRD hätte die lebendigste Demokratie der Welt, und darauf solle mensch stolz sein. Erklären lässt sich das vielleicht durch seine als Schweizer Staatsbürger gegen das eigene Land gerichtete Kritik, die ihn womöglich andere Staaten etwas unpassend aufwerten lässt.

Der von den Massenmedien als "prominenter Globalisierungsgegner" titulierte[1] Kommunist arbeitet seit Jahren für die UNO. Er benutzt exzessiv anti-semitisch besetzte Begriffe wie den des "Finanzkapitals". Angesichts der im Zuge seiner öffentlichen Veranstaltung fehlenden Argumentation wirkten die von ihm verwendeten radikalen Schlagworte rein plakativ, die Erläuterung seiner populistischen Bezeichnung des Systems als "kannibalische Weltordnung", auf die er von Journalisten naheliegenderweise häufig angesprochen wird, überzeugte nicht. Dazu nannte er Statistiken zur Reichtumsverteilung und zur Häufigkeit des Verhungerns von Kindern auf der Welt. Die Zahlen mögen stimmen, aber all das scheint eher auflagensteigernd für seine beim Bertelsmann-Verlag, einem der aggressivsten auf Politik und Gesellschaft Einfluss nehmensten Verlagshäuser, erschienene neueste Veröffentlichung zu sein, eine nachvollziehbare politische Argumentation brachte er nicht vor.

Der Hass auf den Westen

Deutlich anders als dieser wenig tiefgehende öffentliche Auftritt gestaltet sich sein bereits 2011 erschienenes Buch "Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren". Hier legt er detailreich und mit referenzierten Fakten seine Sicht auf die Weltpolitik dar. In einer Mischung aus Schilderungen eigener Begegnungen und historischen Beschreibungen zeigt Ziegler in diesem Buch die widerliche Geschichte des Reichtums und der Macht der westlichen Staaten auf. Wie europäische Großmächte andere Kontinente kolonisierten, den dort angetroffenen Menschen alle Rechte absprachen und die Realität verbogen, um argumentativ die Grundlage für ihre Unterdrückung, Misshandlung, Ausbeutung und Vernichtung zu schaffen. Indem er die Perspektive unterschiedlicher Beteiligter auf die gleichen Sachverhalte wiedergibt, werden die geschilderten Umstände authentischer und seine Kritik gewinnt an Überzeugungskraft.

Jean Ziegler geht im "Hass auf den Westen" insbesondere auf die dramatische Geschichte konkreter afrikanischer und südamerikanischer Länder ein und macht damit das Misstrauen und die Ablehnung, auf die westliche Repräsentant*innen bei Vertreter*innen des globalen Südens treffen, nicht nur nachvollziehbar, sondern zeigt deren Notwendigkeit auf: nicht nur in der Vergangenheit, auch in der Gegenwart behandeln Diplomat*innen, Wirtschaftvertreter*innen und Regierungsvertreter*innen der Weltmächte ihre Verhandlungspartner*innen aus den ärmsten Ländern mit Arroganz, historischer Blindheit und Verbohrtheit und teilweise immer noch mit rassistischer Grundhaltung. Ziegler beschreibt den Weg einiger südamerikanischer Länder im vergangenen Jahrzehnt aus der kolonialen Abhängigkeit heraus, auf welche Hindernisse und Widerstand sie dabei getroffen sind und wie es insbesondere Evo Morales in Bolivien gelang Souveränität für sein Land zu erkämpfen, ohne den üblichen Attentaten oder wirtschaftlichen Kriegserklärungen von Konzernen und Weltbank zum Opfer zu fallen.

Bolivien ist in dieser Hinsicht ein sehr beeindruckendes Beispiel vom Leiden der indigenen Bevölkerung seit der Unterjochung durch die europäischen Großmächte bis in dieses Jahrtausend. Ziegler berichtet von den Nazis, die zum Ende des Zweiten Weltkrieges einen Fluchtplan nach Lateinamerika entwarfen, um den in Europa gescheiterten Faschismus zu retten und aus dem Exil wieder aufzubauen. Bolivien war einer der Zufluchtsorte vieler Nazi- und SS-Größen, nicht nur aus dem Deutschen Reich, sondern auch aus Kroatien, Ukraine und anderen Ländern. Viele von ihnen wurden wegen ihrer Verbrechen international gesucht; in späteren Zeiten war Boliviens Tiefland auch Ausgangs- und Zufluchtsort wieder bzw. immer noch aktiver Nazis, die im Außeneinsatz beispielsweise im Balkankrieg der 1990er Jahre waren. Nicht nur Faschisten wurden über die von ihnen als "Rattenlinie" bezeichnete Fluchtroute zum Ende des zweiten Weltkrieges nach Bolivien und einige andere südamerikanische Regionen gebracht, sondern auch Reichtümer, die dem Naziprojekt zugute kommen sollten: Kisten mit Gold, Diamanten und Silber sowie weitere Geldanlagen. Allein im Monat April 1945 hatte die in drei Regionen Lateinamerikas transferierte Nazibeute amerikanischen Regierungsangaben zufolge einen Wert in Höhe etwa einer Milliarde Dollar (Geldwert 1945). Heute sind die Nachfahren dieser Leute oft Eigentümer von Infrastruktur, wichtigen Unternehmen, Großgrundbesitzer etc. und haben lange Zeit hohen Einfluss auf die Politik Boliviens gehabt. Gegen die Intrigen und auch gewalttätigen Anschläge solcher Interessengruppen musste sich Evo Morales bewähren, das mag einige intransparente und rücksichtslose Maßnahmen seiner Regierung gerechtfertigt haben.

Als Hoffnungsträger der unterdrückten Länder der Welt, insbesondere der indigenen Menschen, die Morales repräsentiert, lobt Ziegler in hoch und ausgiebig in seinem Buch. Fraglich ist, ob mittelfristig eine solche romantische Sichtweise auf einen Regierungschef sinnvoll ist, auch wenn er bedeutendes geleistet hat und gefährlichen mächtigen Gegnern gegenüber steht. Am Beispiel seiner Energiepolitik, auf die wir im letzten und diesen Heft ausführlich eingehen (insbesondere der rücksichtslose Aufbau der Atomindustrie unter Diffamierung ihrer Kritiker*innen), zeigt sich, dass die Wege der Macht, auch eines Revolutionärs, meist schmutzig, undemokratisch und anti-emanzipatorisch sind. Ob Evo Morales auch mit seiner Atompolitik eigentlich weiterhin seine hehren Ziele verfolgt, und sich lediglich durch die politischen und wirtschaftlichen Umstände genötigt sieht einer gefährlichen Industrie nach der anderen denn Zugang zu bolivianischen Ressourcen zu erweitern, bleibt offen. Jean Ziegler konnte zum Zeitpunkt des Erscheinens vom "Hass auf den Westen" zumindest von dieser Politik noch nichts wissen, zumindest unserem Kenntnisstand nach war diese damals noch in den Anfängen. Vielleicht würde er heute kritischer auf Boliviens Realpolitik blicken.

Derartige Kritik soll aber nicht die Leistungen und Errungenschaften eines revolutionären Staatschefs komplett in Frage stellen. Fakt ist auch, dass Mittel und Machenschaften westlicher Konzerne und Regierungen nicht besser, meist schlimmer sind. Dass die von Ziegler beschriebene Wut auf die Weltpolitik der Großmächte gerechtfertigt ist, wird in seinem Buch klar. Ziegler setzt sich - zumindest am Rande - aber auch mit kontraproduktiven Artikulationen des Hasses auf die westliche Ungerechtigkeit auseinander und legt dar, dass rassistische oder religiös motivierte Bewegungen gegen den Westen oder gegen die sogenannten "Westlichen Werte" ebenfalls vorhanden und eine große Gefahr für einen emanzipatorischen Befreiungskampf der kolonial und imperialistisch unterdrückten Länder darstellt.

Etwas qualitätsmindernd erscheinen einige wenige Abschnitte im Buch, die offenbar aus taktischen Gründen eingebaut wurden, denen es aber erheblich an Substanz mangelt. So beschreibt Ziegler im Kapitel "Als Angela Merkel Wole Soyinka ohrfeigte" den G8-Gipfel in Heiligendamm, wobei er insbesondere die Proteste wohlwollend heraushebt und die versammelten Politiker*innen diskreditiert. Die inhaltliche Beschreibung mag mensch teilen, aber das Kapitel selbst wirkt künstlich eingefügt, passt nicht zum sonstigen Fokus des Werkes. - So als müsse es in diesem in der BRD veröffentlichten Buch noch etwas spezielles geben, wo sich die zu erwartenden deutschen linken Leser*innen wiederfinden könnten. Auch der Titel des Kapitels ist irreführend und erst auf der letzten Seite erklärt Ziegler den Hintergrund der Überschrift: Wole Soyinka, afrikanischer Freiheitskämpfer, schrieb in einer französischen Wochenzeitschrift, dass er die Einladung von Umaru Yar'Adua, per Wahlbetrug 2007 nigerianischer Präsident geworden, zum G8-Gipfel als "Ohrfeige" empfinde. Und da Angela Merkel als Cheffin der einladenden Nation dafür verantwortlich war, besagt also die Kapitelüberschrift "Angela Merkel" habe "Wole Soyinka" "geohrfeigt"... - An solchen Punkten zeigt sich die marktorientierte Aufmachung eines Ziegler-Buches. Schade drum. Bleibt zu hoffen, dass der überwiegende Rest so glaubwürdig ist wie er scheint.

  • Jean Ziegler: "Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren"
  • Goldmann Verlag, München, 2011
  • ISBN 978-3-442-15649-8
  • 288 Seiten, Taschenbuchformat, 9,99 €