2016-01:Jean Ziegler und die Revolution: Unterschied zwischen den Versionen

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Auf der Suche nach einem Sinn im Leben und nach Handlunsansätzen die kapitalistische Weltordnung zu beseitigen, stellt Ziegler sich zunächst die Frage nach dem Nutzen eines Intellektuellen im Kampf gegen Unterdrückung. Er versucht Ursprung und Wirkung von Ideologien zu ergründen und zeigt auf, dass auch Wissenschaft nie neutral ist, sondern ein Instrument, das in die eine oder andere Richtung eingesetzt werden kann. Weitere Themen seiner sozialwissenschaftlichen Erörterung sind Staat, Nation und Gesellschaft. Ziegler nimmt zum Ende des Buches hin einen Abgleich vor welche Menschen ihn ursprünglich in seinem Wirken beeinflusst haben, inwiefern er heute noch seine Überzeugungen mit ihnen teilt und wer seine neueren Vorbilder sind. Zuletzt versucht er einen hoffnungsvollen Ausblick zu geben, wie die Zivilgesellschaft den Kampf gegen das von ihm als "kannibalische Weltordnung" bezeichnete Herrschaftssystem antreten könnte. Dabei erhebt Ziegler keinen Anspruch auf Vollständigkeit bei der Wiedergabe der jüngsten emanzipatorischen Kämpfe auf der Welt, sondern beschränkt diese ganz klar auf seine Erlebniswelt und die Themengebiete, in denen er unterwegs war.
 
Auf der Suche nach einem Sinn im Leben und nach Handlunsansätzen die kapitalistische Weltordnung zu beseitigen, stellt Ziegler sich zunächst die Frage nach dem Nutzen eines Intellektuellen im Kampf gegen Unterdrückung. Er versucht Ursprung und Wirkung von Ideologien zu ergründen und zeigt auf, dass auch Wissenschaft nie neutral ist, sondern ein Instrument, das in die eine oder andere Richtung eingesetzt werden kann. Weitere Themen seiner sozialwissenschaftlichen Erörterung sind Staat, Nation und Gesellschaft. Ziegler nimmt zum Ende des Buches hin einen Abgleich vor welche Menschen ihn ursprünglich in seinem Wirken beeinflusst haben, inwiefern er heute noch seine Überzeugungen mit ihnen teilt und wer seine neueren Vorbilder sind. Zuletzt versucht er einen hoffnungsvollen Ausblick zu geben, wie die Zivilgesellschaft den Kampf gegen das von ihm als "kannibalische Weltordnung" bezeichnete Herrschaftssystem antreten könnte. Dabei erhebt Ziegler keinen Anspruch auf Vollständigkeit bei der Wiedergabe der jüngsten emanzipatorischen Kämpfe auf der Welt, sondern beschränkt diese ganz klar auf seine Erlebniswelt und die Themengebiete, in denen er unterwegs war.
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Jean Ziegler führt einen hier einen interessanten Diskurs über die Ideologien, wobei er recht differenziert vorgeht, beispielhafte Zitate und Definitionen historischer Wissenschaftler*innen einbaut und immer wieder auch eigene Begegnungen und Eindrücke einfließen lässt. Dabei kommt teilweise eine seltsam dualistische Betrachtung zustande, die vielleicht wegen der von ihm benutzten Begrifflichkeiten aufstoßen lässt: "richtige" und "falsche" Ideologien angewandt in "gutem" oder "falschem" Glauben. Da der Soziologe diese Termini korrekt definiert und verdeutlicht, dass diese abhängig von Umständen und Kontext keineswegs nur schwarz-weiß zu betrachten sind, relativiert sich die irritierende Wortwahl etwas.
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Trotzdem bleiben einige Aspekte unberücksichtigt, die es erschweren sich Zieglers Betrachtungsweise umfassend anzuschließen. Auch wenn "richtige Ideologie" definiert wird als eine solche, "die Emanzipation, Selbstbestimmung und Menschwerdung des Menschen" fördert, wird es in der Praxis oft schwer bis unmöglich sein, eine eindeutige Zuordnung vorzunehmen - sofern ein kritischer Blick in die Tiefe geworfen wird. Denn was sich eine Ideologie auf die Fahnen schreibt, muss nicht unbedingt der Wirklichkeit entsprechen. Und in vielen Situationen mag der Wille im Hintergrund emanzipatorisch motiviert sein, aber die Wirkung ist antiemanzipatorisch, weil nicht alle Umstände zutreffend eingeschätzt wurden, die schließlich zur Wirkung kommen. In vielen Fällen wird es erst im Rückblick, wenn die Auswirkungen bereits erfolgt sind und diverse Informationsquellen zugänglich sind, aus denen ein realistisches Bild gezeichnet werden kann, möglich sein, eine solche zutreffende Einordnung zu unternehmen.
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Deshalb ist es vielleicht besser, gar nicht erst solche dualistische Deutungsmuster einzuführen, die von einem richtig-falsch bzw. gut-falsch ausgehen (selbst wenn sie, wie bei Ziegler, dann noch kontextbezogen bewertet werden), sondern sich Konzepten zu bedienen, die ausdifferenzierter, aber vermutlich auch komplexer sein müssen. Aber trotz solcher Mankos sind Zieglers Erörterungen zur Wirkung der Ideologien wertvoll, weil sie verständlich und eindrucksvoll die Dimension und Konsequenzen neoliberaler, aber auch religiöser und anderer unterdrückerischer, Weltdeutungsstrategien vermittelt.
 
* Jean Ziegler: "Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen"
 
* Jean Ziegler: "Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen"
 
* C. Bertelsmann Verlag, München, 2015
 
* C. Bertelsmann Verlag, München, 2015

Version vom 18:43, 16. Mai 2016

Dieser Text ist noch nicht fertig. Er wird noch etwas länger werden. Vor dem Layout bitte ggf. mit mir in Kontakt setzen!

Jean Ziegler und die Revolution

fb Einen radikal klingenden Untertitel hat Jean Zieglers neues Buch: "Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen". Die öffentliche Lesung im Museum der Bildenden Künste Leipzig im Rahmen des MDR Kulturcafé zog ein großes Publikum an und hätte Bühne sein können, um revolutionäre Ideen einer breiteren Masse nahe zu legen. Doch die Veranstaltung reizte dieses Potenzial nicht aus. Zieglers aus dem Nähkästchen geplauderten Geschichten aus revolutionäreren Zeiten, wie zum Beispiel seine Rolle als Chauffeur Che G. bei dessen Tour durch Europa, waren spannend und teils amüsant. Überzeugende Gesellschaftsanalysen und Argumente für die postulierte Zerstörung des Kapitalismus gab er jedoch nicht ab, sondern blieb bei nicht weiter begründeten Statements zum Stand der Gesellschaft und einem nicht linksradikal konditionierten Publikum kaum nachvollziehbaren Forderungen. Er machte auch einen sonderbaren Spagat zwischen der Botschaft, das System müsse gestürzt werden, und dem Appell dazu sollten nur die demokratisch bereitgestellten Mittel genutzt werden. Peinlich waren die wiederholten Bekräftigungen, die BRD hätte die lebendigste Demokratie der Welt, und darauf solle mensch stolz sein. Erklären lässt sich das vielleicht durch seine als Schweizer Staatsbürger gegen das eigene Land gerichtete Kritik, die ihn womöglich andere Staaten etwas unpassend aufwerten lässt.

Der von den Massenmedien als "prominenter Globalisierungsgegner" titulierte[1] Kommunist arbeitet seit Jahren für die UNO. Er benutzt exzessiv anti-semitisch besetzte Begriffe wie den des "Finanzkapitals". Angesichts der im Zuge seiner öffentlichen Veranstaltung fehlenden Argumentation wirkten die von ihm verwendeten radikalen Schlagworte rein plakativ, die Erläuterung seiner populistischen Bezeichnung des Systems als "kannibalische Weltordnung", auf die er von Journalisten naheliegenderweise häufig angesprochen wird, überzeugte nicht. Dazu nannte er Statistiken zur Reichtumsverteilung und zur Häufigkeit des Verhungerns von Kindern auf der Welt. Die Zahlen mögen stimmen, aber all das scheint eher auflagensteigernd für seine beim Bertelsmann-Verlag, einem der aggressivsten auf Politik und Gesellschaft Einfluss nehmensten Verlagshäuser, erschienene neueste Veröffentlichung zu sein, eine nachvollziehbare politische Argumentation brachte er nicht vor.

Der Hass auf den Westen

Deutlich anders als dieser wenig tiefgehende öffentliche Auftritt gestaltet sich sein bereits 2011 erschienenes Buch "Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren". Hier legt er detailreich und mit referenzierten Fakten seine Sicht auf die Weltpolitik dar. In einer Mischung aus Schilderungen eigener Begegnungen und historischen Beschreibungen zeigt Ziegler in diesem Buch die widerliche Geschichte des Reichtums und der Macht der westlichen Staaten auf. Wie europäische Großmächte andere Kontinente kolonisierten, den dort angetroffenen Menschen alle Rechte absprachen und die Realität verbogen, um argumentativ die Grundlage für ihre Unterdrückung, Misshandlung, Ausbeutung und Vernichtung zu schaffen. Indem er die Perspektive unterschiedlicher Beteiligter auf die gleichen Sachverhalte wiedergibt, werden die geschilderten Umstände authentischer und seine Kritik gewinnt an Überzeugungskraft.

Jean Ziegler geht im "Hass auf den Westen" insbesondere auf die dramatische Geschichte konkreter afrikanischer und südamerikanischer Länder ein und macht damit das Misstrauen und die Ablehnung, auf die westliche Repräsentant*innen bei Vertreter*innen des globalen Südens treffen, nicht nur nachvollziehbar, sondern zeigt deren Notwendigkeit auf: nicht nur in der Vergangenheit, auch in der Gegenwart behandeln Diplomat*innen, Wirtschaftvertreter*innen und Regierungsvertreter*innen der Weltmächte ihre Verhandlungspartner*innen aus den ärmsten Ländern mit Arroganz, historischer Blindheit und Verbohrtheit und teilweise immer noch mit rassistischer Grundhaltung. Ziegler beschreibt den Weg einiger südamerikanischer Länder im vergangenen Jahrzehnt aus der kolonialen Abhängigkeit heraus, auf welche Hindernisse und Widerstand sie dabei getroffen sind und wie es insbesondere Evo Morales in Bolivien gelang Souveränität für sein Land zu erkämpfen, ohne den üblichen Attentaten oder wirtschaftlichen Kriegserklärungen von Konzernen und Weltbank zum Opfer zu fallen.

Bolivien ist in dieser Hinsicht ein sehr beeindruckendes Beispiel vom Leiden der indigenen Bevölkerung seit der Unterjochung durch die europäischen Großmächte bis in dieses Jahrtausend. Ziegler berichtet von den Nazis, die zum Ende des Zweiten Weltkrieges einen Fluchtplan nach Lateinamerika entwarfen, um den in Europa gescheiterten Faschismus zu retten und aus dem Exil wieder aufzubauen. Bolivien war einer der Zufluchtsorte vieler Nazi- und SS-Größen, nicht nur aus dem Deutschen Reich, sondern auch aus Kroatien, Ukraine und anderen Ländern. Viele von ihnen wurden wegen ihrer Verbrechen international gesucht; in späteren Zeiten war Boliviens Tiefland auch Ausgangs- und Zufluchtsort wieder bzw. immer noch aktiver Nazis, die im Außeneinsatz beispielsweise im Balkankrieg der 1990er Jahre waren. Nicht nur Faschisten wurden über die von ihnen als "Rattenlinie" bezeichnete Fluchtroute zum Ende des zweiten Weltkrieges nach Bolivien und einige andere südamerikanische Regionen gebracht, sondern auch Reichtümer, die dem Naziprojekt zugute kommen sollten: Kisten mit Gold, Diamanten und Silber sowie weitere Geldanlagen. Allein im Monat April 1945 hatte die in drei Regionen Lateinamerikas transferierte Nazibeute amerikanischen Regierungsangaben zufolge einen Wert in Höhe etwa einer Milliarde Dollar (Geldwert 1945). Heute sind die Nachfahren dieser Leute oft Eigentümer von Infrastruktur, wichtigen Unternehmen, Großgrundbesitzer etc. und haben lange Zeit hohen Einfluss auf die Politik Boliviens gehabt. Gegen die Intrigen und auch gewalttätigen Anschläge solcher Interessengruppen musste sich Evo Morales bewähren, das mag einige intransparente und rücksichtslose Maßnahmen seiner Regierung gerechtfertigt haben.

Als Hoffnungsträger der unterdrückten Länder der Welt, insbesondere der indigenen Menschen, die Morales repräsentiert, lobt Ziegler in hoch und ausgiebig in seinem Buch. Fraglich ist, ob mittelfristig eine solche romantische Sichtweise auf einen Regierungschef sinnvoll ist, auch wenn er bedeutendes geleistet hat und gefährlichen mächtigen Gegnern gegenüber steht. Am Beispiel seiner Energiepolitik, auf die wir im letzten und diesen Heft ausführlich eingehen (insbesondere der rücksichtslose Aufbau der Atomindustrie unter Diffamierung ihrer Kritiker*innen), zeigt sich, dass die Wege der Macht, auch eines Revolutionärs, meist schmutzig, undemokratisch und anti-emanzipatorisch sind. Ob Evo Morales auch mit seiner Atompolitik eigentlich weiterhin seine hehren Ziele verfolgt, und sich lediglich durch die politischen und wirtschaftlichen Umstände genötigt sieht einer gefährlichen Industrie nach der anderen denn Zugang zu bolivianischen Ressourcen zu erweitern, bleibt offen. Jean Ziegler konnte zum Zeitpunkt des Erscheinens vom "Hass auf den Westen" zumindest von dieser Politik noch nichts wissen, zumindest unserem Kenntnisstand nach war diese damals noch in den Anfängen. Vielleicht würde er heute kritischer auf Boliviens Realpolitik blicken.

Derartige Kritik soll aber nicht die Leistungen und Errungenschaften eines revolutionären Staatschefs komplett in Frage stellen. Fakt ist auch, dass Mittel und Machenschaften westlicher Konzerne und Regierungen nicht besser, meist schlimmer sind. Dass die von Ziegler beschriebene Wut auf die Weltpolitik der Großmächte gerechtfertigt ist, wird in seinem Buch klar. Ziegler setzt sich - zumindest am Rande - aber auch mit kontraproduktiven Artikulationen des Hasses auf die westliche Ungerechtigkeit auseinander und legt dar, dass rassistische oder religiös motivierte Bewegungen gegen den Westen oder gegen die sogenannten "Westlichen Werte" ebenfalls vorhanden und eine große Gefahr für einen emanzipatorischen Befreiungskampf der kolonial und imperialistisch unterdrückten Länder darstellt.

Etwas qualitätsmindernd erscheinen einige wenige Abschnitte im Buch, die offenbar aus taktischen Gründen eingebaut wurden, denen es aber erheblich an Substanz mangelt. So beschreibt Ziegler im Kapitel "Als Angela Merkel Wole Soyinka ohrfeigte" den G8-Gipfel in Heiligendamm, wobei er insbesondere die Proteste wohlwollend heraushebt und die versammelten Politiker*innen diskreditiert. Die inhaltliche Beschreibung mag mensch teilen, aber das Kapitel selbst wirkt künstlich eingefügt, passt nicht zum sonstigen Fokus des Werkes. - So als müsse es in diesem in der BRD veröffentlichten Buch noch etwas spezielles geben, wo sich die zu erwartenden deutschen linken Leser*innen wiederfinden könnten. Auch der Titel des Kapitels ist irreführend und erst auf der letzten Seite erklärt Ziegler den Hintergrund der Überschrift: Wole Soyinka, afrikanischer Freiheitskämpfer, schrieb in einer französischen Wochenzeitschrift, dass er die Einladung von Umaru Yar'Adua, per Wahlbetrug 2007 nigerianischer Präsident geworden, zum G8-Gipfel als "Ohrfeige" empfinde. Und da Angela Merkel als Cheffin der einladenden Nation dafür verantwortlich war, besagt also die Kapitelüberschrift "Angela Merkel" habe "Wole Soyinka" "geohrfeigt"... - An solchen Punkten zeigt sich die marktorientierte Aufmachung eines Ziegler-Buches. Schade drum. Bleibt zu hoffen, dass der überwiegende Rest so glaubwürdig ist wie er scheint.

  • Jean Ziegler: "Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren"
  • Goldmann Verlag, München, 2011
  • ISBN 978-3-442-15649-8
  • 288 Seiten, Taschenbuchformat, 9,99 €

Ändere die Welt!

Einen weitaus selbstkritischeren Ansatz verfolgt Zieglers neueste Publikation, die auch Anlass der zu Beginn erwähnten öffentlichen Veranstaltung mit ihm in Leipzig war: "Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen". In diesem Buch nimmt der Autor eine kritische Bewertung seines Wirkens und Schaffens vor, gesteht ein, dass auch er sich trotz aller Kritik an den herrschenden Umständen und im angesicht seines sehr speziellen Wissens der konkreten Fakten in einer für ihn praktikablen Weise mit dem System arrangiert hat und nicht immer alles menschenmögliche getan hat, um die leidenden Menschen, die er traf, zu unterstützen. Diesen Anspruch muss wohl auch niemand stellen, weil es keiner Einzelperson möglich sein kann, all die vorherrschende Ungerechtigkeit zu besiegen und immer und ausschließlich nur zu kämpfen. Positiv zu bewerten ist, dass in diesem autobiographisch motivierten Werk ein deutlich reflektierterer Blickwinkel auf Jean Zieglers Kampf für eine bessere Welt eingenommen wird, verglichen mit anderen seiner Buchveröffentlichungen. Bezugnehmend auf einen Roman, den er zitiert, gesteht er ein: "Wie Iwan Karamasow (Person aus diesem Roman, Anm. d. Red.) lehne ich intellektuell diese Weltordnung ab. Aber wie er habe ich mich darin eingerichtet. Implizit nehme ich sie als normal hin. Durch mein alltägliches Handeln reproduziere ich sie".

Auf der Suche nach einem Sinn im Leben und nach Handlunsansätzen die kapitalistische Weltordnung zu beseitigen, stellt Ziegler sich zunächst die Frage nach dem Nutzen eines Intellektuellen im Kampf gegen Unterdrückung. Er versucht Ursprung und Wirkung von Ideologien zu ergründen und zeigt auf, dass auch Wissenschaft nie neutral ist, sondern ein Instrument, das in die eine oder andere Richtung eingesetzt werden kann. Weitere Themen seiner sozialwissenschaftlichen Erörterung sind Staat, Nation und Gesellschaft. Ziegler nimmt zum Ende des Buches hin einen Abgleich vor welche Menschen ihn ursprünglich in seinem Wirken beeinflusst haben, inwiefern er heute noch seine Überzeugungen mit ihnen teilt und wer seine neueren Vorbilder sind. Zuletzt versucht er einen hoffnungsvollen Ausblick zu geben, wie die Zivilgesellschaft den Kampf gegen das von ihm als "kannibalische Weltordnung" bezeichnete Herrschaftssystem antreten könnte. Dabei erhebt Ziegler keinen Anspruch auf Vollständigkeit bei der Wiedergabe der jüngsten emanzipatorischen Kämpfe auf der Welt, sondern beschränkt diese ganz klar auf seine Erlebniswelt und die Themengebiete, in denen er unterwegs war.

Jean Ziegler führt einen hier einen interessanten Diskurs über die Ideologien, wobei er recht differenziert vorgeht, beispielhafte Zitate und Definitionen historischer Wissenschaftler*innen einbaut und immer wieder auch eigene Begegnungen und Eindrücke einfließen lässt. Dabei kommt teilweise eine seltsam dualistische Betrachtung zustande, die vielleicht wegen der von ihm benutzten Begrifflichkeiten aufstoßen lässt: "richtige" und "falsche" Ideologien angewandt in "gutem" oder "falschem" Glauben. Da der Soziologe diese Termini korrekt definiert und verdeutlicht, dass diese abhängig von Umständen und Kontext keineswegs nur schwarz-weiß zu betrachten sind, relativiert sich die irritierende Wortwahl etwas.

Trotzdem bleiben einige Aspekte unberücksichtigt, die es erschweren sich Zieglers Betrachtungsweise umfassend anzuschließen. Auch wenn "richtige Ideologie" definiert wird als eine solche, "die Emanzipation, Selbstbestimmung und Menschwerdung des Menschen" fördert, wird es in der Praxis oft schwer bis unmöglich sein, eine eindeutige Zuordnung vorzunehmen - sofern ein kritischer Blick in die Tiefe geworfen wird. Denn was sich eine Ideologie auf die Fahnen schreibt, muss nicht unbedingt der Wirklichkeit entsprechen. Und in vielen Situationen mag der Wille im Hintergrund emanzipatorisch motiviert sein, aber die Wirkung ist antiemanzipatorisch, weil nicht alle Umstände zutreffend eingeschätzt wurden, die schließlich zur Wirkung kommen. In vielen Fällen wird es erst im Rückblick, wenn die Auswirkungen bereits erfolgt sind und diverse Informationsquellen zugänglich sind, aus denen ein realistisches Bild gezeichnet werden kann, möglich sein, eine solche zutreffende Einordnung zu unternehmen.

Deshalb ist es vielleicht besser, gar nicht erst solche dualistische Deutungsmuster einzuführen, die von einem richtig-falsch bzw. gut-falsch ausgehen (selbst wenn sie, wie bei Ziegler, dann noch kontextbezogen bewertet werden), sondern sich Konzepten zu bedienen, die ausdifferenzierter, aber vermutlich auch komplexer sein müssen. Aber trotz solcher Mankos sind Zieglers Erörterungen zur Wirkung der Ideologien wertvoll, weil sie verständlich und eindrucksvoll die Dimension und Konsequenzen neoliberaler, aber auch religiöser und anderer unterdrückerischer, Weltdeutungsstrategien vermittelt.

  • Jean Ziegler: "Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen"
  • C. Bertelsmann Verlag, München, 2015
  • ISBN 978-3-570-10256-5
  • 288 Seiten, Hardcover, 19,99 €