2020-01:Vielfalt und Projektion

Aus grünes blatt
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Replik auf Robert Kriegs Artikel „Besonders, nicht krank“ in GWR #440:

Vielfalt und Projektion

Robert Krieg meint es gut. Er meint ein gutes Argument gegen Trisomie-Bluttest und darauf häufig folgende Abtreibung gefunden zu haben. Mit einem einprägsamen Beispiel: „Neulich in der Stadthalle einer Kleinstadt in Rheinland-Pfalz. Auf der Bühne spielt eine Coverband einen Kult-Song von „The Police“. Neben mir stampft ein junger Mann mit Down-Syndrom zum Punk-Rhythmus und reckt die geballte Faust in Richtung Bühne. Den Text kennt er auswendig. Er geht in der wogenden Menschenmenge auf. Individuell und integriert zugleich bildet er einen lebendigen, lebensbejahenden Aspekt der Vielfalt menschlichen Daseins ab.“

Wie rührend diese Szene auf einige GWR-Leser zuerst einmal wirken mag, so fragwürdig ist die Vorstellungswelt, aus der sich die Rührung speist. Zunächst ist es die Ähnlichkeit zu einem Selbst, was für den Autor gegen die Diskriminierung der Menschen mit dem Down-Syndrom spricht. Kaum sind die anderen einem ähnlich, schon bilden sie „einen lebensbejahenden Aspekt der Vielfalt menschlichen Daseins ab“. Die Rührung kommt doch daher, dass man von einem Down-Syndrom-Patienten verbreiteten Zuschreibungen folgend eher selten „erwachsene“ Vorlieben erwartet und daher überrascht sei.

Wer jetzt einwenden wird, es lege Überinterpretation, Haarspalterei oder bösartige Unterstellung vor, sei auf das nächste markante Zitat aus dem Text verwiesen: „Wir leben in einer vom Diktat der Ökonomie durchformatierten Welt, in der Eigenständiges und Widerständiges keinen Platz haben darf, denn sie beeinträchtigen die erwarteten Renditen. Wenn wir heute über Eugenik sprechen, müssen wir uns zugleich mit dem zerstörerischen Primat des Ökonomischen beschäftigen.“ Das ist auf ganz vielen Ebenen falsch. Erstens ist „Eigenständiges“ im Kapitalismus dauerhaft gefragt und wird immer wieder von der Ökonomie verwertet. Individuelle Rebellionen schaffen neue Absatzmärkte, Outsider von gestern werden zum Trendsettern von heute, „diversity management“ und Erschließung neuer Zielgruppen durch Werbung gehören zum Grundwissen der modernen Unternehmensführung.

Robert Krieg will aber „Vielfalt“ als einen Wert an sich gegen den Kapitalismus wenden und deutet das Down-Syndrom zu etwas Widerständigem über die Kopfe der Betroffenen um. Unabhängig davon, wie sich die Menschen und ihre Angehörige zu diesem „Anderes-Sein“ sich stellen, sind sie jetzt zu Rebellen honoris causa ernannt, weil sie sich – noch – nicht (so gut) verwerten lassen. Obwohl die vom Autor selbst angeführten Beispiele gerade auf das Gegenteil deuten – immer mehr Menschen mit dem Down-Syndrom schaffen es sich für den Arbeitsmarkt als nützlich zu erweisen.

Wenn Robert Krieg die Tests und die Abtreibungen von „kostenverursachenden“ und „unrentablen“ Menschen anprangert, dann macht er im selben Atemzug eine Gegenrechnung auf:

„Dass Menschen mit Down-Syndrom unseren gesellschaftlichen Alltag durch menschliches Glück und die Verbreitung von Empathie wertvoll machen, wie ich es am Anfang dieses Textes zu skizzieren versucht habe, taucht in dieser Rechnung nicht auf.“

Die Down-Patienten sind für ihn eben keine Subjekte, sie sind dazu bestimmt Empathie zu verbreiten und durch ihren Glück „unsren“ Alltag wertvoll zu machen – während den „normalen“ Menschen gerade zugestanden wird nicht dauerhaft empathisch oder glücklich zu sein. So werden sie zur Projektionsfläche für die Vorstellungen der „Gutmeinenden“, die in ihnen kindliche, aber gerade deswegen unschuldige und dauerglückliche Wesen sehen. Damit transportiert Robert Krieg die ableistischen Vorstellungen, gegen die er sich eigentlich wenden will

Hyman Roth