2008-02:Eine technik- und industriekritische Polemik

Aus grünes blatt
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Eine technik- und industriekritische Polemik - Reaktion auf Diffamierungen aus dem Hause Bergstedt

jhc In der letzten Ausgabe wurde im Artikel "Gentechnik und Herrschaft" indirekt oder direkt Bezug auf den von mir verfassten Artikel "Herrschaft und Technik" genommen. Selbiger wurde von Jörg Bergstedt auszugsweise auf seiner Seite in diffamierender Weise unter "Rechte Ökologie: Biologismus" (siehe: http://www.projektwerkstatt.de/aes/rechts_biologismus.html) einsortiert. Deshalb und auch weil im Artikel "Gentechnik und Herrschaft" eine aus meiner Sicht seltsame und inkonsequente Technikhörigkeit durchschillert, gilt es diese Problematiken zu thematisieren.

Die zentralen Fragen, die sich durch die Diskussion ziehen, könnten so formuliert werden: Gibt es eine inhärente Verbindung zwischen den meisten modernen Technologien und Herrschaft? Können die meisten modernen Technologien jemals von wissenschaftlich-hierarchischen Denkweisen getrennt werden? Kann Wissenschaft und Technologie von anderen Herrschaftssystemen abgekoppelt werden und sind sie in ihrer Gesamtheit abzuschaffen?

Der Artikel "Gentechnik und Herrschaft" sagt uns, wenn auch gut und klar argumentiert, eigentlich nichts Neues. Dass Forschung und Wissenschaft sowie die damit verbundenen Technologien, wenn sie den heutigen Herrschaftslogiken unterworfen sind, nichts sonderlich emanzipatorisches hervorbringen, ist klar. Dass sie es allerdings unter herrschaftsfreien Bedingungen tun würden, dafür liefert der Kritiker keine Argumente außer einem quasi-religiösen mindestens aber ideologischen Glauben an "Fortschritt" und "Entwicklung" sowie an die durch sie hervorgerufene "Revolution der Herrschaftsfreiheit". Dieser Glaube äußert sich in Aussagen wie: "Es ist nie emanzipatorisch, die Zukunft festschreiben zu wollen". "Denn diese Situation (Herrschaftsfreiheit d. A.) ist aus der heutigen (Sicht d. A.) heraus nicht wirklich plan- und vorstellbar". Mit diesen Festschreibungen einer ungewissen Zukunft, die an sich auch ein Dogma darstellen, werden konkrete und historisch fundierte Utopien verunmöglicht. Kritik am System und das "wogegen" werden von Bergstedt brilliant formuliert. Doch konkrete Wege zu einem sich der Herrschaftsfreiheit annähernden Leben im Hier und Jetzt und die Diskussion darum werden durch die anti-utopische Haltung Bergstedts verunmöglicht und abgewürgt; im Regelfall, wie bei meinem Artikel, zusätzlich auch auf seinen Seiten diffamiert. Dass nicht "Primitivismus nur von oben verordnebar" ist (wie auch, wenn Menschen ein solches Leben frei vereinbaren?), sondern die Definitionsmacht über Herrschaftsfreiheit von Bergstedt autoritär über die öffentliche Diffamierung durchgesetzt wird, ist traurige Realität. Mensch, genauso wie ich, hätte mehr Argumentation erwartet.

Auch mit Konsequenz in der Argumentation ist man beim Artikel "Gentechnik und Herrschaft" fehl am Platze. Schließlich bleibt es nicht bei dieser unbestimmten herrschaftsfreien Zukunft, in der beides möglich wäre: Menschen, die ein einfaches Leben möchten und Menschen, die sich mit mehr Technologie umgeben möchten, immer unter der Vorraussetzung: Freie Menschen in freien Vereinbarungen. Nein, Bergstedt predigt ein "extremes Steigen" der "Produktivkräfte" und ein "grandioser Schub an Technikentwicklung" für ein besseres Leben. Und das Ergebnis: Schwebebahnen. Dass der Fortschritts-Glaube in Bergstedts Welt genauso fest zementiert ist wie beim Ex-Ministerpräsident von Bayern, scheint offensichtlich.

Konzentriert mensch sich allerdings auf das konkrete Streben nach Herrschaftsfreiheit im Hier und Jetzt, wird schnell klar: Nicht Schwebebahnen sind es, bei denen Mensch ansetzen sollte, sondern bei den Grundbedürfnissen nach Nahrung, Kleidung, Unterkunft und so weiter. Herrschaftsfreiheit an sich ist etwas so Komplexes. Schon allein zwischen zwei Menschen. Deshalb darf "bezweifelt" werden, ob der unübersichtliche globale Produktionsprozess einer Schwebebahn zum Beispiel jemals herrschaftsfrei organisiert werden kann. Unmöglich ist es vielleicht nicht. Aber es geht um Prioritäten. Ganz abgesehen davon, dass die Erfüllung von sozialen und nicht-materiellen Bedürfnissen das ist, was wirklich glücklich macht, sind es die Grundbedürfnisse Nahrung, Kleidung und Unterkunft, die dieses Glück möglich machen.

Was gesagt werden kann ist, dass die jetzt bekannte Technik so nicht herrschaftsfrei reproduzierbar ist und es historisch betrachtet Hinweise dafür gibt, dass es an sehr vielen Stellen nicht gelingen wird sie herrschaftsfrei zu Verfügung zu stellen. Autoritär ist das heutige Technologiesystem, für das strukturelle Herrschaftsverhältnisse aufrecht erhalten werden müssen, auch diskursive ("Entwicklung", "Fortschritt"). Wer das nicht kritisiert und statt dessen der Fortschrittsideologie huldigt, duldet das angesprochene autoritäre System. Tendenziell kann gesagt werden, dass je komplexer eine Technologie ist, desto mehr Spezialist/innen, Wissenshierarchien, Entfremdung vom Produktionsprozess, eintönige Arbeit, Umweltverschmutzung wird es geben. Das ist historische Realität, auf der für mich Utopien fußen müssen. Und auch konkrete Alternativ-Vorschläge für aktuelle Herstellungsweisen. Diese Alternativen fehlen bei Bergstedts Artikeln gänzlich. Das "Wie?" der technologischen Utopien à la Bergstedt bleibt unbeantwortet. Sie duldet den kulturellen Imperialismus, der durch eine nicht-tolerante wissenschaftliche Weltsicht global durch Herrschaftsmechanismen durchgesetzt wird. Dass Wissenschaft eben nur eine Art ist die Welt zu beschreiben, wird nicht erwähnt.

Des Weiteren wurde mir in einer späteren Email-Diskussion vorgeworfen, den Grönländern ihren Import-Wein nicht zu gönnen. Ich habe nie ausgeschlossen, dass Menschen in Grönland in der Utopie keinen Wein mehr trinken können. Wenn sie dafür Zeit und Kraft investieren möchten: Bitte schön. Vielleicht komme ich ja bei einer Segeltour in Grönland vorbei und lasse den Menschen dort ne Flasche Riesling da. Ich glaube aber einfach, das ein schönes und herrschaftsfreies Leben besser lokal und regional organisiert werden kann. Die Flasche Wein ist nämlich bald leer. Und eine kontinuierliche Zufuhr herrschaftsfrei zu organisieren ist nicht unmöglich, aber sehr viel schwieriger. Und das ist für konkrete, fundierte Utopien für das herrschaftskritische Handeln im Hier und Jetzt nicht unerheblich. Wie gesagt: Hier geht es um Prioritäten für das Aufbauen von konkreten Alternativen im Hier und Jetzt. Nicht um autoritäre Regeln. Was bringen Regeln überhaupt, wenn ich keine Webseite habe, um durch Diffamierung dafür zu sorgen, dass sie eingehalten werden, wie es im Fall Bergstedts geschieht? Regeln funktionieren nur, wenn sie kooperativ vereinbart wurden. Und jeder Mensch hat das Recht dies zu tun so lange er andere in ihrem Recht auf freie Vereinbarungen nicht beeinträchtigt. Das ist die Essenz von Offenheit und Vielfalt. Dem tendenziell entgegen gerichtet sind ideologische und quasi-religiöse technologische Utopien ohne historische oder faktische Grundlage.

Letztlich richtet sich Bergstedts kategorisierung "Anti-Emanzipatorisch" gegen diese Offenheit und Vielfalt. Mensch könnte sagen: Deine Positionen sind aus meinem persönlichen Blickwinkel "nicht emanzipatorisch". Anti-Emanzipatorisch suggeriert nämlich, dass der entsprechende Mensch gegen die Vorstellung von Emanzipation eines Anderen aktiv eingreifen würde. Dies lehne ich ab - solange die Vorstellungen und Praxis des Anderen meine Umsetzung von Emanzipation nicht einschränken. Findet dies statt, ist es Zeit für direkte Intervention. Genau eine solche soll dieser Artikel sein.

Und zum Abschluss: eine erweiterte Literatur- und Linkliste zu Thema "Emanzipatorische Industrie- und Technikkritik", die für einen BUKO-Workshop vorbereitet wurde:

Theorie – Deutschsprachig:

  • William Morris – „Kunde von Nirgendwo“ – Utopie anarchistischer Einfachheit – Buch
  • P.M. - „Bolo'bolo“ – Konkrete Utopie anarchistischer Einfachheit – Buch
  • Ashis Nandy – „Der Intimfeind“ – Anarchistische Gandhi-Interpretation – Buch
  • Helena Norberg-Hodge – „Faszination Ladakh“ – Klimaneutrale Kulturinspiration aus dem globalen Süden – Buch
  • Tom Hodgkinson – „Die Kunst, frei zu sein“ – Warum Einfachheit hedonistisch ist! - Buch
  • Ivan Illich – „Selbstbegrenzung – Eine Politische Kritik der Technik“ – Klassiker der Technik-Kritik – Buch
  • Otto Ullrich – „Weltniveau“ und „Technik und Herrschaft“ – Interessante kritisch-marxistische Technik-Kritik - Buch
  • Henry Thoreau – „Walden. Oder das Leben in den Wäldern“ – Historisches Experiment der Einfachheit – Buch
  • Serge Latouche – „Nachdenken über ökologische Utopien“ – Thema: Décroissance-Bewegung in Frankreich - Artikel in „Le Monde Diplomatique“ (http://www.monde-diplomatique.de/pm/2005/11/11/a0065.text)
  • Artikel zum Thema im Grünen Blatt – „Perspektiven der Selbstorganisation – Herrschaft und Technik“, „Herrschaft, Technik und der globale Süden“ etc. – (http://www.gruenes-blatt.de/)

Theorie – Englischsprachig:

  • Jacques Ellul – „The Technological Society“ – Klassiker emanzipatorischer Technikkritik – Buch
  • Gustavo Esteva – „Grassroots Post­Modernism: Remaking the Soil of Cultures“ – Dekonstruktion von „Entwicklung“ – Buch
  • Mohandas Gandhi – „Hind Swaraj“ – Die politische Theorie anarchistischer Einfachheit Gandhis – Buch
  • Uri Gordon – „Anarchy Alive“ – Kapitel „Luddites and Hackers“ – Anarchistische Reflektionen über Technologie – (http://ephemer.al.cl.cam.ac.uk/~gd216/uri/1.7_-_Technology.pdf) – auch Buch
  • Jan-Hendrik Cropp – Zahlreiche Forschungsarbeiten – „Anarchist Simplicity“ – „Anarchy and Tradition for Radical Climate Action“ etc. – Kontakt: jancropp@restlaufzeit.de

Praxis – Deutschsprachig:

Praxis – Englischsprachig:

Theorie und Praxis – Französisch:

  • Jean Pierre Tertrais – „Du Développement a la Décroissance“ – Anarchistische Perspektive auf die Décroissance-Bewegung – Buch
  • La Décroissance – Das schriftliche Medium der Décroissance-Bewegung - (http://www.ladecroissance.net/)
  • Institut d’études économiques et sociales pour la décroissance soutenable (IEESDS) – Institutionalisierte Bewegung - (http://www.decroissance.org/)