2020-01:Tar Sands

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Teil 15

"Tar Sands":
Nachhaltige Zerstörung von Urwäldern und Feuchtgebieten, Enteignung indigener Menschen und größter Einzelverursacher des Treibhauseffekts

fb Die bisherigen Teile dieses Artikels gaben einen Überblick über die Tar Sands-Vorkommen und die Ölindustrie in Alberta. Weiterer Fokus waren die ökologischen Auswirkungen der Tar Sands-Industrie, die Technologie der Rohölerzeugung aus den Tar Sands von der Konditionierung bis zum Upgrading sowie die Abbauverfahren und Probleme der Renaturierung. In den letzten Teilen (12, 13, 14) wurde versucht, Geschichte und Hintergründe des Landraubs an den indigenen Gemeinschaften Nordamerikas einzuordnen. Ein weiteres "dunkles Kapitel der Geschichte Kanadas" behandelt dieser Beitrag: die "Indian Residential Schools (IRS)" – Zwangsinternate für indigene Kinder und Jugendliche, die einen Teil des bis in die 1990er Jahre versuchten (praktizierten) Genozids an den nordamerikanischen indigenen Gemeinschaften bildeten[1]. Diese Schulen beeinträchtigten das Leben und die Kultur der ursprünglichen Bewohner*innen nicht nur in den damaligen und heutigen Tar Sands-Abbaugebieten und zielten darauf ab die indigene Identität und damit auch deren Widerstandsgeist zu brechen. Somit sind sie auch für die Bearbeitung der Auswirkungen dieser Industrie als moderne Ausprägung von Kolonialismus und Rassismus von Bedeutung.



Residential Schools

Die "Residential Schools" waren vom Staatssystem der europäischen Eroberer in Kanada eingeführt worden, um eine totale Assimilation der indigenen Kultur und Identität zu bewirken. Sie waren Teil eines gezielten Bestrebens "die eingeborene Kultur von der kanadischen Landkarte auszumerzen" (Stuart Murray, Kanadisches Museum für Menschrechte, 2011) [2]. Aus "Indianern" sollten "Kanadier" gemacht werden. "Entferne den Indianer aus dem Kind" (take the Indian out of the child) war das offizielle Ziel dieser Einrichtungen[3]. Die sogenannten "Indianeragenten" (siehe Teil 14, Heft Sommer 2019) versuchten durchzusetzen, dass die Kinder der indigenen Gemeinschaften in diese internatsartigen Schulen gebracht wurden, was auf heftigen Widerstand stieß.[4] Das Kanadische Museum für Menschenrechte bezeichnet das Residential Schools-System als kulturellen Völkermord: "From the 1880s to the 1990s, thousands of Indigenous children were torn from their homes and sent to Indian Residential Schools. These schools were intended to destroy Indigenous families, communities and ways of life".[5]

Rechtliche Grundlagen der IRS waren der "Indian Act"[6] aus dem Jahr 1876, ein Gesetz über den Status der indigenen Angehörigen der kanadischen First Nations, das bis heute Gültigkeit hat, und der "Gradual Civilization Act" von 1857[7], das eine schrittweise "Zivilisierung" der Indianer anstrebte, sowie der "Gradual Enfranchisement Act" von 1869. Ersteres Gesetz definiert, welche Menschen als "Indianer" gelten und demnach verglichen mit den europäischen Einwanderern rechtlich benachteiligt würden. Im Zuge einer Ergänzung des Indian Act im Jahr 1894 wurde die Schulpflicht für indigene Kinder im Alter von 7-16 Jahren eingeführt[8]. Ausgerechnet die abendländischen Kirchen sollten diesen Bildungsauftrag übernehmen, weswegen die Mehrzahl der Residential Schools dann auch von christlichen Einrichtungen im Auftrag des kanadischen Staates geführt wurde.[9]

Die Bestandteile des mittels der IRS umgesetzten kanadischen Genozids an den nordamerikanischen Ureinwohner*innen umfassten "physische, biologische und kulturelle Mittel" (Kanadisches Museum für Menschenrechte) zur Zerstörung der Basis indigener Lebensweisen. Dazu gehörten die die Unterdrückung der indigenen Sprachen, kultureller Praktiken, politischer Traditionen sowie die Trennung der Kinder von ihren Eltern. Es handelte sich um ein planvolles Vorgehen, das durch eine Vielzahl verschiedener Politiken und Praktiken umgesetzt wurde. Großen Teilen der nicht-indigenen kanadischen Öffentlichkeit fehlt das Bewusstsein für diese menschenverachtende Geschichte des eigenen Landes. Den Prozess der Aufarbeitung dieser von der europäisch verwurzelten kanadischen Mehrheitsgesellschaft ausgeblendeten Geschehnisse umschreibt das Museum für Menschenrechte als "Teil einer langen nationalen Reise von der Verleugnung über Kleinreden hin zum Eingeständnis". Erst nach der Jahrtausendwende gelang es Menschenrechtsaktivist*innen, das Thema auf die nationale Tagesordnung zu setzen.[1]

Tausende Kinder starben in den Residential Schools, weitere Tausende wurden verletzt und traumatisiert. Mit jeder weiteren Generation, die diese Schulen durchlaufen musste, gelang es weniger Sprache, Kultur und Spiritualität von den Alten an die Jungen weiterzugeben. So setzten diese "Zentren kultureller Indoktrination" (Murray Sinclair) die kanadische Genozidpolitik effektiv um. In diesen Schulen wurde den Nachkommen der ursprünglichen Bewohner*innen Nordamerikas der Stolz und Selbstrespekt genommen, soziale Gemeinschaften geschwächt und der Fähigkeit eigenständig ihren traditionellen Alltagsaktivitäten nachzugehen beraubt. Kernbotschaft sowohl an die Schüler*innen der IRS als auch an die nicht-indigene Bevölkerung war eine angebliche Minderwertigkeit der indigenen Kultur, die es zu zivilisieren gälte. Dies sei Aufgabe der überlegenen Europäer*innen.[10]

In diesem Zusammenhang sollte die "Truth and Reconciliation Commission (TRC)" erwähnt werden. Die Residential Schools wurden zum Auslöser des größten gerichtlichen Vergleichs in der kanadischen Geschichte, dem eine Vielzahl von Klage Tausender Überlebender dieses Schulsystems vorausgingen. Ergebnis der Vergleichsvereinbarung war die Einrichtung der TRC, die sich um die Aufdeckung der Vorgänge in den IRS bemühte. Beginnend im Jahr 2008 sammelte die Kommission Millionen Dokumente, besuchte mehr als 300 Orte und hörte sich die Zeugnisse Tausender Betroffener an. Mehr als 150.000 Kinder aus indigenen Gemeinschaften, der Inuit und der Métis waren in etwa hundert Jahren in den Residential Schools bearbeitet worden. Im Jahr 2015 veröffentlichte die TRC ihren Abschlussbericht mit einer Forderungsliste über 94 Maßnahmen für alle Teile der kanadischen Gesellschaft zur Aufarbeitung des Kapitels "Residential Schools", die dringend umzusetzen wären.[1][10]

Murray Sinclair, Vorsitzender der TRC: "The most alarming aspect of the [IRS] system was that its target and its victims were the most vulnerable of society: little children. Removed from their families and home communities, seven generations of Aboriginal children were denied their identity through a systematic and concerted effort to extinguish their culture, language, and spirit."[10]

Das Recht auf eigene Sprache

Aufgrund der Verknüpfung von Sprache, Kultur, Identität und Beteiligung innerhalb einer Gesellschaft stellt der Anspruch sich in der eigenen Sprache ausdrücken zu dürfen ein fundamentales Recht[11] dar (vgl. Museum für Menschenrechte[12]). Auf die Verwirklichung dieses Rechts zielen gleich mehrere Artikel der "Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker" ab[13]. Von den ursprünglich benutzten indigenen Sprachen werden heute in Kanada nur noch etwa 60[14] von etwa 229.000 Menschen gesprochen. Diese Zahl sinkt auch nach dem Ende der IRS weiter, weil es immer wenige Muttersprachler*innen gibt, die sie fließend anwenden können. Der "UNESCO Atlas of the World’s Languages in Danger"[15] stuft dreiviertel dieser indigenen Sprachen als gefährdet ein[16]. Dabei sind sie weitaus älter als die kanadischen Amtssprachen Englisch und Französisch, denn sie haben sich über einen Zeitraum von Tausenden Jahren entwickelt.[17][12]

Die "Residential Schools" kapselten die junge Generation sprachlich ab, während Reservatssysteme und andere koloniale Praktiken indigene Communities daran hinderten ihre gemeinsamen Sprachen zu pflegen. Heute verstehen nur noch etwa 15 Prozent der indigenen Einwohner*innen Kanadas die ursprünglich in ihrer Heimat benutzten Sprachen.[17]

Als Reaktion auf den politischen Druck nach dem Ende der Indian Residential Schools und im Kontext des Versöhnungsprogramms (TRC-Forderungen 13, 14 und 15[18][19]) mit den Opfern dieser Politik wurde schließlich 2019 der "Indigenous Languages Act" erlassen, ein Gesetz, das helfen soll indigene Sprachen in Kanada wieder zu beleben und zu stärken. Damit soll eine langfristige Grundlage für den Erhalt und die Anwendung dieser Sprachen geschaffen werden.[20]


Fortsetzung folgt! Weiter geht es mit diesem Hintergrundbericht in der nächsten Ausgabe. Oder, wer nicht so lange warten will, kann auf der Internetseite des grünen blatts bereits weiterlesen.

Dieser Artikel basiert auf Vorort-Recherchen in Alberta, Interviews mit Vertreter*innen von kanadischen Umwelt-NGOs, First Nations, aus Ölindustrie und Politik sowie auf Internet-Recherchen.


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Weiterführende Informationen

Tar Sands-Pipelines:

First Nations:

Initiativen, Gruppen, NGOs:

Fort McMurray:

Tar Sands-Lobby:


  1. 1,0 1,1 1,2 https://humanrights.ca/news/confronting-genocide-in-canada - gesichtet 6. September 2020
  2. https://humanrights.ca/news/speech-delivered-by-president-and-ceo-stuart-murray-to-the-truth-and-reconciliation-commission - gesichtet 6. September 2020
  3. https://humanrights.ca/news/take-the-indian-music-and-reflection-about-reconciliation-at-cmhr - gesichtet 6. September 2020
  4. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Indianeragent_(Kanada)&oldid=187873934 - gesichtet 3. Juni 2019
  5. https://www.cbc.ca/news/indigenous/cmhr-colonialism-genocide-indigenous-peoples-1.5141078?fbclid=IwAR1cx_673vKzXjWoS1IuwnlYA40mMpvNR0tYBb2bWAsgwgikZM1umTH8YYk - gesichtet 5. Juni 2019
  6. https://www.canadiana.ca/view/oocihm.9_08051_5_1/213?r=0&s=1 - gesichtet 6. September 2020
  7. http://signatoryindian.tripod.com/routingusedtoenslavethesovereignindigenouspeoples/id10.html - gesichtet 6. September 2020
  8. https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Indian_Act&printable=yes - gesichtet 6. September 2020
  9. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Residential_School&oldid=202164905 - gesichtet 6. September 2020
  10. 10,0 10,1 10,2 https://nctr.ca/assets/reports/Final%20Reports/Volume_1_History_Part_1_English_Web.pdf - gesichtet 6. September 2020
  11. Dieses indigene Recht auf die eigene Sprache soll 2019 mit dem im Folgenden erwähnten "Indigenous Languages Act" verankert worden sein.
  12. 12,0 12,1 https://humanrights.ca/story/language-rights-are-human-rights - gesichtet 6. September 2020
  13. https://www.un.org/esa/socdev/unpfii/documents/Declaration%28German%29.pdf - gesichtet 6. September 2020
  14. Eine Presseinformation der kanadischen Regierung spricht von 90 immer noch angewandten indigenen Sprachen.
    https://www.canada.ca/en/canadian-heritage/news/2019/02/government-of-canadaintroduces-historiclegislationonindigenous-languages.html - gesichtet 6. September 2020
  15. http://www.unesco.org/new/en/culture/themes/endangered-languages/atlas-of-languages-in-danger/ - gesichtet 6. September 2020
  16. https://www.canada.ca/en/canadian-heritage/campaigns/celebrate-indigenous-languages.html - gesichtet 6. September 2020
  17. 17,0 17,1 https://www.canadiangeographic.ca/article/mapping-indigenous-languages-canada - gesichtet 6. September 2020
  18. https://www.canada.ca/en/canadian-heritage/news/2019/02/government-of-canadaintroduces-historiclegislationonindigenous-languages.html - gesichtet 6. September 2020
  19. https://www.rcaanc-cirnac.gc.ca/eng/1524495846286/1557513199083 - gesichtet 6. September 2020
  20. https://www.canada.ca/en/canadian-heritage/campaigns/celebrate-indigenous-languages/legislation.html - gesichtet 6. September 2020