2017-02:Wenn Aufklärung so selbstverständlich ist, dass sie misslingt - Zum Verhältnis Wissenschaft und Kapitalismus

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Wenn Aufklärung so selbstverständlich ist, dass sie misslingt - Zum Verhältnis Wissenschaft und Kapitalismus

Grillmöbel Der Kapitalismus funktioniert. Er funktioniert insofern, indem er das erreicht, was in ihm immanent als Ziel angelegt ist: dass nämlich eine kleine Elite es gut hat, während der Rest vor die Hunde geht. Dass dies sich so verhält, verdeutlicht jeder offizielle Armutsbericht genauso wie jede Meldung über die steigende Anzahl von Krankschreibungen/psychischen Krankheiten/Patienten, jede Statistik über die Verbreitung von Betriebsräten und jede Studie zum Eisbestand der Arktis. Immer mehr nach sogenannten neutralen wissenschaftlichen Normen angelegte Studien kommen zu dem Ergebnis, dass mit dem Kapitalismus die Ziele Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit für alle nicht vereinbar sind. Mal abgesehen davon, dass viele Menschen genau das seit über 100 Jahren beobachten, skandalös finden, proklamieren und für die Überwindung dieses Unrechts kämpfen und dass für diese es ein Schlag ins Gesicht ist, sowas als neue Erkenntnis zu verkaufen, bedeutet das Ganze auch nicht im Geringsten, dass – ich drifte hier kurz ins religiöse Jargon ab – eine Zeit des Erwachens anbricht. Zu lange existiert Wissenschaft nun schon getrennt von Politik und Gesellschaft als etwas, dessen Notwendigkeit als Erbe "der Aufklärung" selbstverständlich war und ist, aber dessen Erkenntnisse, da für Ottonormalbürger_innen kaum mehr auf Verständliches runterzubrechen, letztlich kaum mehr einen Dialog möglich machen. So dass es heute möglich ist, dass Regierungen die einhelligen Warnungen von etwa 98% der damit beschäftigten Wissenschaftler_innen ignorieren können; man könnte auch sagen: Nichts war jemals so wahr wie der Klimawandel, und trotzdem können Leute in die höchsten Ämter kommen, die alles leugnen, was ihren Interessen zuwiderläuft, und das mittlerweile auch bei katastrophalen Auswirkungen, die ihre eigene Bevölkerung treffen werden.

Es gibt da übrigens nicht nur diesen Kasper in den USA und den Trottel in Australien; viele Parlamente weltweit sind durchsetzt mit Klimawandelleugner_innen. Inwiefern die selbst an ihre Lüge glauben, ist fraglich, aber auch irrelevant; die wissen jedenfalls, dass sie das auch machen können, weil in den jeweiligen Bevölkerungen mitunter große Mehrheiten ebenso wissenschaftsfeindlich sind. Das hat viele Gründe, von denen einer ist, dass Demokratie nicht funktionieren kann, wenn sie im Kapitalismus stattfindet und einer, dass beide vereint Bildung zu einer Angelegenheit temporärer Datenverwertung machen, so dass zwar unter Umständen viele im Jugendalter über die wissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels belehrt werden, diese aber im wahlberechtigten Alter wieder vergessen haben. Ebenfalls eine Rolle spielt das Verhältnis von Gesellschaft und Wissenschaft, wie es historisch gewachsen ist. Mir liegt hier hingegen am Herzen, etwas über das Verhältnis Wissenschaft und Kapitalismus zu sagen.

Der Kapitalismus führt immer wieder zu Krisen, die aus krassen Widersprüchen und irrationalen Anteilen seiner selbst erwachsen. Damit das immer weiter laufen kann, braucht es eine Gesellschaft, die Irrationales hofiert und verlangt. Diese haben wir heute so gut wie überall. Radikale Vertreter jedweder Religion möchten zurück in voraufgeklärte Zeiten, Millionen Menschen werfen ihr Geld für Hilfsmittel aus dem Fenster, die nicht funktionieren können (seien es gemahlene Nashornhörner oder homöopathische Medikamente), die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sozialen Themen wird verunglimpft, Quacksalberei ist ein Wachstumsmarkt. Für den Kapitalismus ist das ein großartiger Nährboden, denn nur so können die in ihm stattfindenden irrationalen Prozesse immer weiter laufen: Mieten können steigen und steigen, obwohl diejenigen, die sie sich leisten können, immer weniger werden. Oder anders gesagt: Wenn einer 7 Wohnungen besitzt und dafür 6 andere Leute obdachlos sind, sind es immer noch 7 Wohnungen für 7 Menschen – so rechnet der Kapitalismus.

Unternehmen können ihren Aktionären garantieren, dass ihr Gewinn immer mindestens 100% vom im Vorjahr betragen wird – und das auch z.B. beim Abbau von Rohstoffen, die (ein rationaler Mensch sieht das) natürlich nicht unendlich vorhanden sind, denn nur so könnte dieses Prozedere nicht vollkommen hirnrissig sein. Menschen können weltweit immer mehr arbeiten, um nichts als zu überleben, während ein Riesenanteil dieser Arbeitsplätze vollkommen überflüssig ist, weil sie für Waren wie Einweglenkdrachen und Dienstleistungen wie die „wie hässlich bist du?“-App verantwortlich sind. In sogenannten Demokratien ansässige Firmen beliefern Diktaturen mit Waffen – nur im irrationalen System des Kapitalismus kann das logisch und richtig sein.

Vieles lässt sich hierüber debattieren, allein will ich darauf aufmerksam machen, dass eine Gesellschaft, die ihrerseits nicht (mehr) geschult in rationaler Kritik und Skepsis ist, all diese dem Kapitalismus innewohnenden Irrationalitäten noch nicht mal dann als Problem wahrnehmen kann, wenn sie daran kaputt geht. Es gilt also, „die Wissenschaft“ wieder in die Öffentlichkeit zurückzuholen, was nicht zufällig gerade ja auch zu geschehen beginnt (vgl. Marches for Science). Und noch viel mehr bedarf es einer neuen Aufklärung, die es schafft, nicht Mathe, Physik und Geschichte beizubringen, sondern Zusammenhänge zu verstehen, Thesen kritisch zu hinterfragen, so mehrheitlich sie auch angenommen sind, logisch zu denken und insgesamt skeptisch zu sein, wie es einer hochkomplexen Welt angemessen ist. Und das nicht nur einer Elite, sondern einer Masse. So dass letztlich klar wird: Wer immer heute Schritte unternimmt, den Kapitalismus am Laufen zu halten, handelt allein dadurch antiaufklärerisch. Es gibt hierbei keinen Kompromiss. Eine andere Frage ergibt sich noch aus dem bisher Geschriebenen, nämlich die danach, wieso so wenige Wissenschaftler_innen klare antikapitalistische Positionen beziehen, wenn doch immer mehr Fakten dafür sprechen, das zu tun. Dazu einige Thesen:

  • Das ideologische Gefüge des „es gibt keine Alternative“, in dem diese Menschen aufwachsen, ist stärker als ihre Fähigkeit, rational zu denken.
  • Es entsteht der umgekehrte Effekt, dass Wissenschaftler_innen ihre Fähigkeiten dazu nutzen, die irrationalen Prozesse zu rationalisieren.
  • Die vielen beliebigen Trennungen, z.B. von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, sowie die Trennung überhaupt von Wissenschaft und Gesellschaft führen dazu, dass vielleicht die richtigen Erkenntnisse da sind, aber Impulse fehlen, wie damit zu verfahren ist.
  • Menschen, die Wissenschaft betreiben, sind im Allgemeinen priviligierter als die Mehrheit der Weltbevölkerung, während antikapitalistisches Handeln daran geknüpft ist, solche Privilegien teilweise aufzugeben.

Es bleibt abzuwarten, wie sich der beschriebene Sachverhalt weiterentwickelt. Ich denke, es ist möglich, dass stetig mehr Wissenschaftler_innen sich gegen den Kapitalismus stellen werden; die Frage ist, wie diese aus ihren gesellschaftlich belächelten, geduldeten und marginalisierten Situation heraus politische Schlagkraft entwickeln sollen. Ich freue mich über weitere Beiträge zur Debatte.