2017-02:Atomkatastrophe in Majak vor 60 Jahren

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Atomkatastrophe in Majak vor 60 Jahren

Vor 60 Jahren, am 29. September 1957, kam es in der Atomanlage von Majak[1] in Russland zu einer verheerenden Explosion (INES-Stufe 6). Allerdings war das Ereignis, das auch als "Kyschtym-Unfall" bezeichnet wird[2], jahrzehntelang geheimgehalten worden. Was wäre passiert, wenn dieser erste Super-GAU schon 1957 bekannt geworden wäre?

1957 war das Jahr, in dem in der Bundesrepublik (und auch international) die Weichen in der Atompolitik gestellt wurden. In England, Nordamerika und der Sowjetunion waren bereits die ersten Atomreaktoren in Betrieb, aber ihr Zweck war vor allem die Produktion von Plutonium für Atomwaffen (und nicht die Produktion von Strom). Auch die Bundesregierung liebäugelte mit eigenen Atomwaffen für die neugegründete Bundeswehr.

Durch Appelle internationaler Wissenschaftler, insbesondere durch die "Göttinger Erklärung" (vom April des Jahres), gelangte die Gefahr der atomaren Aufrüstung ins öffentliche Bewusstsein. Es bildete sich eine internationale AntiAtomwaffen-Bewegung. Gleichzeitig bewirkte die Göttinger Erklärung eine breite gesellschaftliche Akzeptanz der im Aufbau befindlichen "zivilen" Atomtechnologie. Die Atomwissenschaftler um Otto Hahn priesen die Kernforschung als Allheilmittel in der Medizin und Landwirtschaft und als billige Stromquelle. Gefahren für die Umwelt durch Atomanlagen wurden ausgeschlossen. Das Atommüllproblem wurde nicht thematisiert. Vier Forschungsreaktoren waren in Westdeutschland im Bau, der erste wurde am 1. Oktober 1957 in Garching eingeweiht.

Zwei Tage vorher geschah in Russland die Katastrophe, die alles in Frage gestellt hätte: Majak hätte bewiesen, dass eine kleine technische Panne zur Katastrophe führen kann. Majak hätte deutlich gemacht, dass die Welt nicht nur durch Atombomben und Wasserstoffbomben bedroht wird. Dass die Atomtechnologie nicht beherrschbar ist und dass die Betreiber solcher Anlagen diese Gefahr skrupellos und systematisch in Kauf nehmen.

Der Atomkomplex Majak (auch Tscheljabinsk-65 genannt[1]) liegt nahe der Stadt Kyschtym[3] in der Oblast Tscheljabinsk[4] im östlichen Ural. Seit 1946 wurde hier eine der größten Atomanlagen der Welt aufgebaut. Bis zu 10 Kernreaktoren produzierten Brennstoff für U-Boote, Reaktoren und vor allem Plutonium für Atomwaffen. Es gab eine Wiederaufbereitungsanlage und eine chemische Fabrik zur Aufbereitung von Plutonium. Giftige Abwässer wurden systematisch in den Fluss Tetscha[5], den See Karatschai[6] und weitere künstliche Seen geleitet. Von dort gelangten sie bei Hochwasser regelmäßig in die weitere Umgebung bis hin zum Nordpolarmeer. Als der Karatschai-See 1967/68 austrocknete, wurden 500.000 Menschen durch den verstrahlten Staub kontaminiert. Der See gilt als der verstrahlteste Ort der Welt.

Andere Rückstände aus der Wiederaufarbeitung wurden in Stahltanks bzw. Becken auf dem Gelände gelagert. Am 29. September 1957 kam es in einem der Lagertanks zu einer Störung im Kühlsystem. Durch einen Bedienungsfehler wurde die Kühlung dann komplett abgeschaltet. Ein Funke genügte, um den Tank, gefüllt mit hochaktiven Spaltlösungen (darunter Plutonium) explodieren zu lassen. Die Freisetzungsmenge entsprach der vom GAU in Tschernobyl. Allerdings sank der Großteil der Partikel auf dem riesigen 90 km² großen Werksgelände nieder. Eine Wolke mit 10 Prozent der Strahlung zog 300 Kilometer nach Südwesten. Eine 23.000 km² große Fläche wurde kontaminiert. Auf dem Gebiet lebten 272.000 Menschen. Andere Quellen sprechen von 437.000 Strahlenopfern und 200-1.000 Toten durch die Explosion. Die durch Majak im Laufe der Jahre verseuchten Gewässer haben eine ähnlich hohe Strahlenbelastung bewirkt wie die Explosion (insgesamt 180.000 Terabecquerel)... Bis heute, so wird vermutet, sind 20.000 Menschen an den Folgen der Verseuchungen gestorben.

Majak war und ist militärisches Sperrgebiet und die Existenz der Anlage war streng geheim. So war es möglich, die Explosion über Jahrzehnte komplett geheim zu halten. Viele der Geschädigten dürften Arbeiter der Anlage gewesen sein, die zu Verschwiegenheit verpflichtet waren. Außerdem war die Umgebung schon zuvor durch die Verseuchung der Gewässer extrem kontaminiert. Erst ab 1976 publizierten zwei russische Wissenschaftler im Exil ihre Recherchen zu Majak. 1989 gab die russische Regierung dann den GAU von Majak zu.

Wäre die Katastrophe der Weltöffentlichkeit schon 1957 bekannt geworden, hätte dies vielleicht zu einem gesellschaftlichen Umdenken geführt (wie nach Tschernobyl und Fukushima). Bis dahin galten alle Atomanlagen als ungefährlich, technisch sicher und beherrschbar. Und niemand hatte sich Gedanken gemacht, wie Atommüll gelagert und entsorgt werden sollte.

Spätestens acht Tage nach der Explosion in Russland hätte sich dann auch der Letzte davon überzeugen können, dass all dies ein internationales Problem ist: Denn da ereignete sich ein unkontrollierbarer Brand im Kern des Atomreaktors von Sellafield/England. Bei dem Versuch, das Feuer mit Wasser zu löschen wurde eine kontaminierte Wasserdampf-Wolke freigesetzt, sie trieb bis aufs europäische Festland (INES-Stufe 5).

Nach den Erfahrungen von Majak und Sellafield hätte sich vielleicht eine internationale AntiAtomBewegung entwickelt. 1957 wäre es vielleicht noch möglich gewesen, das zivile Atomzeitalter zu beenden, bevor es richtig in Schwung gekommen war.


Martin (AntiAtomInitiative Göttingen)


Quellen:

  • P. Höcker, Flyer, 12.8.2017
  • 25 Jahre nach Tschernobyl, in: Ökotest, April 2011, Nr. 4, S. 84 f.
  • Eickmüller, Dirk, "Das nukleare Zeitalter", Stuttgart 2012, S. 112 ff.

Fußnoten: