2016-02:Kein Grund zum Jubeln - Reformation hat zu viele Schattenseiten

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Reformation hat zu viele Schattenseiten

Kein Grund zum Jubeln

jb Luther ist tot. Aber die Kirche lebt (anders als Millionen ihrer Opfer). Die aus dem Streit Luthers (und seinem Umfeld) mit dem Papsttum entstandenen, reformierten Glaubensrichtungen sind nicht einheitlich. Ihre Hauptteile bildeten später die evangelische Kirche. Auch sie ist keine ganz geschlossene, aber im Kern doch auf gemeinsame Glaubensgrundsätze fußende Organisation. Was sie, oft unter Berufung auf Martin Luther, in den vergangenen Jahrhunderten tat, bietet wenig Anlass zum Jubeln, sondern eher für eine kritische Aufarbeitung der Vergangenheit.

Der Historiker und Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin, Wolfgang Wippermann, forderte Kirche und Gesellschaft daher auf, „die anstehenden Feierlichkeiten zum 500. Jahrestag der Reformation dazu [zu] nutzen, um einen kritischen und selbstkritischen Blick auf uns und unsere Kirche zu werfen“. Dafür entwarf er sechs Thesen:

  1. Die deutsche evangelische Kirche hat in der Nachfolge und unter Berufung auf Luther Staat, Krieg und Kapital verherrlicht, Juden Sinti und Roma sowie Frauen verdammt: Die deutsche evangelische Kirche hat im Banne der Obrigkeitslehre Luthers bis in die NS-Zeit hinein den Staat verherrlicht. Mit dieser unseligen Tradition gebrochen hat erst die Bekennende Kirche. Mit ihrer Bekämpfung der nazifizierten Reichskirche hat sie aber keinen Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime geleistet. Erst die Kirche in der DDR hat der Obrigkeit gegenüber den Gehorsam aufgekündigt und den Widerstand gegen das kommunistische Regime unterstützt. Damit hat sie zu seinem Untergang beigetragen.
  2. Die deutsche evangelische Kirche hat unter Berufung auf Luther alle deutschen Kriege einschließlich des Zweiten Weltkrieges verherrlicht. Dies durch unchristliche, weil kriegerische Kriegspredigten und durch das Aufstellen von Kriegerdenkmälern, die mit unchristlichen Symbolen wie dem Eisernen Kreuz geschmückt waren und immer noch sind. Bis in die unmittelbare Gegenwart hinein hat sich die Kirche nicht zu einer uneingeschränkten Einhaltung des biblischen Tötungsverbots durchgerungen. Stattdessen versucht sie immer noch, einige Kriege zu rechtfertigen. Das darf nicht sein.
  3. Die deutsche evangelische Kirche hat bis fast in die unmittelbare Gegenwart hinein Partei für die Reichen und gegen die Armen eingenommen. Sie hat für die negativen Aspekte des kapitalistischen Wirtschaftssystems „die Juden“ verantwortlich gemacht und gemeint, die soziale Frage durch eine Erziehung zur und durch Arbeit lösen zu können. Zu diesen in der Vergangenheit von Antisemiten wie Adolf Stoecker und Sozialpolitikern wie Johann Hinrich Wichern gemachten Fehlern sollte sich die Kirche bekennen und sich dafür entschuldigen.
  4. Die deutsche evangelische Kirche war bis in die NS-Zeit hinein (teilweise noch darüber hinaus) antisemitisch eingestellt. Sie hat den christlichen und von Luther nicht reformierten, sondern radikalisierten Antisemitismus nur partiell und damit unzureichend überwunden. Die Juden werden zwar nicht mehr (wie noch von Luther) verteufelt, sie sollen aber immer noch trotz und sogar wegen der Schoah bekehrt werden.
  5. Die deutsche evangelische Kirche hat nicht nur zu der Verfolgung der Sinti und Roma geschwiegen, sie hat sich in der NS-Zeit auch daran beteiligt. Dies durch die Herausgabe der Kirchenbücher an die Verfolger der Sinti und Roma, die mit den in den Kirchenbüchern enthaltenen Informationen befähigt wurden, die deutschen Sinti und Roma in „reinrassige Zigeuner“ und „Mischlinge“ einzuteilen, um sie dann deportieren und ermorden zu können. Eine Entschuldigung für die Fehler der Vergangenheit steht ebenso aus wie eine wirkliche Hilfe für die heutigen Roma, die in vielen europäischen Ländern wieder oder immer noch verfolgt werden.
  6. Die deutsche evangelische Kirche hat sich nicht nur an der (auch von Luther gebilligten) Hexenverfolgung beteiligt, sie hat bis in die NS-Zeit hinein (und teilweise noch darüber hinaus) eine antifeministische Politik betrieben. Die ist heute nicht mehr der Fall. Außerdem ist die theologisch begründete Geringschätzung und Diskriminierung der Frauen, die auch bei Luther anzutreffen war, überwunden worden. Damit können die in der Vergangenheit gemachten Fehler aber nicht entschuldigt, geschweige denn ungeschehen gemacht werden.

Immerhin: Es gibt zaghafte Versuche kritischer Distanz. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, hat den Martin Luther im Spiegel am 3.4.2015 kritisiert. „Luther hat sich in seiner Spätzeit unhaltbar und in kruden Thesen über das Judentum geäußert. ... Diese Verirrungen können nur Anlass zu Trauer und Scham sein.“ Zumindest der Judenhass wird also nicht komplett verschwiegen. Bedford-Strohm in der „Welt“ am 22.12.2014: „Wir müssen Luthers Judenhass als das benennen, was es ist: Eine unerträgliche Form der Missachtung einer anderen Religion, wofür man sich nur schämen kann. 2017 kann es nicht um Heldenverehrung gegenüber Luther gehen. Vielmehr müssen wir die von Luther neu entdeckte, kraftvolle Botschaft wiederum für uns neu entdecken, in Luthers Tradition und zugleich im Wissen um die Irrtümer Luthers. Diese Irrtümer hat man als solche zu benennen, statt sie als kleine Fehler zu verharmlosen.“ Doch in der Jubelstimmung dürfte wieder das große Vergessen drohen - so wie vor über zehn Jahren, als „Luther - der Film“ eine intensive Wahrnehmung erreichte und in den Begleitmedien für Schulen zu lesen war, man könne Luther nicht „nachsagen, er habe die Juden - wie die Nazis - als gefährliches Volk oder minderwertige Rasse gehasst“. Sehr wahrscheinlich wird das große Vergessen bleiben bei allen anderen Hasstiraden des Reformators. Seine Hetze gegen Türken, Frauen, sogenannte Behinderte und alle Andersgläubigen bietet jeder Diskriminierung eine geistige Grundlage. Luther diente vielen Massenmorden als Brandstifter.

Der langjährige Direktor des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Hartmut Lehmann, warnte schon 2008 vor einer „Heldenverehrung“ Martin Luthers. Der Evangelische Pressedienst epd stellte fest, „die evangelische Kirche täte gut daran, hier längst bekannte Forschungsergebnisse angemessen zu berücksichtigen, etwa zu Luthers Antisemitismus, zu seiner Beurteilung anderer religiöser Glaubensauffassungen oder dem Gehorsam gegenüber Landesherren“. Und zitierte Lehmann wörtlich: „Es ist erstaunlich, wie sehr Theologen, die sonst jeden Satz der Bibel historisch-kritisch unter die Lupe nehmen, Luther-Legenden ungeprüft übernehmen“. Das gilt schon für den Thesenanschlag in Wittenberg, der dem 500-Jahres-Jubiläum zugrunde liegt - auch er ist wahrscheinlich eher ein Mythos als tatsächlich geschehen.

Jubiläumszulage: Viel staatliche Unterstützung für die Kirche

Doch nach einer breiten kritischen Auseinandersetzung sieht es nicht aus. Stattdessen unterstützt der Staat die Kirchen im geplanten Jubel - das übliche Spiel also. Neben den üblichen Förderungen, Zuschüssen, institutioneller Unterstützung, Zugang zu staatlichen Sphären und dem Eintreiben der Kirchensteuer sind etliche Sonderleistungen geplant bzw. fließen schon, die aus Steuermitteln für die Jubelfeiern zum Reformationsjubiläum rausgehauen werden: „Wie immer bei kirchlichen Veranstaltungen hilft der Staat mit Millionen an Euros. „Mit jährlich 5 Millionen Euro ab 2011 [bis 2017] will die Bundesregierung das Reformationsjubiläum im Jahr 2017 fördern“, schreibt idea-spektrum (Nr. 10 vom 9.3.2011; siehe http://ekd.de/print.php?file=/aktuell_presse/77001.html). Das heißt: Es gibt mindestens 35 Millionen Euro schon einmal von der Bundesregierung. Zusätzlich zahlen natürlich auch noch die Bundesländer, die Regierungsbezirke, die Kreise, Städte und Gemeinden - alle für das mehrjährige Lutherjubiläum der evangelischen Kirche. Im Jahr 2016 hieß es dann in einer epd-Meldung vom 10. Juni: Die Bundesregierung unterstützt mit weiteren 2,7 Millionen Euro Projekte zum Reformationsjubiläum im kommenden Jahr“, was von Kulturstaatssekretärin Monika Grütters (CDU), gleichzeitig Zentralrat der Katholiken (ZdK), der Öffentlichkeit so mitgeteilt wurde. (Quelle: Der Theologe Nr. 67, http://www.theologe.de/500-jahre_reformation_jubilaeum_2017.htm)

Nicht nur Luther, sondern Religionen und Kirchen in die Kritik nehmen

Luther ist tot. Gott noch nicht - und erst recht nicht diejenigen, die als Person oder Institution mit abenteuerlicher Berufung auf ein höheres Wesen (oder auch immer mal wieder auf Martin Luther, der als Gespenst daher dann doch noch weiterlebt) Menschen bevormunden, entmündigen, verführen oder bedrängen. Das Christentum hat die blutigen Seiten seiner Geschichte ebenso wie viele andere Weltanschauungen längst noch nicht hinter sich gelassen, auch wenn moderne Kampfbomber oder Konzerne nicht mehr offiziell im Namen Gottes ausbeuten, morden oder zerstören. Die Zeiten religiös motivierter Massenmorde sind aber auch in der das sog. Abendland prägenden Glaubensrichtung noch nicht lange vorbei. Christentum - das sind 2000 Jahre Blutspuren und Vernichtung. Dass andere Religionen ähnliche Wirkungen haben und in den christlich geprägten, kapitalistischen Kernländern bevorzugt kritisiert werden, sollte nicht länger verschleiern, dass das Christentum auf die gesamte Geschichte betrachtet den meisten Dreck am Stecken hat. Es hätte schon mehrfach genug Gründe gegeben, die zur Brutalität neigende Kirche schlicht zu verbieten - stattdessen wird sie aber weiterhin vom Staat stark gefördert. Da kann schon die Frage aufkommen, warum gerade die Freiheit der Religionsausübung in besonderer Weise geschützt ist. Wer religiöse Handlungen stört, ist bereits Straftäter_in - kirchliches Handeln wird hier über andere Grundrechte wie Meinungsfreiheit und Demonstrationsrecht gestellt. Was an Religion und Kirchen eigentlich so schützenswert ist, erschließt sich keinesfalls von selbst. Unfair ist es allerdings, wenn - wie Oliver Smiljic es in seinem Buch „Die missverstandene Religionsfreiheit“ (2014, Tectum in Marburg, 114 S., 19,95 €) macht - die Frage nach den Privilegien der Religion nur in Bezug auf nicht-christliche Religionen kritisch gesehen wird. Das für den doch recht hohen Preis recht dünne Buch erfüllt die Erwartung, die aus dem allgemein gehaltenen Titel folgt, nämlich nicht. Das eigentlich allgemein wichtige Thema wird nur unter zwei Aspekten etwas genauer untersucht: Die Beschneidung, beschränkt auf männliche Nachkommen, und der Anwendung der Scharia als islamisches Recht, hier begrenzt auf den Status von Frauen und auf die Frage der Religionsfreiheit. Zu diesen Punkten sind die Informationen präzise - aber insgesamt ist es eine ziemlich dürftige Auswahl von Einzelaspekten.

Und außerhalb der Kirchen? Sieht es nicht besser aus - zwar unterschiedlich, aber das Problem ist eben nicht die Frage, wie mensch glaubt, sondern in erster Linie, ob er_sie eine höhere Sphäre für über dem Menschen stehend hält und die Existenz von Verkünder_innen als Sprachrohre akzeptiert. In dieser Mischung bilden sich automatisch Hierarchien und (zumindest geistige) Unterwerfung, die Vorboten von Unterdrückung und mehr sind. Das ist in den Kirchen so - und in all dem, was von den Kirchen als Sekten oder Eso-Gruppen abgetan wird, genauso. Günther Zäuner beschreibt in „Hirngift&Seelenmord“ (2009, Goldegg in Wien, 447 S., 24,90 €) viele solcher Gruppen und ihre Funktionsweise. Das ist wertvoll, aber leider nimmt er dann die umgekehrte Kurve. In den letzten Zeilen des Buches plädiert er leidenschaftlich für einen Umstieg auf die klassischen Religionen. Diese stellen vermeintlich das Gegenteil der sog. Sekten dar. „Religionen respektieren meist die Autonomie des Einzelnen“ und „Religionen bieten Hilfe an“ steht da - wo das bei Kreuzzügen, Kolonialzeiten, heiligen Kriegen oder dem auch kirchlich abgesegneten Holocaust der Fall gewesen sein soll, wird dann nicht weiter erklärt ...

Warum aber verfallen soviele Menschen religiösen Orientierungskrücken? Der Verhaltensforscher Gerhard Roth erklärt das in „Ach Gott, die Kirche!“ mit der Psyche der Gläubigen: „Wir Menschen bestehen aus widerstrebenden Tendenzen. Hierzu gehören unter anderem Aufregung und Ruhe, Bindung und Selbstbestätigung, Unterwerfung und Kontrolle, Versorgung und Autarkie, Harmonie und Kritik. Von frühester Kindheit an gehört es zu den Herausforderungen der Persönlichkeitsentwicklung, zwischen diesen polaren Tendenzen ein „leb-bares“, wenngleich immer bedrohtes Gleichgewicht zu finden. Wird dieses Gleichgewicht gefunden, so sprechen wir von einem „in sich ruhenden“ und toleranten Menschen. Das sind aber offenbar nicht viele. Die Mehrzahl der Menschen strebt nach Ruhe, Bindung, Unterwerfung, Versorgung und Harmonie. Religionen waren stets darauf ausgerichtet, dieses Streben zu bedienen. In einer unübersichtlichen und beunruhigenden, ja verängstigenden Welt liefern sie einfache Erklärungen, Sinndeutung, verlässliche Verhaltensregeln, Bindung und vor allem Trost und Zuversicht für die größte Bedrohung in unserem Leben, nämlich das Sterben und den Tod. Sie sind deshalb bis heute so erfolgreich, weil sie damit das vermitteln, was bereits das Kleinkind am nötigsten braucht: Schutz, Bindung und Tröstung. Damit begeben sich Kleinkind und Erwachsener in eine tiefe geistige und psychische Abhängigkeit.“ Sein Vorschlag: „Aus dieser Abhängigkeit führt nur der Prozess der Erziehung zur Mündigkeit, d.h. der Aufklarung, wie es der Philosoph Immanuel Kant thematisierte.“