2015-02:Die Unerwünschten und das Desaster einer europäischen Flüchtlingspolitik

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Die Unerwünschten und das Desaster einer europäischen Flüchtlingspolitik

In diesen Apriltagen ertranken erneut über tausend Menschen im Mittelmeer bei ihrem Versuch, nach Europa überzusetzen, um Elend und Gewalt in ihren Herkunftsregionen zu entkommen. Die Katastrophe war leicht vorhersehbar. Denn Grenzsicherung vor „illegaler“ Einwanderung, die mit dem Akronym FRONTEX verbunden ist, genießt in Europa höchste Priorität. Mit tödlicher und absehbarer Konsequenz: Man lässt die Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken. Abschreckung. Seit der Jahrtausendwende sind bei unzähligen Bootshavarien schätzungsweise 25.000 Flüchtlinge elendig ertrunken.

Das bloße Ausmaß der aktuellen Schiffskatastrophe erschüttert zutiefst. Wieder zeigt sich die europäische politische Klasse betroffen. Verspricht erneut, mehr Seenothilfe durch jene FRONTEX-Einheiten zu leisten, deren vornehmliche Aufgabe darin eben nicht besteht. Und wir? Von einer Katastrophe zur absehbar nächsten wird erwartet, bei den europäischen Regierungen möge die Einsicht obsiegen, der Preis an Menschenleben, um die europäischen Wohlstandsgrenzen vor den Verzweifelten zu schützen, sei zu hoch. Der Schutz der Menschen auf der Suche nach Überleben geht, menschenrechtlich allein angemessen, vor Grenzschutz. Selbstverständlich. Oder sind wir inzwischen bereit, an die regelmäßigen Schiffskatastrophen gewöhnt, die ungeheuren Menschenopfer weiter hinzunehmen? Ein wirkliches Umdenken bei den europäischen Regierungen deutet sich jedoch nicht an, legt man den Zehn-Punkte-Plan, auf den sich die EU-Außen- und Innenminister im April verständigten, zugrunde. In der Beschlussvorlage des EU-Sondergipfels wird der Kampf gegen die illegale Migration geradewegs militarisiert. Eine neue, menschenrechtsorientierte Flüchtlingspolitik ist also nicht in Sicht.

Zwar soll die Aufgabe der Seenothilfe mit FRONTEX- und Kriegsmarineeinheiten ausgeweitet werden, im Kern aber geht es darum, in zivil-militärischen Operationen die Schleuser zu bekämpfen und ihre Kähne zu zerstören. Eine unendliche Legitimationsressource für zukünftige (polizei-)militärische Einsätze. Dazu soll das europäische Grenzregime weit auf nord- und westafrikanische Staaten ausgedehnt werden, um in migrationspolitischer Kooperation mit den Herkunfts- und Transitstaaten Flüchtlinge bereits abzufangen, bevor sie sich, von Europa bewusst dem Todesrisiko ausgesetzt, auf die Fahrt über das Mittelmeer begeben. Grenzsicherungen sollen insofern über Nordafrika hinaus bis in die Sahelzone verschoben werden. Einschließlich der zugehörigen Lager für die Unerwünschten, die, oft arm und „unqualifiziert“, in Europa nicht gebraucht werden. Die Europäische Union konzentriert sich nun in ihren Bemühungen vorrangig auf die Bekämpfung der Schleuser und Schlepper, die Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer nach Europa bringen. Eben jene unerwünschten Flüchtlinge, die unter Einsatz ihres Lebens nach menschengerechten Überlebensbedingungen suchen. Solange es aber keinen „legalen“ Zugang für diese Überlebenssuchenden nach Europa geben wird, solange werden sie die Dienste der Schlepper und Fluchthelfer in Anspruch nehmen müssen. Darum lenkt die europäische Debatte über die Bekämpfung der Schleuserbanden ab vom eigentlichen Problem: Ein offener Zugang nach Europa für alle, die auf der Suche nach einem sozialen Ort des Überlebens sind, könnte das gewinnbringende Geschäft mit der Fluchtmigration austrocknen.

Militarisierte Grenzsicherung im europäischen Kampf gegen die illegale Migration auf der einen und ein humaner Umgang mit der Fluchtmigration auf der anderen Seite schließen einander aus. Selbst wenn Europa Zugangskorridore diversen Zuschnitts für einige Flüchtlingsgruppen einrichtete, was zu begrüßen wäre, das Grundproblem bliebe bestehen, und neuerliche humane Fluchtkatastrophen blieben vorhersehbar. Nur, dass sie sich dann möglicherweise, so der europäische Migrationsansatz, nicht mehr vor „unserer Haustür“ ereigneten.

In der bestehenden kapitalistischen Ungleichheitsordnung werden die kriegs-, umwelt- und armutsbedingten Fluchtmigrationen in den kommenden Jahren noch zunehmen. Wir verteidigen an der europäischen Grenze im Mittelmeer vor allem unsere ressourcen- und umweltverschlingende Lebensweise, die nicht weltweit verallgemeinerbar ist. Daran erinnern die zu Tode gebrachten Flüchtlinge zuallererst. Die Unerwünschten, ihr Leben zählt in Europa wenig. Um sie trauern wir.

Dirk Vogelskamp

Dieser Beitrag ist ein Nachdruck, mit freundlicher Genehmigung des Komitees für Grundrechte und Demokratie. Das Original erschien unter http://www.grundrechtekomitee.de/node/685 .