2014-03:psychiatrie zitaterez

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Lehrbücher und Grundlagenwerke zur forensischen Psychiatrie:
Kaum versteckte Willkür

Wenn Gerichte feststellen (im Namen des Volkes ...), dass eine Person straffällig wurde, aber zum Zeitpunkt der Strafe unzurechnungsfähig war, können sie ein Urteil fällen, mit dem eine Einlieferung in die geschlossene Psychiatrie verfügt wird. Das ist nicht selten und wird ständig häufiger. Zusammen mit den dort vorläufig Untergebrachten und aus anderen Gründen eingesperrten Menschen bilden die Verurteilten nach § 63 und 64 StGB in den forensischen Psychiatrien, wie die Anstalten des Maßregelvollzugs nach Strafrecht heißen, und sonstigen geschlossenen Einrichtungen eine Art Parallelgesellschaft. Hier schaut kaum noch jemand hin. Die Bediensteten der Zwangspsychiatrien, vor allem deren Leitung, sind uneingeschränkte Herrscher_innen in einem Mikrokosmos der Hierarchien. Einzelne, inzwischen bekannt gewordene Fälle zeigen das. Die Dokumentation des gesamten Grauens steht noch aus.

Einen überraschend ehrlichen Einblick bieten bereits Lehr- und Grundlagenbücher zum Thema, z.B. aus der Medizinisch Wissenschaftlichen Verlagsgesellschaft (Berlin) oder dem Thieme-Verlag in Stuttgart. Wir haben einige unter die Lupe genommen und waren überrascht, wie offen willkürliche, folterähnliche und zum Teil klar rechtswidrige Praxen dort als Standardverhalten hinter Mauern und Stacheldraht propagiert werden - wenn auch mit interessanten Unterschieden im Detail. Als Ausgangspunkt wählten wir zwei Grundlagenwerke mit zum Teil gleichen Autoren (bemerkenswerterweise alle männlich). Das erste heißt „Praxishandbuch Forensischer Psychiatrie des Kindes-, Jugend und Erwachsenenalters“ (MWV, 99,95 €) und wurde herausgegeben im Jahr 2011 von Frank Häßler, Wolfram Kinze und Norbert Nedopil. Auf 741 Seiten werden alle wesentlichen Fragestellungen und Arbeitsbereiche dargestellt. Etliche Autor_innen haben an dem Werk mitgearbeitet. Älter und eher im Ruf als Klassiker zum Thema ist das Werk „Forensische Psychiatrie“ (4. Auflage 2012, Thieme in Stuttgart, 129,99 €). Die 533 Seiten der Hauptautoren Norbert Nedopil und Jürgen Leo Müller sowie ihrer vier Unterstützer kommen nicht ganz so dick daher, aber durch das enge Schriftbild bietet es mindestens genauso vielen Informationen Platz. Die streng systematische Ordnung mit z.T. vierstufigen Gliederungszahlen verpasst dem Buch einen lexikalischen Eindruck. Das umfangreiche Stichwort- und Literaturverzeichnis hilft ebenfalls dabei. Beide Bücher sind geeignet, einen ausreichend genauen Einblick in rechtliche Grundlagen, Begutachtung, Behandlungsziele und -formen zu verschaffen. Sie gehen systematisch auf alle Fragestellungen ein und behandeln diese präzise, oft mit Beispielen, Zahlen und Tabellen, Quellennennung und Verweisen auf Gesetze und Urteile. Die Patient_innenperspektive und noch mehr deren Rechte kommen in beiden Büchern jedoch recht knapp daher - aber immerhin: Sie und ihre Rechtsgrundlagen werden erwähnt. Das ist in Lehrbüchern zur Zwangspsychiatrie nicht selbstverständlich, wie die anderen Titel zeigen.
Zum Teil fehlen sie sogar ganz. Das gilt z.B. für das wesentlich smarter daherkommende, aber ähnlich den beiden dicken Werken betitelte „Praxishandbuch Maßregelvollzug“ mit Rüdiger Müller-Isberner und Sabine Eucker als Herausgeber (MWV, 2013, 301 S., 59,95 €). Beide Bücher schildern den Klinikalltag aus der Perspektive derer, die dort Menschen festhalten, behandeln und begutachten - allerdings sehr unterschiedlich. Das „Praxishandbuch Maßregelvollzug“ ist oberflächlicher, mitunter wirken die Sätze wie persönliche Äußerungen der Autor_innen. Der Nutzen für die Praxis ist daher eher gering. Die Patient_innen und ihr Blickwinkel kommen im Buch von Müller-Isberner/Eucker gar nicht vor. Die Patient_innenverfügung als zentrales Steuerungsinstrument der Selbstbestimmung von Psychiatrisierten steht auch nicht im Stichwortverzeichnis. Im Werk von Häßler/Kinze/Nedopil findet sich ein Eintrag. Obwohl sogar die gesetzliche Grundlage angegeben ist, in der die durchgreifende Wirksamkeit der „PatVerFüs“ garantiert ist, steht im Buch nur, es seien durch diese „auch Wünsche des Betreuten zu berücksichtigen“ (S. 536). Wenige Zeilen vorher klingt es noch deutlicher: „Das Wohl des zu Betreuenden hat Vorrang vor seinen Wünschen.“ Alles Weitere definieren die Ärzt_innen - unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Das ist glatter Rechtsbruch, wie im dritten Buch aus dem gleichen Verlag zu lesen ist. Dort behandeln die Herausgeber_innen Michael Mauer, Matthias Lammel, Steffen Lau und Stephan Sutarski die „Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung“ (MWV, 2011, 143 S., 29,95 €). Danach „muss der Arzt in eigener Verantwortung eine ihm bekannte Patientenverfügung beachten und umsetzen“ (S. 11). Existiert zudem eine bevollmächtigte Person, so ist diese bei Interpretationsfragen entscheidungsbefugt.
Auch dieser Sachverhalt kommt in den anderen beiden Büchern nicht vor. Das erschreckt, denn die in führenden Positionen tätigen Autor_innen scheinen Patient_innenrechte entweder nicht zu kennen oder für so vernachlässigbar zu halten, dass sie diese in einem Grundlagenbuch nicht einmal erwähnen. Die Erfahrungen mit der Praxis von Willkür hinter den Mauern forensischer Psychiatrien passen zu diesem Denken. Dass niemand hinguckt, geben Müller-Isberner/Eucker sogar offen zu: „Die Notwendigkeit solcher Evaluationen ist evident und wurde beschrieben (...), gleichwohl fehlen sie“ (S. 139). Und: „Empirisches Wissen darüber, wie sich Größe und Organisationsform kriminaltherapeutischer Institutionen auf therapeutische Effizienz und Wirtschaftlichkeit auswirken, fehlt weltweit“ (S. 87). Keine Hinweise gibt es auf Experimente, auf geschlossene Psychiatrien zu verzichten. Im Werk von Häßler/Kinze/Nedopil hätte es nahegelegen, im Kapitel über andere Länder z.B. auf Italien hinzuweisen. Dass es unterblieb, passt zum Gesamteindruck. Wem Zweifel bleiben, wie (Zwangs-)Psychiatrie im deutschsprachigen Raum ausgerichtet ist (z.T. wird in den Büchern auch die Lage in Österreich und in der Schweiz gesondert behandelt), kann das Buch von Helmfried E. Klein und Frank-Gerald B. Pajonik (3. Auflage 2011, Thieme, 59,99 €) als Beleg nehmen. Es stellt unter dem Titel „Facharztprüfung Psychiatrie und Psychotherapie“ eintausend Prüfungsfragen vor - und keine beschäftigt sich mit Patient_innenperspektive, -rechten oder -verfügungen. Wer so lehrt und lernt, produziert Verwahranstalten und Folterhäuser.

Hinsichtlich kompakter Wissensvermittlung sei noch die Reihe „Basiswissen“ aus dem Psychiatrieverlag in Köln) erwähnt. Die kleinen Taschenbücher behandeln jeweils ein konkretes Thema und verschaffen dabei einen guten Rundumblick mit Schwerpunkt auf die rechtlichen Bedingungen und konkreten Abläufe. Die Autor_innen stammen aus der Praxis, was ihnen einerseits hilft, die Dinge sehr praxisnah zu schildern. Andererseits führt das zu einem Blickwinkel aus der Sicht der Psychiatrie. Politische und ethische Erwägungen spielen z.B. im Buch „Maßregelvollzug“ von Cornelia Schaumburg (2010, 137 S., 16,95 €) kaum eine Rolle. Verfolgungsbehörden wie die Staatsanwaltschaft werden zur Vertretung der Bürger_innen verklärt (S. 21). Dennoch bleibt: Wer Informationen über die formalen und organisatorischen Abläufe der forensischen Psychiatrie einschließlich der Gerichtsverfahren sucht, liegt mit dem kleinen Büchlein genau richtig.

Zum Schluss sei ein weiterer Betrachtungswinkel benannt: Haben wir nicht alle Macken? Warum sind bestimmte als „krank“ definiert? Und warum werden immer mehr „krank“? Zum einen geht es darum, Abweichungen auszumerzen und am „Wahnsinn“ der Normalität auch noch zu verdienen. Davon handelt das Buch „Die Burnoutlüge“ von Martina Leibovici-Mühlberger (2013, edition a in Wien, 222 S., 19,95 €). Durch die Pathologisierung würden die unmenschlichen Zwänge kapitalistischer Produktionsverhältnisse verschleiert. Schade, dass die Autorin dann nur nach Wegen sucht, das im System zu verbessern. Lesenswert ist die Absage ans Krankheitserfinden aber. Zum zweiten ist es bei den menschlichen Macken wie mit den Drogen: Einige sind erlaubt (z.T. sogar erwünscht), andere nicht. Die Grenzziehung ist Willkür. Kurosch Yazdi beschreibt in seinem Buch „Junkies wie wir“ (2013, edition a in Wien, 203 S., 19,95 €) viele Süchte von Menschen. Einige davon gelten als Krankheit, andere nicht. Manche taugen sogar als Statussymbol, z.B. der ständige Kauf teurer Sachen. Die Wirtschaft profifiert von beidem: Den Süchten wie ihrer Bekämpfung („Heilung“).