2014-03:herrschaft wahrheit

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Wahrheit und Herrschaft

jb Wer in politischen Bewegungen über Macht und Hierarchien spricht, ist bereits die Ausnahme. Fast alle Ein- oder Wenig-Punkt-Bewegungen ignorieren die hinter einem Castortransport, einer Abschiebung, dem Mobilfunkmast, dem gentechnisch veränderten Mais oder dem Neubau einer Zwangsanstalt stehenden Interessen, Geflechte und Systeme der Herrschaft. Daraus folgt regelmäßig, dass wesentliche strategische Optionen vergessen oder sogar die Böcke (Teile von Staatsmacht oder Firmen) als Gärtner herbeigewünscht werden. Doch das stärkt sie dann in ihrer Verursacherrolle.

Auch diejenigen, die Herrschaftsfragen stellen, bleiben meist auf einem oberflächlichen Niveau. Sichtbare formale Gewalt, z.B. die Polizei, wird kritisiert, zudem ökonomische Verhältnisse, aber auch hier oft auf allgemeine antikapitalistische Schlachtrufe reduziert. Das aber ist nicht einmal die „halbe Wahrheit“ - und gerade dieser Begriff führt zu dem, was zu einer anspruchsvollen Herrschaftskritik dazugehört: Die Analyse von Denkmuster, Normen, Diskursen, also all dem, was in Beziehungen und Verhältnissen zwischen Menschen eine Rolle spielt. Das sind deutlich mehr als Paragraphen, Gitter, Knüppel und Zugangsbeschränkungen durch Eigentum.

Wahrheit und Wahrnehmung

Ein zentrales Element der Herrschaftsausübung ist die Definition von Wahrheit. Wer, ob mit der Formel „im Namen des Volkes“ oder als „das ist (wissenschaftlich) bewiesen“, seine eigene Auffassung als wahlweise „objektiv“ oder „wahr“ aufplustert, kann auf Argumente verzichten. Denn eine abweichende Meinung wäre ja „subjektiv“ oder „falsch“. In der Lesart der Wahrheitsgläubigen wäre sie damit hinfällig. Bernhard Pörksen zerlegt in seinem Buch „Die Gewissheit der Ungewissheit“ (2008, Carl Auer in Heidelberg, 237 S., 19,95 €) solche Ansichten. Er führt Gespräche mit mehreren Personen, die - so jedenfalls die Behauptung auf der Buchrückseite - zu den Begründern (tatsächlich nur Männern) der Konstruktivismus- und der modernen Systemtheorie gehören. Ihre Analyse lautet übereinstimmend: Die_er Beobachter_in prägt das, was er_sie sieht. Oder schafft es sogar. Die Ausführungen überzeugen, aber da es keine Wahrheit gibt, ist alles nur eine Sichtweise, die sich für diejenigen immer wieder bestätigt, die auch vorher an ihre Richtigkeit geglaubt haben.

Dass inzwischen die Physik zur Kronzeugin der Theorie geworden ist, dass ein Messergebnis vom Beobachtenden abhängt, ist schon seit etlichen Jahrzehnten Stand der Wissenschaft. Die Quantenphysik gab dem Versuch, das elementare Etwas zu finden, aus dem alles besteht, eine bedeutende Wendung, in dem sie nicht nur kein einheitliches Ergebnis erzielen konnte, sondern das zum Prinzip erhob. Viele Bücher beschäftigen sich seitdem mit der Frage, wie eigentlich unsere Welt funktioniert, was sie zusammenhält, wie sie sich warum entwickelt und was Menschen davon wahrnehmen können. Ein berühmter Rundumschlag stammt von Stephen Hawking mit seinem Klassiker „Das Universum in der Nussschale“ (2001, dtv in München, 262 S., 12,90 €). Das vielfach preisgekrönte Buch versucht, die für normales menschliches Denken schwer verwirrenden Erkenntnisse moderner Physik zu Raum und Zeit anschaulich zu machen. Hawking, Inhaber des Lehrstuhls, den einst Isaac Newton berühmt machte, zeigt in kurzen Texten und vielen Bildern, dass die Welt weit weniger Klarheiten birgt als es in der menschlichen Wahrnehmung scheint. Stärke des Buches sind die vielen Beispiele, an denen die Effekte erklärt werden - auch wenn sie rein fiktiv sind. Weder wird eine Lokomotive in der Zeit unterwegs sein noch jemals ein Astronaut auf einem kollabierenden Stern stehen. Die Texte selbst sind allerdings so kurz, dass es schwierig wird, ihre komplexen Aussagen klar zu erfassen. Ein bisschen bleibt unklar, warum dieses Buch so viele Menschen erreicht hat. Verständlich dürfte vieles für die Leser_innen nicht sein.

Jean-Marc Lévy Leblond verzichtet weitgehend auf Bilder. Er nannte sein Buch schlicht „Von der Materie“ (2011, Merve in Berlin, 173 S.). Es geht um Materie und Antimaterie, um Einsteins Relativitätstheorie und die Zweifel wiederum an allem, was irgendwann einmal als neue Erkenntnis auftauchte. Dass Wahrnehmung und Wirklichkeit eine komplizierte Verbindung miteinander haben, beschreibt Gudrun Kleinlogel in „Die Welt ist nicht, was sie scheint“ (2011, R.G. Fischer in Frankfurt, 118 S., 11,95 €). Der Autorin gelingt es besser als vielen der dicken Bücher, das komplizierte und dem üblichen Denken entgegenstehende Geschehen rund um Quanten, Raum und Zeit zu vermitteln. Es ist daher als Einstieg eine gute Alternative zu den Klassikern um Schrödinger Katzen, in denen ebenfalls in wundervollen Geschichten das Weltbild vermittelt wird, in dem alles relativ ist und die Materie, so simpel sie auf den ersten Blick scheint, der Träger beeindruckender Dynamiken und Informationen ist. Kleinlogel geht noch einen anderen Schritt weiter, der fasziniert, auf dem sie aber leider nicht mehr stringent argumentiert, sondern sich selbst als Anhängerin solcher Ideen zeigt. Da das Geschehen auf der Welt nicht vollständig im Dreidimensionalen und unserem Denken einfach zugänglichen Bereich erklärbar ist, sei es unwissenschaftlich, bislang ungeklärte Phänomene ins Reich der Phantasie zu verbannen. Sie nennt als Beispiele Homöopathie, Telepathie und andere.

Das dickste Buch stammt von Eduard von Wyl und heißt „Von den Quarks ins dritte Jahrtausend“ (2012, R.G. Fischer in Frankfurt, 831 S., 58 €). Es enthält Geschichten über die Geschichte der ganzen Welt - vom Urknall bis zum denkenden Leben. Geschrieben ist es in vielen kleinen Kapiteln, immer wieder mit Seitenästen, bei denen es weniger um den Inhalt als um das Drumherum von Entdeckungen und technischem Aufbruch geht. Den Erklärungen um die Entstehung der Welt sind verbale Expeditionen ins große Weltall oder in die kleinsten Teile der Zellen des Lebens beigefügt. Die Botschaft als roter Faden durch die vielen Seiten lautet: Alles ist dynamisch, in Bewegung und entwickelt sich vom Einfachen zum Komplexen. Das ist der Stoff, aus der auch die Debatte um zukünftige Gesellschaften sein kann. Die Evolution bejahend, müsste sie dann jenseits von starren Regeln verlaufen, wie sie heute vorherrschen und der Entwicklungsgeschichte von Materie und Leben widersprechen.

Biologie, Evolution und Kultur

Eine wichtige Herleitung herrschaftsfreier Ideale stammt aus einem Verständnis von Evolution nicht als linearer Prozess, sondern vor allem als Evolution der Evolutionsbedingungen. Ständig kommen neue Qualitäten in die Welt, auf deren Basis sich Neues auf neue Art weiter entwickeln kann. Recht, Strafe, Kontrolle und Normen hingegen wollen einen Zustand der Jetzt-Zeit (oder tatsächlich meist sogar der Vergangenheit) künstlich festhalten. Herrschaft ist anti-evolutionär.

Evolution gab es von Beginn an. Denn schon Materie ist weniger ein starrer Stoff als vielmehr ein dynamisches Etwas mit vielen Unbekannten. Das forcierte die Evolution des Stofflichen. Aus ihr entwickelte sich das - weiterhin materielle - Leben. Enrico Coens bietet mit seinem Werk „Die Formel des Lebens“ (2012, Carl Hanser in München, 383 S., 24,90 €) eine Geschichtsschreibung „von der Zelle zur Zivilisation“, so jedenfalls steht es im Untertitel. Es enttäuscht nicht und leistet daher einen interessanten Beitrag zur Debatte der Organisierung des Lebens. Die starren Erklärungsmuster eines Charles Darwin können damit bereichert und durch Erweiterung bestätigt werden. Leben ist komplex und dynamisch. Genau deshalb braucht es keiner Götter als zusätzlicher Erklärung. Sich selbst überschätzt der Autor allerdings mit der Annahme, eine „theory of everything“ bieten zu können. Seine Rückführung aller Prozesse von Leben und Kultur auf sieben Antriebe gelingt nur, weil er ziemlich vage Begriffe auswählt und diese nicht scharf definiert.

Thomas Munzinger geht in seinem „Der EGO-Tunnel“ (2014, Piper in München, 464 S., 10,99 €) einen Schritt weiter und stellt die Metafrage: Wie denkt der Mensch sich selbst? Und was ist das Selbst(-Bewusstsein) folglich? Der Autor reiht Untersuchungsergebnisse aneinander (manche auch zweimal) und verweist auf die große Illusionskraft des Gehirns. Das produziere nicht nur ein subjektiv überformtes Abbild der Welt, sondern auch von sich selbst. Die Grenzen zwischen Traum und sogenannter Wirklichkeit sind verschwommener als gemeinhin angenommen. Zum Ende versucht der Autor, Konsequenzen aus all dem zu ziehen. Es bleibt wenig vom bisherigen Weltbild übrig - und von der betörenden Klarheit, die das mechanistische Weltbild einige hundert Jahre in der Nachfolge der noch primitiveren Erklärungsmodelle über Gott und die Welt in den Köpfen verankert hat.