2012-01:Richter beim Containern gestört

Aus grünes blatt
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Richter beim Containern gestört

fb Mit einem unerwarteten Ergebnis ging am 21. September der zweite Anlauf des Prozesses gegen Menschen, die vor anderthalb Jahren mit abgelaufenen Lebensmitteln von der Polizei in Döbeln aufgegriffen worden waren, zu Ende: Freispruch einschließlich von der Staatskasse zu tragender Gerichtskosten. Unerwartet deswegen, weil der Vorwurf ohnehin umstritten und absurd war, denn obwohl es sich um ein Delikt handelt, das für gewöhnlich nur auf Antrag der Geschädigten verfolgt werden kann, brachte die Staatsanwaltschaft Chemnitz den Fall nun zum zweiten Mal ohne Vorliegen eines Strafantrags vor Gericht. Es bestünde erhebliches „öffentliches Interesse“ an der Strafverfolgung wurde behauptet. Und dann plädiert der Vertreter der Staatsanwaltschaft plötzlich selbst für den Freispruch. Zuvor hatte er erstmal noch ein neues Fass aufmachen wollen, als er eine neue verfolgbare Straftat des Angeklagten im strittigen Vorgang zu erkennen meinte. In benebelter Freude endete der Gerichtsprozess – oder freudiger Beneblung?

„Containern“ meint die Aneignung von weggeworfenen Lebensmitteln (und anderen Dingen) aus den Mülltonnen von Supermärkten, Gemüsegroßhändlern etc., die noch immer genießbar sind. Inwiefern es sich dabei um eine strafbare Handlung handelt, ist strittig. Denn juristisch handelt es sich bei Abfall in der Regel um eine „herrenlose Sache“, deren Eigentum „aufgegeben“ wurde. Nur in speziellen Fällen, wenn es klare vertragliche Regelungen zum Beispiel mit dem Abfallentsorger gibt, dass das Eigentum nahtlos an diesen übertragen wird, kann von Diebstahl gesprochen werden, wenn „aufgegebenes Eigentum“ („Müll“) angeeignet wird. In den meisten Strafverfolgungen gegen Menschen, die weggeworfene Nahrung oder Gegenstände einer weiteren Verwendung zuführen wollten, geht es angesichts dieses Umstands auch nicht um den vermeintlichen Diebstahl, sondern um damit verbundene weitere „Straftaten“. Beispielsweise, dass mit dem Übersteigen eines Zaunes Hausfriedensbruch begangen wurde, oder dass ein Schloss aufgebrochen wurde und damit eine Sachbeschädigung vorlag.

Im Döbelner Containerverfahren war der Tatvorwurf etwas wirr – einen Fall „besonders schweren Diebstahls“ solle es gegeben haben, weswegen ein erhebliches öffentliches Interesse an der Strafverfolgung bestünde, so behauptete ursprünglich die Staatsanwaltschaft. Besonders schwer sei der Diebstahl deswegen, weil zu seiner Begehung ein Hausfriedensbruch begangen worden sei, und es könne ja nicht sein, dass Leute einfach über Zäune steigen (Aussage des Vertreters der Staatsanwaltschaft im ersten Anlauf des Prozesses Ende 2010). Aber schon 2010 konnte die Staatsanwaltschaft diesen Vorwurf nicht mehr aufrecht erhalten, denn im Falle geringwertiger Sachen wie es bei Müll der Fall ist, ist das Vorliegen eines besonders schweren Diebstahls ausgeschlossen. Trotzdem musste versucht werden, die zugrunde liegende Argumentation aufrecht zu erhalten, da ohne die Behauptung des besonderen öffentlichen Interesses eine Anklage nicht möglich gewesen wäre. Offenkundig war das Verfahren politisch motiviert. Die Ermittlungen waren auf vage Spekulationen von Staatsanwaltschaft und PolizeizeugInnen gestützt, die sich schon im ersten Anlauf am Döbelner Amtsgericht als völlig unbelegt herausstellten. Weder konnte klar nachgewiesen werden woher die Lebensmittel kamen (also wer eigentlich geschädigt sein könnte), noch dass es tatsächlich ein Zaun überstiegen wurde. Lediglich die Tatsache, dass die zunächst zwei (später nach einvernehmlicher Einstellung eines der Verfahren gegen Auflagen nur noch einer) Angeklagten in Sichtweite eines Marktes mit einem teils mit abgelaufenen Lebensmitteln gefüllten Anhänger von PolizistInnen angetroffen wurden, stand im Raum. Neuigkeiten brachte dazu auch der zweite Anlauf des Prozesses nicht.

Anders war jedoch das Auftreten und Verhalten des neuen Richters Ehrlich. Der hatte schon Monate zuvor in einer sitzungspolizeilichen Anordnung nicht nur Vorkontrollen angeordnet, sondern auch das Mitführen aller zur Störung des Verfahrens geeigneter Gegenstände – insbesondere von Lebensmitteln – untersagt. Das wurde dann auch so umgesetzt, und nicht nur Handys und andere Gerätschaften der Besucher des Prozesses, sondern auch Laptops und Arbeitsgeräte des Angeklagten und dessen Rechtsbeistands, wurden an den Eingangskontrollen (dort gab es Metalldetektoren und anderes Durchleuchtungsgerät) zurückgehalten. Zur Eröffnung des Prozesses verkündete Richter Ehrlich, dass er konsequent gegen Störungen durchgreifen würde. In seiner sitzungspolizeilichen Anordnung hatte er bereits festgelegt, dass anwesende PolizeibeamtInnen nach entsprechender richterlicher Feststellung einer Störung eigenmächtig handeln dürften. Im Saal waren dieses Mal jedoch keine erkennbaren Polizeikräfte oder Justizbeamte anwesend, die dies direkt hätten umsetzen können. Außer einzelnen Rügen gegen juristische Einwände von ZuschauerInnen unternahm er auch keinerlei Versuche Kommentare oder Applaus aus dem Publikum zu unterbinden.

Gleich zum Beginn der Verhandlung erklärte Ehrlich indirekt seine Befangenheit, indem er seine Sympathie für das zivilgesellschaftliche Engagement des Angeklagten äußerte und erklärte, dieser würde vermutlich vom positiven Ergebnis der Verhandlung überrascht sein. Eigentlich ein klarer Grund für einen Befangenheitsantrag – aber was tun, wenn der Rechtsbruch zu Gunsten des Angeklagten erscheint? Gleich darauf legte der Richter eine unglaubliche Serie an schweren Rechtsbrüchen an den Tag, die eine Auflistung der eher leichteren Verfahrensfehler (wie dem Fehlen der formalen Fortsetzung des Verfahrens nach einer verkündeten Unterbrechung) müßig erscheinen lassen. Ehrlich ignorierte die Anträge des Angeklagten, ohne die ausdrücklich verlangten Gerichtsbeschlüsse vorzunehmen. Skandalös war es auch, dass Richter Ehrlich, ohne auf die Ausführungen des Angeklagten einzugehen, einfach den ersten Zeugen in den Raum rief und gleichzeitig, während der Angeklagte seinen Antrag vorzutragen versuchte, den Zeugen zu vernehmen begann. Der Antrag auf Zulassung eines Rechtsbeistands wurde – wie in anderen Verfahren schon ausgiebig erlebt – ohne Würdigung des rechtlich verankerten und durch die einschlägigen Rechtskommentare bekräftigten Anspruchs auf Beistand auch durch eine Laienverteidigerin abgeschmettert. Doch irgendwie schien Richter Ehrlich von der Situation überfordert. Denn während er noch an seinem Tisch Staatsanwalt, Zeuge und Angeklagten versammelt hatte, unterbrach er abrupt die Verhandlung und verließ ohne Angabe der Unterbrechungsdauer regelrecht fluchtartig den Raum. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft hatte zuvor auf die Frage nach seiner Stellungnahme zum Rechtsbeistandsantrag nur erklärt, dass er die vorgeschlagene Laienverteidigerin nicht kenne und daher keinen Kommentar abgeben könne.

Als Richter Ehrlich wieder in den Raum kam, verkündete er ohne Umschweife – und ohne die Fortsetzung der Verhandlung zu erklären – die Ablehnung des Rechtsbeistands unter Berufung auf Tatbestände, die den im Antrag bereits aufgeführten einschlägigen Rechtskommentaren zufolge unzulässig sind. Über die Beschwerde der abgelehnten Laienverteidigerin entschied der Richter gar nicht erst, sondern führte arrogant und ignorant trotz Einwendungen des Angeklagten die Zeugenbefragung fort. Als dieser daraufhin eine Unterbrechung zur Formulierung eines „nicht aufschiebbaren Antrags“ beantragte, fragte Ehrlich nach, ob es sich wohl um einen Befangenheitsantrag handele, und erklärte umgehend, „Befangenheitsanträge werden heute nicht angenommen“. Angesichts dieser Unverfrorenheit war wohl Hilflosigkeit die dominierende Stimmung im Saal. Dass grundlegendste prozessuale Rechte mit solcher Ignoranz unterbunden werden, war einfach ein unglaublicher Vorgang – und eigentlich eine Steilvorlage für die Revision. Noch klarer kann der Rechtsbruch / ein Verfahrensfehler kaum sein. Aber davon ungerührt führte Richter Ehrlich seine Befragung fort. So kam es mehrfach zu Situationen, in denen der Angeklagte verzweifelt versuchte seine Rechte wahrzunehmen, während Ehrlich parallel weiter plapperte und ernsthaft eine Zeugenvernehmung zu führen suchte.

Der Staatsanwalt Stefan erdreistete sich in dieser Situation noch einen Antrag zur Bestrafung des Angeklagten stellen zu wollen, weil dieser „ununterbrochen redete“. Aber Richter und dessen Schriftführerin ignorierten auch das, was Ehrlich später mit der schnippischen Bemerkung abtat, dieser Antrag sei sowieso gar nicht ins Protokoll gekommen und daher unerheblich.

Nach einigem hin und her und erfolglosen Versuchen den Richter zur Würdigung der prozessualen Rechte des Angeklagten zu bewegen, lies sich dieser auf die Zeugenvernehmung ein, wollte aber eine Pause, um die bisherigen Ereignisse zu klären. Auch das, wie unzählige andere Anträge, wurden von Ehrlich reaktionslos ignoriert und der Staatsanwalt Stefan fühlte sich wohl irgendwie zu neuen Tatvorwürfen beflügelt. Der kam nämlich plötzlich mit der Idee auf, den Angeklagten auch wegen des angeblichen Führen eines nicht-zugelassenen Fahrzeugs belangen zu wollen. In seinem Redeschwall wurde er jedoch von Richter Ehrlich, der irgendwie auch mit der Staatsanwaltschaft nicht so recht harmonieren wollte, jäh unterbrochen und provokativ gefragt, ob er denn die Akte kenne. Dann führte Ehrlich aus, dass die Frage der Fahrzeugzulassung und Verfolgung in diesem Fall bereits aktenkundig beschieden und abgelehnt worden sei, und deshalb hier nicht verhandelt würde.

Zwischendrin plauderte Richter Ehrlich von seinem morgendlichen Besuch beim Marktkauf-Container und meinte sichtlich geknirscht, dass er dort das Pech hatte sofort angesprochen worden zu sein, was er hier wolle. Überaus eifrig hatte Ehrlich sowohl die Container bei Marktkauf als auch bei einem weiteren Supermarkt inspiziert und berichtete nun stolz von den Ergebnissen seiner Exkursion. Wohl sowas wie der Reiz des Verbotenen? Vielleicht trifft mensch Richter Ehrlich demnächst beim gemeinsamen Containern bei Marktkauf...

Einige zähe Verhandlungsminuten später beendete Ehrlich die Beweisaufnahme und brachte seine Voreingenommenheit in dem Fall noch einmal deutlich zum Ausdruck, als er erklärte, dass er nicht verurteilungswillig sei und gern die Sache harmonisch zuende bringen wolle.

Mit seiner Einlull-Strategie führte Ehrlich eine große Konfusion herbei. Es blieb unklar, inwiefern auf seine ständigen Andeutungen freisprechen zu wollen vertraut werden könne, oder ob er damit nur eine schnelle und für ihn unproblematische Verurteilung ermöglichen wollte. Dieser Schwall an Sympathiebekundungen bei gleichzeitig unglaublichen Verletzungen der Rechte der Angeklagtenseite machte die Situation schwer durchschaubar. Ein weiterer Höhepunkt war dann erreicht, als Ehrlich von sich aus auf die Befangenheitsanträge zu sprechen kam, und entspannt darüber plauderte, dass er die Annahme dieser Anträge vorhin ja „verweigert“ habe, und dass die daher im Prinzip als „nicht gestellt“ gelten würden. Er war aber so „nett“ zu fragen, ob diese Anträge nun gestellt werden sollen. Tja, verworrene Situation und unklar was nun was bewirken würde. Jedenfalls erklärte der Angeklagte seine Befangenheitsanträge vorerst nicht mehr stellen zu wollen.

Erstaunlich die Reaktion des Vertreters der Staatsanwaltschaft auf die richterliche Voreingenommenheit. Der erklärte in seinem Schlussplädoyer umständlich warum er keine Ahnung von dem Fall hatte und irgendwie unwissend in diese Situation geraten sei und forderte dann einen Freispruch für den Angeklagten. Dieser wiederum zeigte seine Überraschung über das widersprüchliche Hin- und Herrudern der Staatsanwaltschaft, verkündete aber auch, dass er einen Freispruch wolle. In dieser feierlichen Einigkeit aller Beteiligten erbat sich Richter Ehrlich, das Publikum möge nun – wo noch am Anfang abgesehen von drei Personen (Polizei, Journalist, Filialleiter des Supermarkts) bei seinem Eintreten niemand aufgestanden war – über den eigenen Schatten springen und sich zur Urteilsverkündung erheben. Das taten dann fast alle Anwesenden mehr oder weniger auch und Ehrlich verkündete den Freispruch zulasten der Staatskasse. Es folgte lauter Applaus aus dem Publikum – vielleicht der peinlichste Teil der erfolgreichen Verneblung. Irgendwie war es ja wohl gut, wenn der Angeklagte freigesprochen wird, und dass hier die Legitimität eines Richterspruchs bekräftigt wird, weil hier mal „richtig entschieden wurde“ wurde nicht sofort klar.

Nun hatte Richter Ehrlich, was die meisten RichterInnen in diesen Prozessen nicht bekommen: Seine Autorität und Allmächtigkeit wurde vom kritischen Publikum anerkannt und gefeiert. Später folgten noch kritische Diskussionen über diesen Prozessverlauf, in denen erkannt wurde, dass viele sich durch den unerwarteten Vorstoß des Richters hatten einlullen lassen und nicht mehr klar hatten, dass sie eigentlich nicht nur gegen eine Verurteilung, sondern auch gegen die Legitimation des Systems, das sich anmaßt über andere Recht zu sprechen, sind. Gut ist, dass diese Erfahrung nun gemacht wurde und bei zukünftigen Vorgängen dieser Art hoffentlich besser reagiert werden wird.

Fazit: wenn die Herrschenden so entscheiden wie es mir gefällt, sind die ja doch gar nicht so schlecht – oder? Erinnert irgendwie an das Bild vom guten weisen Monarchen, wie ihn sich „sein Volk“ immer so sehr wünscht...
RichterInnen, die im Namen eines konstruierten „Volkes“ über Menschen Urteile sprechen und diese dann mit allen für die Betroffenen damit verbundenen persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen durchsetzen, sind illegitim. Das sollten wir nicht vergessen, auch wenn der Rausch des – vermeintlichen – „Erfolgs“ in der Sache verlockend scheint. Wenn wir den uns genehmen Entscheidungen von Gerichten applaudieren, legitimieren wir damit deren Logik auch für den gegenteiligen Fall, wenn sie nämlich verurteilen.

Richter Ehrlich ist ein unglaublicher Coup gelungen: Er inszenierte sich selbst als unverfrorener Rechtsbrecher, indem er „unaufschiebbare Anträge“ nicht zuließ und sogar offen erklärte, dass er Befangenheitsanträge gar nicht erst annehme – was formal nicht möglich ist, und machte damit seine allmächtige Position deutlich. Nebenbei brach er auch andere Rechte des Angeklagten, wenn dieser Anträge stellen wollte und outete sich von vornherein als befangen (im Sinne des Angeklagten). Und es gelang ihm – vorerst – dafür zu sorgen, dass er dafür nicht angegriffen oder kritisiert würde, indem er die Forderung nach einem Freispruch umfassend erfüllte. Und erreichte zuletzt auch noch, dass das ihm zunächst kritisch eingestellte Publikum die Ehrerbietung gab und seinen Anspruch für Andere und gegen alle Regeln bestimmen zu dürfen bestätigte.