2011-02: Offensive Prozessführung und Vermittlung

Aus grünes blatt
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Der folgende Text entstand bei dem ersten Laienverteidigungstreffen in der Projektwerkstatt Saasen, ausgehend von einem kollektiven Diskussionsprozess.

In den letzten Jahren wurden erfreulicherweise die Methoden der offensiven/kreativen Prozessführung in Strafverfahren zunehmend verbreitert und verbessert. Während immer mehr Menschen diese Methoden anwenden, können sie häufig nicht überzeugend nach Außen vermitteln, warum sie das tun. Wir denken, da muss sich was ändern, und wollen mit diesem Papier Denk- und Diskussionsanstöße dafür liefern. Alles was hier steht ist als These gemeint – es soll und kann keine einfache Linie vorgeben, durch deren Einhaltung alles gut wird.

Auffällig sind konkret 3 Probleme, die oft zu einer Vermittlungsschwäche unserer Zusammenhänge führen:

1. Geringes Bewusstsein der Anwender_innen offensiver Methoden warum sie diese benutzen In unseren kleinen Kreisen ist offensive Prozessführung inzwischen regelrecht hip. Die Entscheidung für die Methodik fällt dann gerne mal sehr schnell. Dadurch fehlt dann aber auch oft eine persönliche Reflektion über Sinn und Unsinn dieser Strategie. Die Fähigkeit, diesen Punkt dann Anderen weiter zu vermitteln, ist dementsprechend.
Das gilt insbesondere auch für eine eigene, grundsätzliche politische Analyse über Rolle und Charakter der Justiz, die (wenn überhaupt vorhanden) oft auf dem Niveau von gegenseitig übernommenen Schlagworten und Versatzstücken liberal-bürgerlicher Ideologie bleibt.

2. Zu häufig reiner Konsum der Methodik statt Vorbereitung und Auseinandersetzung mit dem konkreten Fall Es ist nicht grundsätzlich schlecht, dass die offensive Prozessführung konsumierbar ist. Damit ist z.B. gemeint, dass es inzwischen manchmal reicht, sich die fertigen Anträge von anderen auszudrucken und zu stellen, um einen Verhandlungstag platzen zu lassen. So lässt sich Zeit und Energie sparen, was durchaus sinnvoll sein kann. Aber eben gerne mal auf Kosten der Vermittelbarkeit geht.
Wer die Anträge die er/sie stellt nur vom flüchtigen Durchlesen am Tag davor kennt, wird ihre Inhalte oft nicht überzeugend rüberbringen können. Wer sich seine Strategie anderswo zusammenklaubt statt sie selbst zu entwickeln, wird sie häufig nicht gut begründen können. Neben dem Problem der Außenvermittlung ist dieser Aspekt selbstverständlich auch entscheidend für die Selbstsicherheit mit der Angeklagte auftreten.

3. Abgrenzungsunschärfe ob juristisch/politische oder persönlich/emotionale Unterstützung benötigt wird Klingt vielleicht auf den ersten Blick nicht nach einem Problem der Vermittlung, ist es letztlich aber doch. Wenn es gut läuft (und das tut es nicht immer!) kriegen Angeklagte ein gewisses Maß und Rechtsberatung und politischer Solidarität aus unseren Zusammenhängen. Die psychologischen Seiten der Repression, der Zusammenhang der Verteidigung mit der Persönlichkeit der Angeklagten usw. bleibt dagegen oft auf der Strecke. Wer sich mit einem Verfahren einfach nur schlecht fühlt, aus psychologischen Gründen nicht richtig vorbereiten kann, etc. wird auch keine gute Öffentlichkeitsarbeit machen können.


Letztlich ist es so, dass Personen die nicht zum engsten Szenekreis gehören (seien es bürgerliche Unterstützer_innen oder „Laufkundschaft“) nach einem offensiv geführten Prozess oft mit wenig Verständnis und vielen Fragen den Heimweg antreten.

Unklar ist beispielsweise häufig/ immer wieder/ manchmal:

Wozu die ganzen sinnlosen Anträge? Geht es wirklich um den Inhalt oder um das Nerven? Warum erzählt die Angeklagte so wahnsinnig viel, was zwar interessant ist, aber irgendwie komisch an dieser Stelle erscheint? Warum nervt das Publikum so? Bringt das was? Gefährdet das nicht die Angeklagte? Darf die Richterin / die Justizwachtmeister_innen das? Wie sollte das Verhältnis zwischen Polizei und Justiz sein? Also eigentlich?

Was zur Hölle tun die da? Die reden ja mit Richtern! Machen die etwa Aussagen zum Vorwurf? Die benutzen ihre Rechte um einen Gerichtsablauf zu stören, dass kann ja nicht sein, dass die unsere Rechte so misshandeln. Die sollen mal froh sein, dass die sich in Deutschland verteidigen dürfen. In anderen Ländern ist ja alles viel schlimmer. Wohin soll das alles führen? Aber ihr habt doch Grundrechte, seid doch froh, dass wir so etwas haben. Ihr beschmutzt damit unser Rechtssystem.

Auf diese Fragen wollen wir an dieser Stelle keine Antworten formulieren, dafür verweisen wir auf das Flugblatt „Hallo...? Geht’s noch? Zur Vermittlung möglicherweise unkonventioneller Prozesstrategien“.

Soweit die Kritik am Ist-Zustand. Wir wollen im folgenden ein paar Lösungsansätze vorschlagen:

Bessere Anträge Einiges was wir schreiben ist juristisch schon ziemlich gut. Dafür hat es keinen über Juristerei hinausgehenden Inhalt. Das führt dann häufig zu einer ziemlich langweiligen Dramaturgie, und ist für Viele die nicht eh schon von offensiver Prozessführung überzeugt sind, unverständlich. Verfahren sollten nicht nur juristisch, sondern auch politisch gewonnen werden. Anträge sollten daher auch über den formaljuristischen Rahmen hinausgehen. Unsere Inhalte sind dabei nicht nur der politische Kontext der kriminalisierten Aktionen, sondern auch die Begründung für unsere Strategie vor Gericht.

Freies Reden verbessern / spontanes Agieren erlernen Naturgemäß fällt es unterschiedlichen Menschen unterschiedlich schwer, schlagfertig auf das Agieren der Gerichte zu reagieren. In jedem Fall ist es für die Vermittlung lohnend, sich diese Fähigkeiten so weit es eben geht anzueignen.

Zwischenrufe aus dem Publikum Auch hier sollte reflektiert werden, was zu einer Vermittlung an Außenstehende beiträgt, und was nicht.

Diskussionsverhalten Wir sollten da wo es notwendig erscheint, untereinander solidarische Kritik an der Art und Weise üben, wie (offensive) Prozesse von uns geführt werden. Wir brauchen eine Debatte über Sinn und Unsinn offensiver Prozessführung, über unsere Ziele und die unterschiedlichen Analyen von und Kritik am Justizapparat. Wir brauchen eine bessere Streitkultur und einen inhaltlichen Austausch untereinander.

Materialen für die Außenarbeit erstellen Das gilt sowohl für den formalen Ablauf eines Gerichtsprozesses, als auch für die inhaltliche Begründung der Offensiv-Strategie. Denkbar wäre z.B. ein Flugblatt, was sich an die Beobachter_innen eines Gerichtsprozesses richtet. Anfänge hierfür wurden schon gemacht.

Emotionalen Support verbessern

Neue Rolle: Vermittler So wie es bei vielen Prozessen Menschen gibt, die sich z.B. für das Schreiben des Protokolls verantwortlich fühlen, sollte es routiniert Personen geben, die gezielt mit dem Publikum das Gespräch suchen und ihnen die Art und Weise der Prozessführung erklären.

Der Vollständigkeit halber an dieser Stelle auch noch eine Aufzählung weiterer Rollen, die sich bereits bewährt haben: Pressekontakt, Ablaufprotokoll, Zitateprotokoll (um in Befangenheitsanträgen oder Pressearbeit wörtliche Zitate von Richter_innen und Staatsanwält_innen verwenden zu können), Zeugengespräche verhindern durch auf dem Gang sitzen, Rauswürfe beobachten (evtl. Justizwachtmeister/ Polizei fotografieren, dokumentieren), Zwischenrufe (Nerven, rauswerfen lassen, Pausen erzwingen, Gründe und Vorgänge produzieren mit denen Angeklagte weiterarbeiten können), Mahnwache vor dem Gericht.

Publikumstraining Für Prozessinteressierte die keine Lust/Zeit auf ein komplettes Prozesstraining haben, können kurze, reine Publikumstrainings angeboten werden.


Über das Nennen dieser formalen Ansätze hinaus sollten wir aber auch stärker diskutieren, welche Ziele und Analysen wir mit der offensiven Prozessführung verbinden. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen den konkreten Zielen einerseits, und andererseits den politischen Einschätzungen, die dazu führen, eine Strategie zu wählen, die in der Regel mit der Autorität des Gerichts in Konflikt gerät. Konkrete Ziele können z.B. sein:

Einstellung des Verfahrens (des eigenen oder anderer)
Angst nehmen, Aktionsfähigkeit erhöhen
Lehren für künftige Aktionen ziehen
Unregierbar sein
Obrigkeit anzweifeln
Herrschaft enttarnen
Unruhe stiften
Normalität durchbrechen
Eigene Zurichtung überwinden
Konsequent handeln und Integrität wahren, letztlich widerständig bleiben
Motivation schöpfen
Geschehen lenken und inhaltlich gestalten
Utopien benennen
Die Möglichkeit der Verbindung von effektiver Einzelfallverteidigung und Gesellschaftskritik
Justizbetrieb ins Stocken bringen

Mögliche Elemente einer Kritik, vor deren Hintergrund eine offensive Prozesstrategie gewählt wird, können unter anderem sein:

Steuergeldverschwendung durch Justiz
Permanenter Rechtsbruch
Urteilsfabrik
Kriminalisierung sozialer Bewegungen
Bejahung von staatlichen Gewaltverhältnissen / Staatslogik
Waffen- bzw. gewaltgestützter Apparat
Strafe als Konzept bekloppt
Zerstörung von Existenzen
Binäres Weltbild, schwarz-weiß-Logik
Schützt Eliten
Antiemanzipatorisch weil keine Konfliktlösung und keine Verbesserungen für die Zukunft
Gesetze sind doof weil Verregelung des gesellschaftlichen Lebens von Oben anstatt Freier Menschen in Freien Vereinbarungen
Teil des Machtapparates, Aufrechterhaltung des Status Quo / bestehender Herrschaftsverhältnisse
Schützt die Grundlagen des Kapitals wie z.B. das Privateigentum
Kapitalistische Gesellschaften sind grundsätzlich gewaltförmig (z.B. wegen Ausschluss Vieler vom gesellschaftlichen Reichtum, und erzwungener Konkurrenz), Gerichte wenden also gegen die Folgen des eigenen Handelns stumpf noch mehr Gewalt an
Doofe Klamotten


Auch wenn es einigen in unseren Zusammenhängen wichtig ist, beinhaltet die Entscheidung für eine offensive Prozessführung nicht automatisch eine Ablehnung der Justiz an sich. Argumente wie das Verschwenden von Steuergeldern und die Kritik an den Fließbandbetrieb in den Gerichten mögen gut begründbar sein, stellen aber allein genommen nicht die Justiz an sich, sondern nur ihre konkrete Form in Frage sein. Auch die Kritik an Rechtsbrüchen durch Richter_innen und Kriminalisierung bedarf einer gewissen Zuspitzung, um wirklich in einer radikalen Gesellschaftskritik zu münden.
Zwischen dem Einfordern von Rechten sowie Verweisen auf demokratische Gepflogenheiten und tatsächlich radikaler Justiz-kritik und –ablehnung in Zusammenhang mit revolutionärer Politik liegt ein großer Unterschied, der oft von uns unterschätzt wird. Wer aber eine solche radikale Kritik vertritt, und sich vor Gericht (sinnvollerweise) dennoch auf die Gesetze des Staates beruft, bewegt sich in einem Widerspruch, der vielen betroffenen nicht bewusst ist. Der Umgang mit diesem Widerspruch ist daher häufig entsprechend unbefriedigend.
Die Schaffung von mehr Bewusstsein von uns und anderen in Bezug auf Inhalt und Notwendigkeit einer radikalen Kritik, erscheint dringend notwendig.