2011-01:Die Extremismusdebatte

Aus grünes blatt
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Die Extremismusdebatte

Arbeitsbegriff versus normativer versus Wesensbegriff

„Extremismus ist bekanntlich kein Rechtsbegriff, er findet sich in keinem Gesetz, in keinem Gerichtsurteil und auch nicht im Grundgesetz. Es handelt sich um einen Arbeitsbegriff der Verfassungsschutzbehörden.“
Seit 1974 benutzt der Verfassungsschutz den Begriff des Extremismus für diejenigen Gruppierungen, die er der Gesinnung und/oder der Tat nach für FDGO-feindlich hält. Wie jeder Staat hat auch die BRD ihre Überwachungs- und Bekämpfungsorgane, um seine Macht und damit seine Zwecke sicherzustellen. Das ist nicht das engere Thema dieses Textes.

Anlass sich das Thema vorzunehmen sind Erfahrungen von linken Studenten an Universitäten, die das Engagement rechter Nazi-Kader an ihrer Hochschule thematisieren und plötzlich mit einer Gegenfrage konfrontiert werden, ob sie denn nicht auch solche sind, nämlich Extremisten. In DGB internen Seminaren werden Teamer, die sich fragen, wie man mit Nazis auf den Seminaren umgehen solle, von Referenten aufgeklärt, wie man überhaupt mit Menschen umgeht, die die FDGO nicht umstandslos gut finden. Der Aufstand der Anständigen, der sich mal gegen rechte Gruppierungen richtete, wird scheinbar zunehmend seiner inhaltslosen Form nach konsequent zu Ende gedacht – gegen linkes Engagement.
Thema dieses Textes ist die Offensive der bürgerlichen Parteien das Thema Extremismus nochmal gesondert zum politischen Programm zu machen, Bürger für das Thema zu sensibilisieren, Schulklassen in neue Extremismus-Informationsstätten zu schicken und die Bemühungen einiger Gelehrter eine politikwissenschaftliche Theorie des Extremismus zu entwerfen.

Die wissenschaftlichen Extremismustheoretiker sind bislang in ihrer Zunft nicht wirklich populär – noch nicht. Sie handeln sich oft den Vorwurf ein, dass sie einfache Staatsbüttel sind, keine Wissenschaft betreiben, sondern nur einen Kampfbegriff aufpolieren. Diesen Vorwurf wollen diese nicht auf sich sitzen lassen. Das drückt eine Vertreterin so aus:
„Andererseits wird der Extremismusbegriff durch diese Wertgeladenheit in den innenpolitischen Meinungsstreit gezogen und die Auseinandersetzung um Verfassungsschutz und streitbarer Demokratie belastet seine Anwendung als analytische Kategorie der Politikwissenschaft.“
Ihrem Anspruch nach haben sie es mit einem politisch eigenständigen Phänomen zu tun, wenn sie eine Theorie des Extremismus entwerfen. Da können sie sich sogar auf Aristoteles beziehen:
„Seinen (der Extremismusbegriff; Autor) Ursprung hat er in der traditionsreichen Denkfigur einer Mitte versus den Extremen und in der Annahme einer größeren Wesensverwandtheit dieser Außenpole.“
Diesen wissenschaftlichen Anspruch zu widerlegen ist nicht nur fruchtbar für eine Diskussion im Uniseminar. Einige Argumente sind sicher auch im politischen Alltag zu gebrauchen.

Die positiven Inhalte des Extremismus: Lauter Pseudogemeinsamkeiten

Nicht nur Extremismustheoretiker kommen so daher, dass sie behaupten, einfach mal einen Blick in die politische Landschaft geworfen zu haben und dabei Gemeinsamkeiten von sogenannten Extremisten entdeckt zu haben. Sie behaupten nicht einfach einen Blick in den Verfassungsschutzbericht geworfen zu haben, sondern durch einen vorurteilslosen Blick in die Welt gemeinsame Wesensmerkmale von Extremisten gefunden zu haben, die sie von bürgerlichen Bewegungen der „Mitte“ abgrenzen. Einige Beispiele sollen hier mal ebenso vorurteilsfrei dargestellt und diskutiert werden: Trifft die behauptete Wesensgemeinsamkeit eigentlich diejenigen politischen Gruppierungen am linken und rechten Rand, die sie im Auge haben? Zweite Frage: Ist diese Wesensgemeinsamkeit eigentlich eine, die in der bürgerlichen Mitte wirklich nicht zu finden ist? Und drittens: Kommen sie dabei wirklich ohne den Bezug auf die FDGO und den Verfassungsschutz aus, wie sie es behaupten?

„Extremisten zeichnen sich durch ein messianisches Glücksversprechen aus.“

Das gibt es durchaus bei manchen linken Organisationen. Wer kennt nicht den Ton, Steine, Scherben Schritt ins Paradies?
Der „pursuit of happiness“ der freien Grundordnung verspricht aber auch jedem, dass er in ihr das Glück am besten verfolgen könne. Man könnte einwenden, dass damit nur das Recht nach Glück streben zu dürfen, angesprochen ist, was tatsächlich etwas anderes ist als ein Glücksversprechen. Ebenso wissen wir aus unsrer politischen Erfahrung, dass man Bürger oft auf diesen Unterschied erst hinweisen muss. Dass Bürger das so als Glücksversprechen wahrnehmen und bürgerliche Politiker damit auch genau so agitieren gehen, kann man aber Rückblickend am anschaulichsten in der Übernahmekampagne der DDR durch die BRD entnehmen: Stichwort blühende Landschaften.
Nazis haben zwar auch ein tausendjähriges Reich versprochen und nehmen damit Bezug auf die Bibel. Der Inhalt dieses Reiches besteht dann aber doch wohl eher nur ewigen Rassenkampf und Unterordnung.

„Extremisten sind gewaltbereit.“

Oberflächlich angefangen:

  • Nazis bringen ausländisch aussehende Menschen und Linke um.
  • Es gibt Linke, die bereit sind Nazis aufs Maul zu hauen.
  • Es gibt immer noch Linke, die die seit 20-30 Jahren bestehende Praxis, Autos anzuzünden, durchführen.
  • Es gibt gewählte Parteien, die Knäste organisieren und Menschen abschieben.
  • Überhaupt, gibt es viel Gewalt bei Fußballspielen, in der Ehe und in Kneipen.

Gemeint ist mit der obigen Aussage erstens „politische Gewalt“. Zweitens dann enger gefasst, dass einige als Extremisten gekennzeichnete politische Organisationen oder Menschen kein Problem damit haben, staatlich nicht-legitimierte Gewalt auszuführen. Damit wäre man wieder bei der oben kritisierten Logik angekommen. Die Gemeinsamkeit der Gewaltanwendung ergibt sich aus der Abgrenzung gegenüber derjenigen Gewalt, die sie nicht ist. Sie ist staatlicherseits nicht erlaubt.
Damit ist man aber wieder dabei, nicht die Gründe der Gewalt zu analysieren und zu kritisieren.
Aber auch abgesehen von den Gründen kann man ja auch an der Konsequenz der Gewalt für das Leid der Menschen einen Unterschied festhalten: Menschen töten und Sachbeschädigung. Darüber setzen sich die Extremismustheoretiker locker hinweg, wenn sie bei Rechten und Linken gleichermaßen einen Bruch mit der Rechtsordnung konstatieren.
Nicht zuletzt noch der Hinweis, dass es ausgesprochen pazifistisch eingestellte Anarchisten gibt. Dass ein Extremismusforscher sich ein geregeltes Leben ohne Gewalt sowieso nicht vorstellen kann, kommt in der folgenden Beschreibung rum:
„Anarchisten sind keine Ausnahme, in ihren Augen sind Regierende und Regierte theoretisch sogar personell identisch.“

„Extremisten haben eine Überzeugung, die sie nicht als Meinung relativieren, sondern verbreiten und durchsetzen wollen.“

Die katholische Kirche gilt in Deutschland nicht als extremistisch. Einen Wahrheitsanspruch hat sie aber. Sie unterhält Schulungszentren und verlangt von ihren Anhängern Unterordnung. Mit der Durchsetzung hat sie aber mit dem hiesigen Staat ihren Frieden geschlossen. Sie leistet sich und daher auch den Gläubigen den Widerspruch, die göttliche Lehre als das Höchste zu betrachten und zugleich in der Praxis alles zu unterlassen, was daraus als Konflikt mit dem staatlichen Recht erwachsen könnte. Sie verhalten sich also zu ihrem Glauben, also zu ihrer Wahrheit, wie zu einer Meinung.
Dass hier wieder die Rechtsordnung den Kompass der Extremismuseinordnung abgibt und nicht die inhaltliche Auseinandersetzung, kann man natürlich leicht an den Praktikern der Extremismustheorie selber erkennen. Ihre Überzeugung, nach der die hiesige Rechtsordnung das Beste sei, relativieren sie an keiner Stelle, verbreiten diesen Gedanken mit allerlei Aufwand und setzen diesen Standpunkt mit viel Überwachung, Kontrolle und Gewalt durch. Um nicht missverstanden zu werden: Hier soll nicht gesagt werden, dass der demokratische Staat ja selber extremistisch sei. Hier soll nur gesagt werden, dass das diese angeblich positive Bestimmung des Extremismus nichts taugt.

Fazit: An allen Punkten, wo die Extremismustheorie versucht einen positiven Inhalt der sogenannten Extremisten zu benennen, taugen entweder die gemeinsamen Bestimmungen erstens nichts; und/oder schaffen es zweitens nicht eine Unterscheidung gegenüber den bürgerlichen Parteien zu liefern; und/oder zeigt sich drittens, dass die Logik des „ist nicht rechtsstaatskompatibel“ der ganze Gehalt der angeblich positiven Bestimmung ist: also lauter Pseudo-Gemeinsamkeiten.

In der Mischung dieser Fehler bleibt daher nur ein Schluss übrig:
Diese Wissenschaftler sind schlicht Anhänger des Verfassungsschutzes und versuchen durch einen wissenschaftlichen Anstrich dem Kampf einen pseudoobjektiven Gehalt zu geben.

Die Logik des falschen Vergleichs Teil 1: Darf man vergleichen?

Eine große Diskussion in der Extremismusdebatte dreht sich um die Frage: Kann man vergleichen oder nicht? Dabei zeigen sich die Hauptakteure der Extremismustheorie als recht wendig, so dass man sie schwer zu packen bekommt. Den Hauptvorwurf, sie würden links und rechts gleichsetzen, kontern sie locker mit dem Hinweis, dass ihre Bücher voll von Hinweisen auf Unterschiede sind:
„Manche Autoren tabuisieren den Vergleich. Sie bauen einen Popanz auf, indem sie suggerieren, die Extremismusforschung setze die extreme Rechte und die extreme Linke gleich.“
Und soweit ist das ja auch o.k. Natürlich kann man linke und rechte politische Organisationen vergleichen, man kann ja auch Faschisten mit der CDU vergleichen. Man benennt dann die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede. Freilich muss man sie hinterher noch erklären. Dass die Extremismustheoretiker ihren Vergleichsaufwand aber so schlicht nicht sehen wollen, verrät dann folgende Aussage:
„Zu den umstrittensten Aspekten der Diskussion gehören zwei Fragen: (…) Kann und darf man links und rechts, Links- und Rechtsextremismus überhaupt miteinander vergleichen oder überwiegen die Unterschiede?“
Hier muss man sich fragen, wie der Autor eigentlich auf das „oder“ kommt. Ich weiß doch erst, ob Unterschiede überwiegen, wenn ich den Vergleich gemacht habe. Seine falsche Alternativstellung kommt nur zur Stande, weil er es dann doch für richtig hält, dass viele Gemeinsamkeiten ein Gleichsetzen dem Wesen nach rechtfertigen.
Die Extremismustheoretiker tun so, als ob sie vergleichen wollen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszufinden. Es zeigt sich aber, dass sie durch die gefundenen Gemeinsamkeiten unmittelbar die Wesensgleichheit darstellen wollen.
Nicht dass sie vergleichen ist ihnen vorzuwerfen, sondern was sie meinen, damit eigentlich gewonnen zu haben.

Die Logik des falschen Vergleichs Teil 2 – Hans und Inge sind beide nicht Dieter

Was hat eine Sonnenblume, eine Buche und ein Grashalm gemeinsam? Man könnte antworten: Es sind alles Pflanzen. Die Logik der Extremismustheorie würde antworten: Sie sind kein Kaktus.
Die Logik ist nicht dadurch falsch, dass sie überhaupt verschiedenes gleichsetzt. Das Urteil, „die NPD und die DKP sind wie die CDU und SPD politische Organisationen“, stimmt ja. Sie ist falsch dadurch, wie sie politische Organisationen gleichsetzt:
Es gibt nicht einfach politische Gruppen und Programme, die Gemeinsamkeiten haben und sich unterscheiden, sondern: Links-, Rechts- und ausländische Extremisten zeichnen sich dadurch aus, dass sie die FDGO nicht als absoluten Maßstab ihrer politischen Ziele anerkennen. Man weiß dadurch nichts über die verhandelten politischen Gruppen, man weiß dann nur, was sie an einer Ecke nicht sind. Genauso erhellend wäre die Bezeichnung „Nicht-Anarchisten“ für die Organisationen NPD, FDP und katholische Kirche.
Dabei wird dies nicht erst bei der Gleichsetzung von linken und rechten Gruppierungen falsch. Schon die Zusammenfassung von Anarchisten, Stalinisten, konsequenten Sozialdemokraten unter die Rubrik „Linksextremismus“ ist durch ihren Bezug auf das, was sie nicht sind, aberwitzig.

Dieser Formalismus des „ist nicht FDGO-kompatibel“ ist die bestimmende Logik der Extremismusdebatte. Die Logik führt geradewegs dahin, sich nicht mit den Inhalten der verhandelten politischen Organisationen auseinanderzusetzen und ggf. diese zu kritisieren.

Die Grundlage der Bewertung: Das Interesse an einer effektiven und begrenzten Gewalt

Man weiß durch die Argumentationsführung der Extremismustheoretiker nichts über die verhandelten politischen Gruppen, man weiß dann nur, dass sie an einer Ecke etwas nicht sind. Darüber kommt eigentlich keine Kritik oder ggf. eine Zustimmung zu politischen Programmen zustande. Klar ist aber, dass mit der Einordnung in den Extremismus eine Kritik beabsichtigt ist und viele Menschen die Theorie fast unmittelbar plausible finden. Wie geht das?

Einmal geht das über eine in allen Systemen geläufige Überhöhung der faktisch überlegenden Gewalt. Kein Herrscher der modernen Welt begründet seine Gewaltkompetenz einfach nur durch den Hinweis auf die hinter ihm versammelten Waffen. Immer ziehen sie höhere Werte heran, derentwillen sie legitim, also gerechterweise herrschen. Spiegelbildlich finden sich scheinbar in jedem System Untertanen, die nicht einfach nur sagen: Tja, der Staat ist mir über, dann mach ich mal, was der sagt. Sondern sie wollen eine legitime Herrschaft und nehmen die herrschende Ordnung als legitime überwiegend an. Wenn dieses Bedürfnis seitens der Politik und der Untertanen im Faschismus, im Realsozialismus und selbst in irgendwelchen Diktaturen, die nur für den Abtransport von Rohstoffen sorgen, bestand und besteht, dann liegt Verdacht nahe, dass der Wunsch nach einer legitimen Herrschaftsordnung in der bürgerlichen Gesellschaft nicht ganz anders gestrickt ist. Nicht eine Prüfung der herrschenden FDGO sorgt für deren allgemeine besondere Wertschätzung. Offenkundig scheint sich noch in jedem der angesprochenen Systeme gewaltsame Überlegenheit in moralische Legitimität zu verwandeln. Das ist dumm und irrational in jeder Gesellschaft.
Klar, die FDGO hat sich kein Bürger ausgesucht. Das Märchen von der grünen Wiese auf der sich alle versammelt haben, um dieses Vertragswerk gemeinsam zu beschließen, ist halt ein Märchen. Erstmal ist jeder Bürger damit konfrontiert, dass er sich an die Gesetze halten muss, dass er private Gewalt zur Durchsetzung seiner Interessen unterlassen sollte bzw. sich bei der Ausübung nicht erwischen lassen sollte. So merkt der Bürger sehr schnell bzw. bekommt es in Familie und Schule mitgeteilt, dass er selbst verantwortlich dafür ist, was mit ihm so wird und das wieder schwer davon abhängt, was er sein Privateigentum nennt und wie gut er sich damit gegen andere in der Konkurrenz behaupten kann. Von diesem Standpunkt aus ist er notwendigerweise wieder auf den Staat verwiesen. Wer sorgt dafür, dass die Verträge eingehalten werden? Wer organisiert mir eine Ausbildung, die erstmal die Voraussetzung dafür ist mitzukonkurrieren? Der Staat. So blickt der Bürger auf die ihn beherrschende Ordnung und entdeckt darin eine Hilfe für ihn. Eine wichtige Grundlage für die oben besprochene moralische Überhöhung.

Im diesen Sinne findet die Extremismustheorie zweitens Anklang, weil die Menschen den Formalismus der demokratischen Rechtsordnung gut finden und zwar unabhängig davon, welche konkrete politische Partei mit welchem konkreten Programm an der Macht ist. Sie fürchten sich vor politischen Gruppierungen, die nicht erkennbar dieselbe umstandslos als Maßstab ihrer Politik anerkennen. In dieser Haltung sind zwei Sachen enthalten: Erstens der Wunsch nach einer politischen Führung, die „durchregieren kann“; zweitens der Wunsch nach einer politischen Gewalt, die irgendwie begrenzt sein soll bzw. dem Horror vor einer Gewalt, die maßlos sei. Beide Wünsche entspringen dem Interesse des privaten Konkurrenzsubjektes in dieser Gesellschaft, egal ob es als Lohnarbeiter, Hausbesitzer, Manager oder Aktienbesitzer herumläuft. Das soll im folgenden begründet werden, was ein wenig ausgeführt werden muss.

In NRW hat gerade die CDU/FDP-Regierung die Mehrheit verloren. Damit haben die CDU und die FDP auch die Mehrheit im Bundesrat verloren. Weil viele Projekte der Bundesregierung (Steuersenkung, Kopfpauschale in der Krankenkasse) im föderalen System der BRD von der Zustimmung des Bundesrates abhängen, muss sie nun Kompromisse mit der SPD oder den Grünen eingehen.
Es gibt Medien, die diskutierten das als einen Schaden für Deutschland. Gerade weil ein Durchregieren für die Koalitionsparteien nicht umstandslos möglich ist, würden die Finanzmärkte nervös werden, wichtige Projekte aufgeschoben usw. Es gibt also mitten in der Demokratie den Standpunkt, dass es gut ist, wenn zwei Parteien, am besten noch eine alleine mit Macht ausgestattet ist, am besten noch eine Führung hat, der die Parteibasis vollkommen treu ist, so dass sie politisch machen kann, was sie will.
Vom Bürger aus wird das so gedacht: Er will ja, dass die anderen Bürger sich an die Gesetze halten, z.B. seinen Lohn auszahlen, ihn nicht beklauen usw. Er will, dass die Politik mit Gewalt dafür sorgt, dass seine Wünsche in dieser Hinsicht umgesetzt werden. Das bürgerliche Konkurrenzsubjekt will die Gewalt, weil er nur mit ihr konkurrieren kann. Und er will dass die Gewalt effektiv ist und nicht durch andere Nebengewalten aufgehalten wird. Schon aus diesem Standpunkt heraus treffen sich Bürger und Politiker in einem Interesse, das andere Gewalten als die Staatsgewalt nicht dulden will: Eben aus Effektivitätsgründen.

Die grüne Parteichefin freut sich dagegen und sagt: „Die Bundesregierung kann jetzt nicht mehr einfach durchregieren.“ Sie will damit sagen: Super, jetzt müssen wir als Grüne auch an der Machtausübung beteiligt werden und dürfen nicht mehr einfach so ignoriert werden.
Bürger nehmen das so auf: Der Rechtsstaat ist gut, weil dadurch die Macht und die Gewalt begrenzt würde. Man sieht es ja, die CDU/FDP kann ihr Projekt der Kopfpauschale nicht mehr so ohne weiteres der Gesellschaft aufdrücken. Im Vergleich mit dieser Überlegung resultiert der Schrecken vor einer politischen Gewalt, die nicht staatlich legitimiert ist. Diese versucht einfach durchzusetzen, was sie will und sei gar nicht begrenzt, also maßlos und führe also unweigerlich in die Apokalypse. Z.B. so:
„Es gibt zahlreiche Beispiele für Extremismen, die, einmal an die politische Macht gekommen, durch besonders brutale, menschenverachtende Praktiken ein System der Gewaltherrschaft errichteten. Für diesen Prozess kennt die Politikwissenschaft den Begriff des Totalitarismus, entstanden aus der Selbstdarstellung des italienischen Faschismus unter Mussolini.“

Beide Gedanken – nichtlegitime Gewalt maßlos, legitime Gewalt begrenzt – sind nicht richtig. Zum letzteren: Nehmen wir das Beispiel Widerstand im Wendland. Dort gibt es verschiedene Formen des Widerstandes, die den Rechtsbruch in Kauf nehmen. Nehmen wir dasjenige heraus, welches in den Medien eine zeitlang als das extremste wahrgenommen wurde: Menschen packen Hakenkrallen auf die Oberleitungen der Bahn. Ein Zug fährt durch, nimmt die Hakenkralle mit, welche dann die Oberleitung zerstört und den Zugverkehr bis zur Reparatur lahmlegt. Diese bewusste Sachbeschädigung ist nicht maßlos. Sie hat ein Ziel: Das Wendland soll nicht zur Atomendlangerungsstätte werden, weil dies selbst und die Atomstromerzeugung generell eine unkalkulierbare Gefahr für Menschen darstellt. Sie hat einen Gegner ausgemacht: Die Energieunternehmen, die Bahn, welche die Atommüll-Transporte durchführt und die derzeitigen Regierungen, welche die Transporte genehmigen und mit Polizeigewalt durchsetzen. Die angewendete Gewalt der Hakenkrallenleger hat ihr Maß und ihre Begrenzung in ihrem Ziel und den Umständen: Wird das Wendland nicht mehr als Atomendlager benutzt, hört die Sachbeschädigung auf. Weil die Staatsgewalt in ihren Mitteln so überlegen ist, haben die Aktivisten für ihre Aktionen einen Weg ausgesucht, der so effektiv wie möglich ist unter der Vorgabe, dass sie eine offene Konfrontation mit der Staatsgewalt nicht eingehen wollen. Weil der Ausgangspunkt der Aktionen eine Sorge um Menschen enthält, wird zudem ein Weg der Beschädigung von Sachen gewählt, der ein Leid von Menschen möglichst ausschließt.
Um es nochmal deutlich zu machen: Hier geht es nicht um das Thema Zustimmung oder Ablehnung des Wendlandwiderstandes. Es geht auch nicht um das Thema: Ist nicht-legitime Gewalt eigentlich nicht manchmal legitim? An dem Beispiel sollte nur deutlich gemacht werden, dass eine Gewaltanwendung – egal von wem – seinen Umfang und seine Begrenzung in dem Ausgangsinteresse, dem Ziel, den vorhandenen Mitteln und den entsprechenden Umständen hat. Danach entscheidet sich, ob eine Gewaltanwendung punktuell bleibt oder aber eskaliert.
Nicht-legitime Gewalt ist also nicht generell maßlos. Wie ist es mit der anderen Seite: Sorgt der Rechtsstaat für eine Begrenzung der Macht und damit Gewalt? Eins kann man mit Bezug auf oben schon mal so sagen: Wer sich wünscht, dass eine Partei „durchregieren“ kann, der will, dass es keine Umstände gibt, auf die die Regierung bei ihren Aktionen Rücksicht nehmen muss. Da liegt der Übergang in den Faschismus in der Luft. Dieser kritisiert den Parlamentarismus ja gerade dafür, dass die Parteien sich dabei wechselseitig behindern würden und so keine starke Führung zu Stande käme. Der Faschist will eine Führungsgewalt, die ohne Hindernisse und Umstände das tun kann, was sie für nötig hält. Als Demokrat wünscht man sich dagegen ein eindeutiges Wahlergebnis. Auch hier muss wegen dem so verbreiteten falschen Lesen nochmal unterstrichen werden: Hier wird nicht gesagt, dass die Demokratie Faschismus ist. Hier wird auch nicht gesagt, dass Demokraten Faschisten sind. Hier wurde eine politische Gemeinsamkeit bei manchen Demokraten und Faschisten festgestellt und auf den Unterschied hingewiesen.

Durch die NRW-Wahl muss die Bundesregierung jetzt für ihre neuen Projekte mit den Sozialdemokraten und vielleicht mit den Grünen verhandeln. Ihre Machtausübung ist in dieser Hinsicht begrenzt. Die Steuern senken, wie vor allem die FDP es will, wird wohl so nicht mehr ohne weiteres zu machen sein. Denn, wie eigentlich die CDU auch, halten die SPD und die Grünen gerade die Haushaltslage in Sachen Verschuldung für katastrophal. Weniger ausgeben ist angesagt, nicht weniger einnehmen. Mit dem weniger Ausgeben hat die FDP auch kein Problem, im Gegenteil hat sie sich ja am Anfang des Jahres auf die Hartz IV-Empfänger eingeschossen und will denen noch mal ans Leder. In dieser Gemengenlage von gleichen und unterschiedenen Vorstellungen, was Deutschland jetzt wirklich braucht, um aus der Krise zu kommen, werden dann Kompromisse gemacht. Ist aber ein Kompromiss gemacht, z.B. die Kürzung von Hartz IV um nur 20 Euro statt wie vielleicht von der FDP gewünscht um 50 Euro, dann wird das gemeinsam beschlossen und umgesetzt. Dann hat die politische Gewalt keine Begrenzung mehr in den Umständen, sondern kann sich auf alles Stützen, was schon da ist: Schreibtischmenschen, Polizei, Richter usw. Die Demokratie begrenzt nicht die Macht des Staates, allen zu sagen, wo es lang zu gehen hat. Sie begrenzt nur die Macht von einzelnen Parteien oder einzelnen Politikern so ohne weiteres über die Anwendung der Macht des Staates zu entscheiden.


Zwischenfazit: Die Extremismustheorie erlangt ihre Popularität nicht aufgrund der Güte der Argumente, sondern aufgrund der besonderen Bedeutung der rechtsstaatlichen Gewalt für die Konkurrenzsubjekte. Relativ dazu erscheint nicht-legitime Gewalt als der absolute Untergang, egal ob hier Autos angezündet werden oder Menschen umgebracht werden.
Diese staatliche Gewalt soll dann aber auch ohne Rücksicht nehmen zu müssen zum Tragen kommen. Niemand soll sie stören.

Zu einer Technik der Extremismusdebatte: Die (moralische) Kritik an Nazis wird als Faustpfand benutzt, um jetzt gegen Linke einzuschwören.

Extremismus ist ein Arbeitsbegriff der Verfassungsschutzbehörden, der schon lange Verwendung findet. Aktuell sind die CDU und die FDP bzw. ihnen nahe stehende Wissenschaftler und Medien die Hauptprotagonisten der öffentlich angezettelten Extremismusdiskussionen. In den Beiträgen der Protagonisten kann man regelmäßig lesen, wie zufrieden sie einerseits mit dem zivilgesellschaftlichen Engagement gegen NPD und Kameradschaften sind bei gleichzeitiger Bekräftigung, dass man hier nicht nachlassen dürfe.
Unzufrieden sind die Protagonisten damit, dass dieselbe „no Go“-Haltung nicht gegenüber linken Organisationen besteht. Hier hätten Bürger oft keine Berührungsängste mit antifaschistischen Gruppen. Der niedersächsische Innenminister drückt das so aus: „Viele sehen nicht oder wollen es nicht sehen, dass nicht jeder Antifaschist zugleich auch ein Antiextremist ist.“
Viele Menschen in Deutschland sehen tatsächlich keinen Unterschied zwischen links und rechts. Diejenigen aber, die sich mobilisieren lassen für eine Demonstration oder eine Händchenhalten um die Altstadt, opfern ihre Freizeit augenscheinlich tatsächlich für Gegenproteste gegen einen NPD-Aufmarsch, nicht aber für Gegenproteste gegen linke Aktionen.
Wie schlecht die Gegnerschaft vieler Bürger gegen rechte Organisationen auch begründet sein mag, ein wenig besondere Betroffenheit darüber, dass Faschisten Millionen Juden und andere Menschen umgebracht haben, eine besondere Betroffenheit darüber, wie brutal die darauf eingeschwört haben und andere Leute mitgemacht haben, spielt sicherlich dabei eine Rolle. Da entdeckt sicher so manch einer eine Gemeinsamkeit bei den freien Kameradschaften und der NSDAP, wenn erstere heute Asylheime niederbrennen und ausländisch aussehende Menschen und Linke so brutal zusammenschlagen, dass immer wieder jemand stirbt.
Die CDU, FDP und die wissenschaftlichen Vertreter des neuen Extremismusdrives versuchen jetzt ein Doppeltes: Erstens spielen sie die Empörung über die rechtsradikalen Gruppen in ihrer Theorie gar nicht runter, sondern stützen sich darauf. Durch die Gleichsetzung mit den linken Gruppierungen wollen sie diese besondere Empörung gerne gegen die Linke übertragen. Dafür müssen sie aber das oben benannte Engagement gegen Rechts grundsätzlich vom Inhalt befreien, der viele Bürger auf die Straße treibt. Nach ihrer Meinung ist es nicht richtig gegen Rechte zu demonstrieren, weil sie besonders konsequente und brutale Rassisten sind, sondern weil sie gegen den Rechtsstaat arbeiten. So wollen sie aus einem Antifaschismus einen Antiextremismus machen. Dies nochmal in den Worten des niedersächsischen Innenministers:
„Es ist ein Zeichen des Wandels, dass seit dem großen Epochenwechsel von 1989/1990 nicht mehr ‚rechts‘ oder ‚links‘, nicht ‚kapitalistisch‘ oder ‚sozialistisch‘ die Alternativen unserer Zeit sind, sondern demokratisch oder antidemokratisch.“
So hätte er es gerne und vor dieser Konsequenz wollen wir warnen.
Wer sich an Rassismus stört, tut gut daran, sich nicht nur die Nazis anzugucken. Wer sich daran stört, dass Nazis Menschen umbringen, die ihrer Meinung nach als ausländisch Aussehende hier nicht hergehören, der sollte einen Blick auf die institutionelle Abschiebepraxis werfen, um zu verstehen, wie die Nazis überhaupt auf die Idee kommen. Wer sich vor Menschen fürchtet, die einen neuen Führer wollen, der sollte dem demokratisch geäußerten Wunsch nach einer Regierung, die „Durchregieren“ kann, nicht unwidersprochen stehen lassen. Wer will, dass nazistische Ideologie ausstirbt, der sollte es sein lassen, den Nazis vorzuwerfen, sie würden ja die FDGO nicht einhalten.
Dafür wiederum müsste die Linke aber auch einen veränderten Kampf gegen rechtsradikale Organisationen betreiben. Die Nazis müssen inhaltlich kritisiert werden, es muss gegen Nazis argumentiert werden und nicht der Vorwurf erhoben werden, dass Faschismus keine Meinung, sondern ein Verbrechen sei. Damit wird nämlich eine ähnlich inhaltsleere Kritik am Faschismus befördert, der dem der Extremismustheoritiker sogar dem Inhalt nach sehr ähnlich ist.


Ein Text der Gruppe jimmy boyle berlin

http://www.junge-linke.org/