2006-02:Umso schlechter das Bild, umso besser ist der Angeklagte zu erkennen

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Umso schlechter das Bild, umso besser ist der Angeklagte zu erkennen

fb So in etwa die Logik der Gutachterin Kreutz, die am 20. November zum zweiten Mal in dem Verfahren wegen justizkritischer Aktionen gehört wurde. Kreutz räumte selbst ein, dass dies seltsam klingen würde, bestand aber darauf, dass häufig bei schlechtem Bildmaterial, auf dem Details kaum noch erkennb ar seien, die wesentlichen Körpermerkmale um so deutliche erkennbar wären. Kreutz wurde aufgrund der offensichtlichen Qualitätsmängel ihres Gutachtens – mensch könnte auch sagen ein Gutachten mit an den Haaren herbeigezogenen angeblichen Übereinstimmungen mit dem Angeklagten – wiederholt befragt. Bei der ersten Vorstellung ihrer Untersuchung hatte sie einen „Pixelbrei“ präsentiert, auf dem sie den Angeklagten zu erkennen meinte. Selbst Richter Wendel stellte damals fest, dass er selbst da auch zu sehen sein könnte.

Vom Angeklagten wird vermutet, dass das gesamte Ermittlungsverfahren voreingenommen geführt wurde, dass die Ermittlungen die Abwägung von be- und entlastenden Hinweisen mit offenem Ausgang nicht zum Ziel hatten, da Polizei und Staatsanwaltschaft von Anfang an wussten, wer TäterIn sein soll. Kreutz' sinngemäße Aussage, umso schlechter das Bild, umso besser wäre der Täter zu identifizieren, könnte genau so interpretiert werden: umso weniger Details erkennbar sind, umso mehr Raum bleibt der Phantasie, um die Person zu erkennen, die da zu sehen sein soll. Es sind ja keine Details da, die als „Widerleg“ fungieren könnten.

Um ihre Theorie zu untermauern, führte sie als Beispiel Abraham Lincoln-Piktogramme an, die nur aus wenigen Bildpunkten bestünden und auf denen trotzdem sofort Lincoln erkannt würde. Dies überträgt sie auf die undeutlichen Aufnahmen, die zeigen sollen, wer das Gießener Amtsgericht mit justizkritischen Parolen bemalt hatte. Allerdings ist naheliegend, dass nur Personen Lincoln erkennen werden, die sein Bild bereits gesehen haben. Die Bekanntheit der Person führt dazu, dass sie scheinbar wiedererkannt wird. Obwohl es gewiss unzählige Menschen ähnlichen Aussehens gibt, wird interpretiert, dass es sich um die bekannte Person handele.

Richter Wendel kamen die wenig nachvollziehbaren Ausführungen der Gutachterin sehr gelegen. Nun hatte er eine Grundlage zur Ablehnung eines Antrags der Verteidigung, die die Kompetenz der Gutachterin und Qualität des Gutachtens in Frage stellte.

Nun hoffte Wendel offensichtlich das Verfahren beenden zu können. Doch auf die Frage, ob die Beweisaufnahme abgeschlossen werden könnte, verneinte die Verteidigung. Mehrere Beweisanträge folgten - so z.B. zur einseitigen Ermittlung gegen den gewünschten Verdächtigen – Staatsanwalt Vaupel, selbst verantwortlich für diese Ermittlungen, beantragte mit einem Grinsen im Gesicht die Zurückweisung des Antrags. Erwartungsgemäß übernahm Richter Wendel genau dessen Wortwahl bei der Ablehnung.

Außerdem wurde ein psychologisches Gutachten zum ehemaligen Staatsschutz-Chef Puff, der in Aktenvermerken und Zeugenaussagen deutlich gezeigt habe, dass er seine Projektionen mit den aktenkundigen Ermittlungsergebnissen nicht in Einklang brächte und selbst Nachweise seiner Fehleinschätzungen gar nicht erst zur Kenntnis näme. Auch diesen und einen weiteren Antrag zur Überprüfung der visuellen Fähigkeiten bzw. möglichen Drogenkonsums des Staatsschützers Broers, der mehrfach Dinge sah, die tatsächlich nicht da waren - was er in seiner wiederholten Vernehmung teilweise auch eingestand -, wies Wendel zurück. Dazu Rechtsanwalt Döhmers verwunderte Nachfrage: „Es ist unwichtig, was er gesehen haben könnte?“ - Wendel: „Nein.“

Tatsächlich wollte Wendel heute verurteilen. Auf weitere Gegendarstellungen zu abgelehnten Anträgen der Verteidigung - u.a. zu Wendels impliziter Erklärung, die hessische Verfassung sei für das Verfahren nicht von Belang (§ 147: Widerstandsrecht und -pflicht) und ob die Tat überhaupt strafbar sei, wäre auch egal - ging der Richter nicht mehr ein.

In seinem Plädoyer erklärte Vaupel, dass er nicht wage zu behaupten den Angeklagten zweifelsfrei auf dem Bildmaterial zu erkennen, aber das Gutachten von Kreutz überzeugend fände. Er verlangte die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten ohne Bewährung. Da dem anthropologischen Gutachten Kreutz' rechtswidrig erhobenes Videomaterial zugrunde lag und dieses die Brauchbarkeit dieses Gutachtens komplett infrage stellen würde, sog sich Vaupel juristische abwegig klingende Darstellungen aus den Fingern und behauptete, diese Aufnahmen seien legal zustande gekommen.

Der Angeklagte wies in seinem Plädoyer zunächst auf die Opfer des sozialen Mordens dieses Gerichts hin, die in der benachbarten JVA von der öffentlichen Wahrnehmung isoliert werden. Mehrere Stunden berichtete er von der Chronologie der Rechtsverstöße von Gießener Repressionsbehörden. Eine witzigen Einschub in sein Plädoyer gab der Verteidiger, als er das Urteil Wendels für diesen formulierte, um dann zu erklären, dass er diese angenommene Argumentation äußerst problematisch finde.

Das Urteil fiel dann auch erwartungsgemäß aus. Wendel verurteilte, obwohl sich insgesamt 9 Gutachten entweder als voreingenommen bzw. qualitativ mangelhaft erwiesen hatten oder sogar Hinweise darauf lieferten, dass der Angeklagte eher nicht für die Tat in Frage kam. Weitere Anträge der Verteidigung waren gar nicht erst zugelassen worden. In seiner Urteilsbegründung erklärte Wendel die haarsträubenden Schlussfolgerungen und Methoden der Gutachterin Kreutz als überzeugend und wesentliche Grundlage seiner Schuldzuweisung.

Zuvor rastete der autoritäre „Gott in Schwarz“ noch einmal aus und ließ mit Gewalt mehrere ZuschauerInnen aus dem Saal entfernen und den Angeklagten festhalten. Dieser hatte angekündigt, dass er vor habe, nicht anwesend zu sein, wenn Wendel im Namen eines konstruierten „Volkes“ sprechen und ihn verurteilen wolle. Der Richter befahl seinen Untergebenen dafür zu sorgen, dass der Angeklagte den Saal in der Pause nicht verlassen könne. Als dieser bei der Urteilsverkündung nicht aufstehen wollte und sich die Ohren zuhielt, griffen mehrere Justizbeamte gewaltsam zu und versuchten seine Hände vom Kopf zu reißen und ihn zum Stehen zu nötigen. Unterdessen standen auch andere ZuschauerInnen nicht auf. EinE machte vor Wendel einen Kniefall und erklärte auf dessen Forderung sich hinzustellen, er bekäme doch die Ehrerbietung, die er eingefordert habe. Aber auch das passte dem kleinen Gott nicht (auch die Art der Unterwerfung will er bestimmen) und ließ die Person aus dem Saal schleifen. Nicht besser ging es einer weiteren Person, die nicht richtig aufstand und einem Menschen, der zwar stand, aber Wendel dabei den Rücken zukehrte.

Das vorläufige Endergebniss des Prozesses: Ex-Staatsschutz-Chef Puff und Anti-Projektwerkstatts-Staatsschützer Broers wurden in den Vernehmungen so erfolgreich zerlegt, dass der Richter ursprünglichen Annahmen entgegen sein Urteil nicht mehr mit ihrer Glaubwürdigkeit argumentierte, zahlreiche Rechtsfehler in der Prozessführung des Richters, die zum Teil auf die Erfüllung des Tatbestands der Rechtsbeugung zu prüfen sind, eine umfangreiche Dokumentation der Rechtsbrüche der „kriminellen Vereinigung“ (so die Formulierung des Angeklagten) aus Gießener Justiz und Polizeibehörden. Und eine Gesamtfreiheitsstrafe von inzwischen 10 Monaten ohne Bewährung (das zuvor gesprochene Urteil im „großen Prozess gegen ProjektwerkstättlerInnen“ wurde mit dem neuen Urteil verbunden), das aufgrund einer Intervention des Bundesverfassungsgerichts für mindestens ein halbes Jahr nicht vollstreckt werden darf.

Die schon vor dem letzten Prozesstag an vielen Orten in Gießen aufgetauchten Plakat-Überkleber hatten bereits angedeutet, dass es eine Verurteilung geben wird, egal wie. "Glaubst du, dass die Justiz ihren Kritiker schuldig sprechen wird?" fragte beispielsweise ein Sparkassen-Werbemenschlein. Ein anderes antwortet: "Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg." Hinzu kamen diverse Zitate und sinngemäße Aussagen von Richter Wendel und Staatsanwalt Vaupel, die in Form von Aufklebern zahlreiche Ampeln, Verkehrsschilder und andere öffentliche Orte zierten und damit auf das Verfahren "Justiz gegen Justizkritiker" aufmerksam machten.

Nach dem Prozess bekam der inzwischen Verurteilte eine eigene Polizeieskorte, die ihn erst verlassen sollte, wenn er das Stadtgebiet verlassen hätte. Aber nicht nur ihn, sondern auch andere PolitaktivistInnen, die zuvor im Publikum gesessen hatten, wurden von ihrem persönlichen Sicherheitspersonal begleitet - nicht nur durch Straßen, sondern auch quer durch Kaufhäuser, passten brav auf sie auf beim Essen im Restaurant und einige spielten am Ende Polit-Galgenraten mit AktivistInnen und Kreide in der FußgängerInnenzone. Es könnte auch an den Kreidesprüchen gelegen haben, die die BeamtInnen dokumentieren sollten, da ihre Vorgesetzten hinter jedem Spruch eine Beleidigung befürchten (siehe auch Fuck the Police-Urteil), dass die PolizistInnen stundenlang einzelne AktivistInnen durch die Stadt begleiteten.