2016-01:Mit Taser und Tränengas für das finnisch-russische AKW

Aus grünes blatt
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Pyhäjoki/Nordfinnland:

Mit Taser & Tränengas für das finnisch-russische AKW

fb Seit 2015 haben Aktivist*innen aus dem Nuclear Heritage Network den Widerstand gegen ein geplantes AKW auf der Hanhikivi-Halbinsel in Nordfinnland begleitet, sich mit lokalen Initiativen vernetzt, an Projekten vor Ort teilgenommen und Informationsarbeit geleistet. Finnische Aktivist*innen hatten für Mitte April bis Anfang Mai zu einer erneuten Baustellenbesetzung des geplanten AKW-Geländes aufgerufen. Die Protestaktionen waren bunt, das Wetter kalt und nass, und die Reaktionen von Sicherheitskräften gewalttätig.

Im Norden Finnlands, in der Gemeinde Pyhäjoki nahe der Großstadt Oulu, ist ein finnisch-russisches Jointventure dabei, den dritten AKW-Standort des Landes zu errichten. "Fennovoima" - Skandinavische Energie - ist der Name des Atomunternehmens, das vor etwa zehn Jahren auf Initiative des deutschen Atomkonzerns E.ON gegründet wurde, nachdem dieser bei mehreren Anläufen, ein eigenes Atomkraftwerk in Finnland zu errichten, an lokalem Widerstand gescheitert war. E.ON hatte ein Drittel der Anteile des Unternehmens inne, die anderen zwei Drittel hält das Konsortium "Voimaosakeyhtiö SF", das sich aus mehreren Dutzend kleineren und mittleren finnischen Unternehmen, darunter viele kommunale Firmen, zusammensetzt. Als E.ON 2012 ankündigte, aus Fennovoima auszusteigen, schien dies der letzte Nagel für den Sarg des AKW-Projekts zu sein. Auch eine größere Zahl finnischer Unternehmen gab seine Beteiligung auf; neue Investoren waren kaum zu finden.

Dann tauchte der russische Staatskonzern Rosatom, hervorgegangen aus dem Atomministerium Russlands, auf und erklärte sich bereit, Fennovoima zu retten. Am 27. März 2014 schließlich wurde die Übernahme der E.ON-Anteile durch das Rosatom-Subunternehmen "RAOS Voima Oy" bekannt gegeben. Über die Vertragsbedingungen der Übernahme wurde Stillschweigen vereinbart, die näheren Umstände, Kaufpreis und Nebenbedingungen sind daher unbekannt. Während auf die meisten international agierenden Konzerne oft recht effektiv öffentlicher Druck ausgeübt werden kann, was auch E.ON zur Projektaufgabe bewegt hatte, arbeitet Rosatom weniger profitorientiert, sondern agiert ganz offen im Sinne geostrategischer Interessen der Russischen Föderation.

Ganz freiwillig scheint die Zustimmung zur Beteiligung Russlands an diesem angeblich finnischen Atomprojekt nicht gewesen zu sein. In breiten Teilen der finnischen Bevölkerung und Politik gibt es Vorurteile und Ängste gegenüber dem riesigen Nachbarstaat, der in der Vergangenheit, abwechselnd mit Schweden, immer wieder das Land unterjocht hatte - zuletzt im "Winterkrieg", in dem nach großen Verlusten auf finnischer Seite die russischen Truppen zurückgedrängt worden waren, aber größere Teile Kareliens im Osten Finnlands an Russland abgetreten werden mussten. Trotz der allgegenwärtigen Befindlichkeiten gegenüber dem russischen Nachbarn und trotz einer Vielzahl grundlegender Hindernisse wie der wesentlichen Veränderung des Investors, des Finanzierungskonzepts, des Reaktordesigns etc. erhielt das AKW-Projekt nach der russischen Übernahme die nötigen Zustimmungen. - Und zwar, nachdem in einem Muskelspiel zuerst angekündigt wurde dem finnischen Atomkonzern Fortum die Kontrolle über seine russischen Investitionen zu entziehen, sollten die Genehmigungen nicht erteilt werden, und nachdem von mindestens zwei russischen Regierungsvertetern einmal eher vage und einmal klarer angedeutet wurde, dass ein ablehnendes finnisches Verhalten als Aggression gewertet und gewaltsam beantwortet werden könnte. Diese mehr oder weniger offensichtliche Kriegsdrohung im Nachspiel der Krimannektion wurde durch einen prominenten finnischen Journalisten dokumentiert und öffentlich gemacht. Was auch immer davon zu halten ist, offenkundig ist, dass innerhalb der finnischen Bevölkerung und auch unter linken Aktivist*innen eine gewisse Angst vor einer erneuten Annektion finnischer Gebiete durch russisches Militär vorliegt. Dieser Aspekt ist neu für die Auseinandersetzung mit Atomkraft in Finnland und erschwert es, erfolgversprechenden Widerstand zu organisieren.

In diesem Kontext sind auch die polizeilichen Aggressionen gegen das Aktionscamp in Pyhäjoki Ende April zu betrachten. Unter dem Motto "Reclaim The Cape" - Wiederbesetzung der AKW-Baustelle ein Jahr nachdem das Protestcamp, damals noch im intakten Wald/Feuchtgebiet, gewaltsam geräumt wurde und nach nationalem sowie internationalem Recht geschützte Naturschutzgebiete einen auf juristisch fragwürdiger Basis vorgenommenen Kahlschlag erlitten, sollten die Bauarbeiten behindert oder verhindert werden. Der Sommer 2016 ist erneut ein wichtiger Meilenstein für die Genehmigungslage des Atomkraftwerks, weil zu bestimmten Stichtagen Fortschritte im Genehmigungsverfahren und Bauvorhaben zu erbringen sind, um bisherige Genehmigungen nicht zu verlieren. Das war der Hintergrund für den relativ frühen Camptermin zu einem dort noch winterlichen Zeitpunkt.

Vor dem offiziellen Campbeginn am 22. April hatte bereits eine Reihe von Aktionen zur Behinderung der Bauarbeiten, die mangels Baugenehmigung als "vorbereitende Arbeiten" deklariert werden, stattgefunden - u.a. Lock-on-Aktionen und Barrikaden auf der AKW-Baustellen-Zufahrtsstraße sowie Sabotageakte an Maschinen und Baggern, die an der Zerstörung der Hanhikivi-Halbinsel beteiligt waren. Für finnische Verhältnisse ist das eine neue Widerstandskultur, mindestens in dieser Region und in diesem Themenfeld. Erfreulicherweise stießen beispielsweise die Straßenblockaden auf positives Feedback bei Teilen der örtlichen Anwohner*innen, die sich glücklich zeigten, dass der frühmorgens beginnende Lärm durch Baumaschinen und LKW-Zubringerverkehr zur Baustelle zeitweise abgestellt wurde.

Unfähig mit diesen ungewohnten Aktionsformen umzugehen, setzte die örtliche Polizei frühzeitig unverhältnismäßige Gewalt gegen die Aktivist*innen ein: Um einen mit einem U-förmigen Fahrradschloss angeketteten Aktivisten zur Kooperation zu nötigen, wurde dieser in wehrloser Situation mit einem Taser bedroht und dann mehrfach mit verstärkten Stromstößen gequält, um seinen Willen zu brechen - ziemlich klar Folter und mit nichts zu rechtfertigen. Ein oder zwei Tage später sahen sich zwei überforderte Polizisten einer Gruppe von etwa 16 Aktivist*innen gegenüber, die gerade mit Beton gefüllte Fässer von einem Fahrzeug auf die Straße stellten, um dort eine weitere Ankettaktion zu unternehmen. Statt diese weitere erfolgreiche Blockade in Kauf zu nehmen, Verstärkung anzufordern und mit einigen Stunden Verzögerung letztlich mit verhältnismäßigen Mitteln die Straße zu räumen, sparten sich die Polizist*innen die Zeit und setzten unverzüglich Tränengas aus unmittelbarer Nähe gegen die überraschten Menschen ein. Als einige sich zu wehren versuchen, greift einer der Beamten zur Schusswaffe.

Trotz dieser in Hinblick auf die Polizei, aber auch bezüglich der Vielzahl von Fennovoima-Rosatom angeheuerten privaten Sicherheitskräften, bedrohlichen Lage setzten sich die Aktionen fort. Regelmäßig tauchten randalierende kleinere Polizeitrupps am Campgelände auf, richteten einige Zerstörungen an, aber zogen sich sofort zurück, wenn resolut auftretende Campteilnehmer*innen erschienen und dringlich zu verschwinden forderten. Um derartige überraschende Polizeieinsätze zu verhindern, entstanden verschiedene Blockaden auf der Zufahrtsstraße zum Camp, einschließlich eines Tripods, auf dem sich Aktivist*innen anketten und somit die Räumung erschweren könnten.

Am Tschernobyltag, dem 26. April, fand eine (für finnische Verhältnisse) "größere" Aktion zivilen Ungehorsams auf der Zufahrtsstraße zum künftigen AKW-Gelände direkt am Zaun statt: Clowns irritierten und deeskalierten die inzwischen aus Oulu angereisten Riot-Cops, so dass die anderen Teilnehmer*innen eine Sitzblockade errichten konnten. Trotz Regenwetter, kalten Windes und Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt harrten die Menschen dort für mehrere Stunden aus - und wurden fast alle von der Polizei in Gewahrsam genommen und damit für mindestens einen Tag aus dem Verkehr gezogen. Gleichzeitig mit dieser "Massenaktion" gab es mehrere Barrikaden in anderen Bereichen der Zufahrtsstraße (nur vom Baustellenverkehr benutzt) sowie mehrere Aktionen auf dem Baustellengelände einschließlich Maschinenbesetzung und (versuchter?/erfolgreicher?) Sabotage an einzelnen Geräten.

Nachdem die Polizei mit den Sitzblockierer*innen etwa die Hälfte der Aktivist*innen weggesperrt hatte, begaben sich die nunmehr arbeitslosen Riot-Cops wieder einmal zum Camp und randalierten wahl- und konzeptlos an den Barrikaden, kippten den unbesetzten Tripod um und schmissen Betonfässer für Ankettaktionen in Wassergräben. Sonderlich zielorientiert schien dieser Polizeieinsatz nicht zu sein, denn keine einzige Barrikade wurde konsequent geräumt. Vielmehr verschwanden die Polizisten sofort wieder, als ein paar Campteilnehmer*innen auftauchten - trotz inzwischen angefahrener Verstärkung mit noch einmal mindestens genauso vielen Beamten.

Zwei Tage später gab es wieder eine Lock-on-Aktion auf der Zufahrtsstraße von teils inzwischen aus dem Gewahrsam wieder entlassenen Aktivist*innen, die sich in Rohren aneinandergekettet auf die Privatzufahrt gelegt hatten. Recht schnell verließ die Polizei die Motivation die Menschen vorsichtig zu behandeln, sondern setzte wieder einige Brutalität ein, um das Prozedere zu beschleunigen. Zumindest ein Teil der Aktivist*innen wurde in Gewahrsam genommen, eine Person wurde so erheblich verletzt, dass sie mehrere Tage im Krankenhaus lag - mit Nasenbruch und zweifachem Handbruch, wie von Freunden berichtet wurde. Am Nachmittag desselben Tages erschien etwa eine halbe Hundertschaft Spezialkräfte der Polizei am Camp, schoss unmittelbar mit Gummigeschossen auf Campbewohner*innen, die zunächst mit der Polizei zu kommunizieren versuchten und sich dann unter Gegenwehr nach und nach in den Wald zurückzogen. Nachdem die Polizei das Camp besetzt hatte, schossen sie als nächstes mit ihren Projektilen auf die noch anwesenden Menschen des Küchenkollektivs und zerstörten dann einen Großteil der Campinfrastruktur. Später würden Bilder des zerstörten und gewaltsam geräumten Camps von AKW-Befürworter*innen gezielt in Umlauf gebracht werden, um zu behaupten "die Umweltschützer*innen" hätten den Wald verwahrlost...

Nachdem das Aktionscamp zerstört wurde, begaben sich die Riot-Cops zum Basiscamp, das näher am Ortsrand von Pyhäjoki lag und seit Monaten der Ausgangsort von Protesten war. Auch hier wurden die Bewohner*innen mit Gewalt vertrieben und nahezu die ganze Infrastruktur zerstört. Beide Camps waren mit Genehmigung der Landeigentümer*innen errichtet worden, es gab keine Rechtsgrundlage für eine Räumung oder gar Zerstörung von Zelten, Einrichtungsgegenständen oder persönlichen Utensilien von Bewohner*innen. Stattdessen wurde mit einem unspezifizierten Verweis auf das Polizeirecht die "Evakuierung" angeordnet und mit gewaltsamer Durchsetzung sowie Verhaftung bei Zuwiderhandeln gedroht. Etwa ein Dutzend internationale Aktivist*innen wurde nach Ingewahrsamnahmen bei Sitzblockaden und ähnlichem weiter festgehalten und jetzt mit an den Haaren herbeigezogenen und unbelegbaren Vorwürfen schwerer Straftaten konfrontiert. - Sie sollen abgeschoben werden und zum Teil mehrjährige Einreiseverbote nach Finnland erhalten. Mindestens ein Teil von ihnen wurde als "Gefahr für die finnische Gesellschaft" bezeichnet. Auf diese Weise sollen wohl die von unterschiedlichen Aktionserfahrungen aus diversen Ländern der Welt profitierenden Proteste isoliert und der Widerstand gegen das AKW-Projekt in Pyhäjoki geschwächt werden.

Inzwischen wurde ein drittes Camp errichtet, um dem Widerstand in Pyhäjoki eine neue Basis zu geben. Aber einige Aktivist*innen wurden zum Zeitpunkt des Layouts dieses Heftes noch immer nicht frei gelassen. Und außerdem ist jetzt vieles schwieriger. Die lokale Bevölkerung wurde durch die Polizeieinsätze in Kombination mit der Hetze in einigen Massenmedien stark verunsichert. Noch während des Aktionscamps zogen einige Biounternehmen ihre Unterstützung für den Protest öffentlich zurück, mehrere von Anwohner*innen bereitgestellte Ferienhäuschen, derer es auf der Halbinsel in Hunderten gibt, mussten wieder verlassen werden, was u.a. die Pressegruppe des Camps, die dort mit Stromversorgung und Heizung ausgerüstet war, in einige Bedrängnis gebracht hat.

Jede Art von Solidarität ist jetzt wichtig! - Direkte Aktionen vor finnischen Botschaften und beteiligten Unternehmen, Solidaritätserklärungen, Berichterstattung in allen möglichen Medien...

Mehr Informationen gibt es in englischer Sprache auf der Internetseite des Nuclear Heritage Networks: http://nuclear-heritage.net