2012-01:Rechthaben

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Kommentar:

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Warum wir immer Recht haben und die anderen doof sind

Kollektive und Konkurrenzkämpfe auf dem Theoriemarkt

1. Zustandsbeschreibung

Manchmal denke ich, wenn ich Artikel in dieser oder anderen Politzeitungen, Demoflyer oder ähnliches lese, jemensch will mir ein Produkt verkaufen: Hier nehmen sie meine Theorie, garantiert die beste und alle anderen sind doof. Battelrap. Wie kommt das, was ist da los, dass scheinbar alle, die anfangen einen Text zu schreiben, mit dem was sie schreiben Recht haben wollen, die eigene Theorieschleife im Endlosloop loben und alle, die diese nicht drauf haben oder was anderes sagen mehr oder weniger kreativ dissen? Es sieht so aus, als habe das System, in dem Menschen gegen Menschen wirtschaftlich konkurrieren, auch die linke Theoriebildung gefressen: auch diese ist marktförmig, nur wenige Theorieansätze können sich behaupten und müssen sich bis zum Erbrechen von den anderen abgrenzen und für exklusiv ausgeben.

2. Recht haben und herrschen

Wer meint Recht zu haben, meint, die Wahrheit zu kennen. Die Wahrheit ist ein unrühmliches Konstrukt. Wahrheit wurde und wird erfunden, um andere Menschen dazu zu bringen, für einen zu arbeiten.[1] Sie ist etwas höheres, etwas besonderes, etwas, um das großes Brimborium gemacht wird, etwas, dass nicht jede_r haben kann. Wenn ein Mensch gegenüber anderen vorgibt, – im Gegensatz zu ihnen – im Besitz der Wahrheit zu sein, umgibt er sich mit einem ominösen Zauber. Je mehr Menschen er[2] mit diesem Zauber in den Bann zieht, desto mehr Vorteile ergeben sich für ihn. Wird ein Mensch von einer Gruppe[3] dafür angehimmelt, im Besitz der Wahrheit zu sein, hat er sich an die Spitze der Hierarchie bugsiert und kann sich den Zugriff auf große Teile des von der Gruppe erwirtschafteten Wohlstands sichern. Historisch betrachtet handelte es sich dabei meist um religiöse Wahrheiten, die Mechanismen für „politische Wahrheiten“ sind jedoch die Selben, auch in der herrschaftskritischen Szene. Wahrheit hat immer etwas Religiöses, auch wenn sie politische Notwendigkeit genannt wird. Ob der Initiator dieser Wahrheiten selbst im Glauben an diese gefangen ist oder sich seines egoistisch strategischen Handelns bewusst ist, ändert wenig an der Wirkung auf die Gruppe: sie ist unterworfen und kann gelenkt und ausgebeutet werden.

3. Die komplexen Dinge und die einfachen Wahrheiten

Natürlich gibt es Dinge, die „wahr“ sind, einfache Informationen. An meinem Schuh ist eine Naht aufgegangen. Das können alle sehen, fühlen und es ist tatsächlich so. Eine Wahrheit beschreibt jedoch nicht so einen banalen Sachverhalt, sondern eine komplexe Situation, die sich aus unendlich vielen kleinen Informationen zusammensetzt. Aus diesen unendlich vielen Informationen lassen sich unendlich viele Wahrheiten destillieren. Die Informationen werden ausgewählt, gewichtet und in einen Zusammenhang gestellt.[4] So entsteht eine subjektive Wahrheit, ein eigenes Weltbild. Es ist ungemein spannend und vielleicht sogar das schönste am menschlichen Leben, mit diesen subjektiven Weltbildern zu spielen, die von anderen aufzunehmen und das eigene mitzuteilen, sie sich vermischen und neu ordnen zu lassen; durch Kommunikation, die beide Richtungen erlaubt: zuhörend und nachfragend neue Dinge zu erfahren und eigene Gedanken weiterzugeben und konzentriert zu erklären. Alle jedoch auf eine Wahrheit gleichschalten zu wollen, ist faschistoid.


Fußnoten:

  1. Diese These ist gewagt und lädt dazu ein, ihre Widerlegung zu spielen. Viel Spaß damit!
  2. Die männliche Form bezieht sich hier auf einen Menschen. Der Mensch wird in diesem Abschnitt durchgehend mit männlichem Artikel geführt, die Wahrheit mit weiblichem.
  3. In unserer patriarchalen Gesellschaft spielen sich meist Männer als Rechthaber auf. Gelingt es ihnen nicht, von einer Gruppe als Hüter der Wahrheit anerkannt zu werden, reicht es ihnen sich vor einem einzelnen Menschen, oft ihrem Partner/ihrer Partnerin als solcher zu profilieren.
  4. Die komplexen Entstehungsprozesse von Wahrheiten, die oft von Institutionen gesteuert werden, um ihre Machtposition zu sichern, werden z.B. in der von Michel Foucault geprägten Diskursanalyse untersucht. Welche Institutionen das eigene Weltbild geprägt haben und wessen Interessen wir also mit 'unserer Wahrheit' vertreten, sind wichtige Fragen, die wir uns (alleine oder im Dialog) stellen sollten, bevor wir missionieren gehen.