2009-02:Willkommen in Deutschland

Aus grünes blatt
Zur Navigation springenZur Suche springen

Willkommen in Deutschland

prima Ich sitze in der Straßenbahn und lese, bis mich die üblich gewordene Angst überläuft: Das Buch ist auf Russisch. Russische Bücher in der Straßenbahn bringen ziemlich viel Stress mit sich. "Warum vergesse ich das bloß so oft, warum kann ich mir so einfache Dinge nicht merken", verfluche ich mich innerlich. Glücklicherweise hat das Buch wohl niemand gesehen, und ich muss bald aussteigen.

Im August 2006 stehe ich mitten in einer westsibirischen Metropole, in einem Hinterhof, der sich durch nichts von anderen gewöhnlichen russischen Höfen unterscheidet, außer der einen Kleinigkeit: Dieser eine ist nun mal der Hinterhof des deutschen Konsulat, und direkt vor mir (um es genauer zu sagen, direkt vor der Schlange, an deren Ende ich mich befinde) ist der Eingang der Visaabteilung. Ich habe Glück, dass es August ist und nicht Februar, wo das stundenlange Warten draußen, bei zehn bis vierzig Grad unter Null, ganz andere Konsequenzen hätte als einen leichten Husten. Dass ich eine Bekannte in der Stadt habe und bei ihr schlafen durfte – so früh wie man hier erscheinen soll, müsste ich sonst die Nacht am Bahnhof verbringen. Als ich endlich drin bin, sehe ich noch eine Schlange. Wir sollen uns in eine Reihe stellen und dem Nächsten genau in den Nacken sehen. Man darf nichts außer Dokumente, Geldscheine und ein Taschentuch mit sich bringen. Eine Frau wird von der Wächterin angeschrien, weil sie eine leere Joghurtverpackung bei sich hat. Sie hatte keine Mülltonne gefunden, in Russland lassen sich Mülltonnen manchmal eben lange suchen. Ich darf mich nicht ohne die Erlaubnis der Sicherheitsleute setzen. Als ich mich setzen darf, darf ich nicht mehr aufstehen, bis ich dran bin. Die junge Frau hinter dem Glas fragt mich, wieso ich nach Deutschland fahren möchte, und warum ich dort fünf Monate lang bleiben möchte, obwohl die Vorlesungen nur vier Monate laufen, und ob ich überhaupt Deutsch spreche; sie behauptet, die Summe auf dem vorgelegten Kontoauszug reiche für meinen Aufenthalt nicht aus, obwohl meine Mutter, die dafür auch noch einen Kredit nehmen musste, alles genau ausgerechnet hatte. Ich fühle mich wie eine Bettlerin, bis der Vizekonsul höchstpersönlich meine Unterlagen annimmt und sagt, sie seien in Ordnung. Ich soll in einem Monat anrufen und fragen, ob mein Visum fertig ist.

Nach dem 1992 in Maastricht unterzeichneten Vertrag über die Europäische Union sollten sich die Mitgliedstaaten auf eine Liste von Ländern einigen, deren Staatsangehörige für die Einreise in die EU ein Visum benötigen. Diese Liste ist daraufhin in Form einer Verordnung des Rates der Europäischen Union, der aus den Innenministern der beteiligten Staaten besteht, erlassen worden. Auf dieser Liste steht kein einziger reicher Industrie- und Wohlfahrtstaat. Ich erfahre das erst in zwei Jahren.

Im September 2006 rufe ich beim Konsulat an und werde zunächst ausgeschimpft, ich dürfe da gar nicht anrufen. Ich bekomme letztendlich dennoch ein Schengen-Visum für drei Monate, das ich später bei der Ausländerbehörde in Deutschland verlängert bekommen soll. Im November 2006 bekomme ich meine erste Aufenthaltsgenehmigung in Form eines Aufklebers in meinem Reisepass, auf dem neben einem grauenhaft aussehenden biometrischen Foto von mir Informationen stehen. Zum Beispiel, dass ich nicht mehr als 90 Tage im Jahr arbeiten darf, und dass mein Aufenthalt erlischt, sobald ich öffentliche Mittel beantrage.

Wenn jemand meinen Pass sehen will, bin ich meistens immer noch so naiv, ihn auf der letzten Seite geöffnet vorzulegen, - auf der Seite, wo meine Daten stehen. Die Person blättert meistens zurück, in die Mitte. Bis zu der Seite mit der Aufenthaltserlaubnis. Es scheint sie nicht zu interessieren, wer ich eigentlich bin, Hauptsache, ich darf hier sein.

Nach der Entschließung des Rates der Europäischen Union vom 30. November 1994 gehört der Nachweis der ausreichenden Finanzmittel zu den Voraussetzungen für die Zulassung eines „Drittausländers“ zu einem Studium innerhalb der EU. Der Lebensunterhalt darf nicht im Aufnahmeland verdient werden, Erwerbstätigkeit in der Zeit des Studiums ist ausgeschlossen. So sollte garantiert werden, dass ausländische Studierende nach Abschluss in ihre Heimatländer zurückkehren. Aber auch das erfahre ich erst in zwei Jahren.

Die „ausreichenden Finanzmittel“ betragen in Deutschland zur Zeit meiner Einreise 585 Euro monatlich. Den beglaubigten Kontoauszug und die Erklärung meiner Mutter, die bestätigen, dass ich über diese Mittel verfüge, muss ich im November 2006 der Ausländerbehörde vorlegen. Normalerweise muss man dies für ein Jahr im Voraus nachweisen, zum Glück möchte ich aber nur für fünf Monate hier bleiben und bekomme auch ein Stipendium von der Hochschule. Das Stipendium beträgt 250 Euro. Bei der Vorbesprechung im Zentrum für Auslandsbeziehungen der Hochschule erklärt uns die Chefin, es werde nicht gern gesehen, wenn die Austauschstudenten hier arbeiten, sie sollen sich schließlich auf ihr Studium konzentrieren. Gleich daraufhin soll ich einen Vertrag unterschreiben, nach dem ich mich verpflichte, vier Stunden wöchentlich im Zentrum zu arbeiten. Ich darf die Arbeit ja ablehnen, aber wenn ich den Vertrag nicht unterschreibe, bekomme ich das Stipendium nicht und kann hier folglich nicht überleben. Außerdem verpflichte ich mich, zwei Berichte über mein Auslandssemester zu schreiben. Der Zwischenbericht gefällt den Vorgesetzten so gut, dass sie ihn in der Hochschulzeitschrift veröffentlichen, nicht aber ohne die Kritik an der Hochschule unter dem Vorwand der notwendigen Kürzung daraus zu entfernen.

Trotz der vielfältigen Maßnahmen, die auf den bundesdeutschen und europäischen Ebenen ergriffen wurden, um den Nachzug der Familienangehörigen in die EU-Staaten zu erschweren, bleiben die Ehepartner zunächst verschont. Personen, die mit einem Angehörigen eines EU-Staates verheiratet sind, genießen einen weitgehend sichereren Rechtsstatus gegenüber anderen „Drittstaatenangehörigen“ und sollen, abgesehen von dem Wahlrecht, gleichberechtigt mit den Inländern sein. Ich erfahre das erst in drei Monaten, nachdem ich das Angebot meines, zugegeben, frisch gebackenen Freundes annehme. Er sagt, er würde mich heiraten, damit ich hier bleiben darf.

Ich sitze in der Straßenbahn und lese einen russischen Roman. Neben mir sitzt ein Junge mit blonden Locken. Später werde ich ihn oft auf dem Universitätsgelände sehen, er wird mich zum Glück nicht erkennen. Nun meldet er sich plötzlich: „Entschuldigung?“ Ich blicke auf, nicht gerade glücklich darüber, von dem spannenden Buch abgelenkt zu werden. Er spricht langsam und laut: „Kommst… du… aus… Osteuropa?“ Oh nein, der glaubt doch nicht ernsthaft, ich kann kein Deutsch, denke ich mir, und antworte rasch, um die Erwartung zu enttäuschen: „Ja-na-und?“ „Ach nichts, ist nur wegen der Schrift“, er zeigt auf das Buch; ich kann da nur seufzen und versuchen weiter zu lesen, denn ich kenne inzwischen mindestens zwanzig Menschen, die ein russisches Buch lesen könnten, ohne aus „Osteuropa“ zu kommen. Er sagt betont nachdenklich: „Hm, interessante Region… Ein bisschen viel Kriminalität, ein wenig arm, aber sonst…“ Ich kann es kaum fassen, dass ich hier plötzlich repräsentativ für ganz Osteuropa sprechen muss, und dass mir jemand dazu noch so besserwisserisch erklärt, wie es dort wohl aussehen soll, versuche mich aber zurückzuhalten: „Ja, kann man wohl auch so sagen“, und versuche mich auf das Buch zu konzentrieren. Dies klappt für höchstens zwei Minuten. „Ähm, Entschuldigung, wie ist es da so?“ Ich antworte mit schwindender Selbstbeherrschung: „Was meinst du denn damit?“ „Ich meine, ist es dort besser oder schlechter als hier?“ Da halte ich es nicht mehr aus. „Hör mal, was heißt das – besser oder schlechter? Kannst du dich nicht mal konkreter ausdrücken? Was willst du denn so genau wissen? Alltag? Politik? Gesellschaftsverhältnisse? Darüber könnte ich vielleicht mal was erzählen, aber ein Besser oder Schlechter gibt es nicht.“ Der Junge wirkt ziemlich verlegen, und es tut mir fast leid, ihn mit meinen Binsenwahrheiten zu verunsichern, aber ich muss sowieso gleich aussteigen.

Im März 2007 glaubt die Standesbeamtin nicht, dass meine Geburtsurkunde echt ist, weil ich sie mit einer falschen Apostille aus Russland mitgebracht hatte. Eine neue Russlandreise kommt für mich finanziell nicht in Frage, zumal ich es auch reichlich lächerlich finde, dass jemand einen Nachweis dafür braucht, dass ich geboren wurde. Ich soll eine eidesstattliche Erklärung abgeben, dass ich keine neue Geburtsurkunde mit Apostille besorgen kann, die dann mit den restlichen Unterlagen zum Gericht geschickt wird. Letztendlich wird mir die Heirat erlaubt.

Ich lehne mich aus dem Fenster und sehe ein Kind auf der Straße. Es singt: „Moskau, Moskau, Russland ist ein schönes Land, stell' die Russen an die Wand…“ Meine bei den meisten anderen Themen so respekt- und anspruchsvolle Lieblingszeitung betitelt ihre Artikel regelmäßig mit Sprüchen wie „Die Russen kommen“. Was soll man dann schon von einem Kind in einem mitteldeutschen Armenviertel erwarten?

Im Mai 2007 ist es soweit. Ich heirate in einem Herrenanzug, mein Freund in einem Kleid, und bei unserem Anblick kann sich die Standesbeamtin nicht auf den Beinen halten vor Lachen. Wir machen kein Geheimnis aus dem halb erzwungenen Charakter dieser Hochzeit, zumal wir auch rechtlich auf der sicheren Seite sind. Abgesehen von den wenigen Bekannten, ist aber niemand bereit, unseren Standpunkt zu akzeptieren. Das deprimiert mich. Ich versuche innerlich, mich darauf einzustellen, Migrantin genannt zu werden. Das Wort fühlt sich falsch an, wie ein zu enges Kleidungsstück. „Ehefrau“ wirkt allerdings auch nicht besser, also lasse ich diese Bezeichnungen lieber. Mein Freund bleibt mein Freund, „Ehemann“ heißt er nur für Behörden. Was langfristig für noch mehr Verwirrung sorgt.

Ich sitze in einem Café mit einigen Kommilitoninnen. Als es im Laufe des Gesprächs darauf kommt, dass ich verheiratet bin, folgen ein hysterisches Kichern und ein Ausruf: „Aber du siehst gar nicht so aus!“ Ich wundere mich innerlich, wie man bitte schön aussehen soll, um verheiratet zu wirken.

Nach dem monatelangen verzweifelten Sinnieren, was ich nun mit meinem Leben anstellen soll, wage ich einen Neuanfang. Ich suche mir ein neues Studium aus und werde auch genommen, da „Ausländer“ bei dem Studiengang ausnahmsweise bevorzugt werden. Im Oktober 2007 geht es los, ich bin eine stolze Erstsemestlerin an der Universität.

In einem halben Jahr wird ein Kommilitone sagen, er würde an meiner Stelle zurück nach Russland gehen. Ich sollte schließlich dem Staat dankbar sein, der mir die Möglichkeit gegeben hat, in die Schule zu gehen, und nun wäre es an der Zeit, dies zurückzuzahlen.

Trotz des interkulturellen Anspruchs des Studienganges ist das ganze Programm auf Menschen mit deutschem Schulabschluss zugeschnitten. Ich laufe von einer „verantwortlichen“ Person zu der anderen und zurück, aber niemand kann mir erklären, wie ich diesen Erwartungen gerecht werde. Auf die neuen Kommilitonen wirke ich anscheinend wie eine Vogelscheuche. „Wie, du kommst aus Sibirien? Sibirien assoziiere ich mit Trostlosigkeit! Wie sieht es da aus, ist es schön oder schrecklich?“ Den Rest erledigt meine finanzielle Lage, die wohl anders als „katastrophal“ nicht zu beschreiben wäre. Mein Freund schafft es nicht, uns beide zu versorgen. Ich habe zwar einen Anspruch auf Förderung nach BAföG, aber die Sachbearbeiterinnen lassen sich wohl reichlich Zeit mit meinem Antrag. Mein Lebenslauf passt nicht in ihr Schema und ich muss jede Einzelheit erklären. Meine Mutter kann ihre Formulare nicht ausfüllen, weil sie kein Wort Deutsch versteht, nicht einmal ihre Postleitzahl passt in die dafür vorgegeben Zeile. Ich freue mich schon, dass man wenigstens nicht nach der Sterbeurkunde von meinem Vater verlangt. „Aber es ist doch besser so", sagt dazu eine Kommilitonin. "Wieso sollen die Deutschen für fremde Kinder Steuern zahlen?“

Nach fünf Monaten Bearbeitungszeit erhalte ich einen Bescheid, wo mein neues Studium als Studiengangwechsel eingestuft wird. Ein Teil meiner Studienzeit in Russland und das Auslandssemester in Deutschland werden als „verbrauchte Semester“ angerechnet, weswegen ich in der zweiten Hälfte meines Studiums nur ein Bankdarlehen bekommen werde. Ich bin damit nicht einverstanden, weil ich mein altes Studium aus von mir unabhängigen Gründen nicht abschließen konnte und das neue folglich nicht als einen Wechsel sehe. Ich habe ein Recht auf Widerspruch. Nur bin ich nach all der Zeit bereit, alles zu unterschreiben, wenn sie mir endlich Geld geben.

In zwei Jahren werde ich unter Tränen überlegen, wie hoch wohl meine Schulden nach diesem Studium sein werden und ob ich jemals ein Leben ohne Angst haben werde.

Auf der Geburtstagsfeier einer Bekannten erzählen wir, dass wir geheiratet haben, damit ich hier bleiben darf. Die erste Frage, die danach kommt, ist mir nicht neu: „Aber ihr seid schon ein richtiges Paar?“ Mir fällt zum ersten Mal auf: und was wäre ein falsches? Wie definiert man ein „richtiges“ Paar? Ich frage mich, wer es gewagt hätte, eine deutsche Person zu fragen, mit wem sie schläft.

Nach dem vom Flüchtlingsrat organisierten Vortrag über die europäische Asylpolitik meldet sich ein Mann, der stolz mitteilt, dass er immer „Ausländer“ in der Straßenbahn anspricht und fragt, wo sie herkommen und was sie hier machen. Auf die Rückfrage, wie er wissen kann, dass jemand nicht aus Deutschland kommt, sagt er, er spreche ja nur „sichtbare Ausländer“ an. Die Frage, was einen „sichtbaren Ausländer“ ausmacht, schwebt in der Luft, ohne ausgesprochen zu werden. Bin ich sichtbar? Würde ich mich hier sicher fühlen, wenn jede unbekannte Person sich berechtigt fühlt, mich nach den Gründen meines Aufenthalts hier zu fragen? Die Frage ist rhetorisch. Ich muss hier ohnehin meinen halben Lebenslauf parat halten für die eventuelle unschuldig-dominante Neugierde meiner Mitmenschen. Ich muss schon längst alles rechtfertigen, was bei einem „Deutschen“ selbstverständlich erscheint.

Laut „Rahmenordnung über Deutsche Sprachprüfungen für das Studium an deutschen Hochschulen“ der Hochschulrektorenkonferenz vom 25.06.2004 wird von Personen, die ihre Studienqualifikation nicht an einer deutschsprachigen Einrichtung erworben haben, ein Nachweis über deutsche Sprachkenntnisse verlangt, die zum Studium an einer deutschen Hochschule befähigen. Die Studienordnung meines Studienganges lässt mir dafür ein Jahr Zeit.

Nach dem zweiten Semester fällt mir langsam auf, dass die meisten Dozenten automatisch davon ausgehen, dass nur „Deutsche“ im Raum sitzen. Es wird dauernd von „unseren Vorfahren“ geredet, bei den Entwicklungen der deutschen Gesellschaft wird vorgeschlagen, wir sollen doch einfach unsere Eltern fragen. Außerhalb der Universität sieht es durchaus ähnlich aus. Bei dem ersten Treffen der örtlichen „Save me“-Initiative lässt keiner der Anwesenden auch nur die Möglichkeit zu, dass jemand im Raum nicht aus Deutschland kommt, was bei einer Flüchtlingsschutzkampagne recht verwunderlich erscheint. Ich gehe enttäuscht nach Hause und komme nicht wieder. Während der Massenmediendiskurs sich aus dem negativ besetzten Bild der „Ausländer“ speist, wo sie als unterentwickelte, minderwertige und womöglich kriminelle Menschenmenge dastehen, die es dringend zu „integrieren“ gilt, operieren die NGOs und Flüchtlingsinitiativen mit ähnlichen gutgemeint-kolonialistischen Konzepten: „die Ausländer“ als gesichtslose, unmündige Masse, die zwar Schutz und Hilfe bedarf, aber selbst nicht zu Wort kommen soll. Gleichberechtigung wird zum Gnadeakt, Individualität bleibt „Deutschen“ vorbehalten.

Im Juni 2008 sitze ich vor einer Dozentin in der Abteilung Deutsch als Fremdsprache und versuche, mich für die so genannte „Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang ausländischer Studienbewerberinnen und -bewerber“ (DSH) anzumelden. Ich studiere an dieser Universität seit einem Jahr und habe bis jetzt alles bestanden, ich hatte keinerlei sprachliche Probleme, meine Leistungen unterscheiden sich durch nichts von denen deutscher Kommilitonen, aber ohne Nachweis der bestandenen Sprachprüfung glaubt mir dies leider keiner. Die Dozentin scheint auch nicht gerade begeistert zu sein darüber, dass ich die Prüfung machen möchte, ohne vorher den Sprachkurs besucht zu haben. Sie bittet mich, mein Geburtsdatum zu nennen, was ich umgehend tue. Sie schreibt sich das Datum vor meinen Augen auf und verwechselt dabei zwei Zahlen. Ich korrigiere sie, sie wirkt dabei etwas verlegen, mach aber gleich eine gute Miene: „Das ist ja schön, dass Sie so was merken! Ich sehe schon, Sie können lesen! Ob sie auch schreiben können?“ Sie schickt mich in eine vorläufige Prüfung, um zu schauen, ob ich „reif“ für die DSH sei. Ich bestehe diese Prüfung mit 1,0.

Äußerungen wie „Du kannst aber gut Deutsch!“ und Fragen, wo ich denn die Sprache gelernt habe, ziehen immer weiter weg von dem Bereich der Komplimente hin zu dem der Exklusionsmechanismen: Es scheint hier wohl allen ein Wunder zu sein, dass es in anderen Ländern auch Schulen und andere Bildungseinrichtungen gibt, wo man Deutsch lernen kann. Ich lerne diese Sprache seit 15 Jahren. Hat jemand Zweifel daran, dass ein deutscher Teenager Deutsch kann? Sobald ich eine Person kennen lerne, weiß ich, was sie für Fragen im Kopf hat, denn es sind immer die gleichen. Wenn ich sage, dass ich aus Russland komme, fragt man gleich, aus welcher Stadt. Nenne ich die Stadt, kennt sie natürlich niemand, also fragen die Meisten, ob es wohl in der Nähe von Moskau sei. Kann man wohl sagen, antworte ich, so 3500 Kilometer… Soll ich vielleicht eine Weltkarte mit mir herumtragen, damit jedem endlich klar wird, dass Russland das größte Land der Welt ist und dass sich folglich nicht jede russische Stadt „in der Nähe von Moskau“ befindet? Daraufhin folgt normalerweise die Frage, wie lange ich denn schon in Deutschland sei – und warum. Und ob es in Russland kalt ist. Und wie ich dazu komme, nach so kurzer Zeit hier so gut Deutsch zu sprechen. Ich versuche ehrlich, das zu erklären – Russland ist nämlich riesig, falls es jemand noch nicht wusste, und es ist da auch nicht überall kalt, Deutsch kann man auch in Russland lernen, und ich habe viele Sprachcamps besucht und habe auch ein fast vollständiges Dolmetscherstudium hinter mir, bis mir auffällt, dass ich mich die ganze Zeit dafür entschuldige, dass ich so bin wie ich bin. Und dass es eigentlich eine Unverschämtheit ist, von einer unbekannten Person auf Anhieb ihren halben Lebenslauf einzufordern.

Im September 2008 werde ich bei einem Vorbereitungskurs für die DSH eingeschrieben. Es gibt auch die Möglichkeit, die Prüfung ohne den Kurs zu machen, was viel billiger ist. Allerdings wird uns das erst im Kurs mitgeteilt. Die Prüfung sollte ausländische Personen auf ein Studium in Deutschland vorbereiten. Die Grammatikaufgaben sehen dabei wie folgt aus: „Lösen Sie die Nominalkomposita auf!“, „Ersetzen Sie das Passiv durch eine Passiversatzform!“, „Formen Sie das gekennzeichnete erweiterte Partizipialattribut in einen Relativsatz um!“, „Nominalisieren Sie den Nebensatz!“. Ich hatte scheinbar richtig Glück mit meinem fast abgeschlossenen Übersetzer-, Dolmetscher-, und Linguistikstudium, für mich ist es also alles kein Problem. Was ich mich dabei die ganze Zeit frage, ist, inwieweit diese „wissenschaftssprachliche Strukturen“ den stolzen Besitzern eines DSH-Zeugnisses bei der Wohnungssuche oder bei dem Prüfungsamt helfen werden. Nach dem Prüfungsergebnis, das, nach den Worten der Prüferinnen, nicht jeder „Deutsche“ erreichen könnte, bin ich nun frei. In circa sechs Monaten erfahre ich, dass mir die DSH-Ergebnisse nicht angerechnet werden, obwohl meine Abschlussnote zu 15 Prozent von den Sprachprüfungen abhängt. Begründung: Deutsche Sprachprüfung zählt nicht, weil sie als notwendige Studienvoraussetzung gilt. Ich dachte zwischendurch, ich hätte es endlich geschafft, zu beweisen, dass ich nicht schlechter bin als „Deutsche“. Nun dämmert es mir langsam, dass es schlicht unmöglich ist.

Meine ganze Person wird auf meine Herkunft reduziert. Ich habe kein Recht auf Privatsphäre. Einige behaupten fröhlich, ich wäre ja schon „halb Deutsch“, als wäre das etwas Lobenswertes. Ich scheue mich immer mehr, Menschen kennen zu lernen. Ich bekomme Angst, wenn meine Mutter mich anruft, während ich unterwegs bin, weil ich dann in Öffentlichkeit Russisch sprechen muss. Meistens lüge ich einfach und versuche, nicht aufzufallen. Zum Glück ist mein Akzent so schwach, dass die Meisten ihn am Anfang nicht merken. Ich tue so, als wäre ich „deutsch“.

Ich stehe in der Straßenbahn neben zwei Kommilitonen. Einer von ihnen sieht plötzlich eine Bekannte gegenübersitzen und grüßt sie. „Was hast du da?“ – sie zeigt auf das Buch in seiner Hand. Er zeigt die Vorderseite mit dem Titel „Popularkultur in den slawischen Kulturen“. „So was lernst du? Warum machst du das? Kannst du das überhaupt lesen?“ Er erklärt, dass die Texte im Reader alle auf Deutsch sind, aber alle in seinem Kurs eine slawische Sprache lernen, und deswegen sei es sinnvoll, auch etwas über die Kultur der Länder zu erfahren, deren Sprachen man lernt, und manchmal sei es auch recht schön und spannend. Sie rümpft die Nase und antwortet, dass sie das anders sehe und nicht verstehen könne, wie so etwas spannend sein könnte. Slawische Kulturen haben doch nichts. Die Römer waren viel besser, und sie haben sich auch gewaschen. "Ich komme übrigens aus Russland", sage ich ruhig. "Und ich wasche mich sehr wohl." "Ich komme aus Polen", – sagt der andere Kommilitone, und wir steigen aus. Manchmal muss man lange nach Menschen suchen, die das Deutschsein nicht mit dem Menschsein verwechseln. Aber es gibt sie.

Ich bin euer schlimmster Feind. Ich bin irgendwo draußen und warte auf eine Gelegenheit, mich hereinzuschlüpfen. Deshalb bauen eure Regierungen so hohe Mauern, um euch vor mir zu schützen. Bin ich einmal drin, verhalte ich mich nicht wie ein dankbarer Gast, sondern tue so, als wäre ich etwas Besonderes oder sogar ein Individuum mit gleichen Rechten. Dabei wisst ihr doch schon so genau, wie es bei mir zu Hause aussieht. Ihr wisst, dass ich wahrscheinlich schlecht gebildet bin und aus einer armen Familie komme, also bin ich sicherlich auch faul und höchstwahrscheinlich kriminell. Ich bin demokratiefeindlich und asozial, ebenso wie meine Eltern und Großeltern. Ich möchte hier bleiben, um euren schönen Sozialstaat auszunutzen, ich lebe von euren Steuergeldern, ich missbrauche eure Barmherzigkeit und euren Respekt vor Familienbindungen. Ich achte nicht genug auf eure gutbürgerlichen Traditionen, ich untergrabe eure Leitkultur, ich lästere hinter eurem Rücken in Sprachen, die ihr nicht versteht. Ich lerne mit euren Kindern zusammen und flöße ihnen Gedanken ein, die sie gegen eure Lebensweise aufbringen. Ich will euer Geld, eure Freiheit, euer Glück. Könnt ihr mich nicht rausschmeißen, müsst ihr mich umerziehen, so schnell wie möglich. Integriert mich, bevor es zu spät ist!

Es geht auch anders. Ich habe Angst vor Spinnen, obwohl es mir peinlich ist. Als Kind las ich gerne Dumas, als Jugendliche Remarque. Ich habe einen kleinen Bruder, mit dem ich mich nicht allzu gut verstehe. Ich bin sehr musikalisch, aber absolut unsportlich. Ich spiele Badminton, obwohl ich es nicht kann. Ich lerne Spanisch, Französisch und Arabisch. Ich mag nicht früh aufstehen. Ich bin eine überzeugte Vegetarierin und eine nicht überzeugte Raucherin. Ich lese eine deutsche Tageszeitung und eine russische Computerzeitschrift, obwohl ich wenig von Computern verstehe. Ich finde mich häufig zu dick, obwohl ich es, objektiv gesehen, gar nicht bin. Ich bin häufig etwas kindisch. Ich liebe Grapefruitsaft, trinke aber auch ganz gerne Bier. Ich kann die Farbe Rosa nicht leiden. Ich schlucke oft Beleidigungen, um Andere nicht zu beleidigen. Ich bin schüchtern in der Öffentlichkeit, führe aber stundenlang leidenschaftliche Diskussionen mit Freunden. Ich habe als Kleinkind schon gerne über alles gemeckert. Ich hätte so gerne Wahlrecht, weiß aber nicht, wen ich dann wählen würde.

Ihr habt die Wahl.