http://www.gruenes-blatt.de/api.php?action=feedcontributions&user=WikiSysop&feedformat=atomgrünes blatt - Benutzerbeiträge [de]2024-03-28T20:22:06ZBenutzerbeiträgeMediaWiki 1.35.2http://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2009-03:Gentechnik-Neuigkeiten&diff=219662009-03:Gentechnik-Neuigkeiten2023-04-20T20:39:32Z<p>WikiSysop: </p>
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<div>== Ticker Gentechnik & Gentechnik-Widerstand ==<br />
'''''von FeldbefreierInnen & friends (jb)'''''<br/><br />
''c/o Projektwerkstatt, Ludwigstr. 11, 35447 Reiskirchen, 06401/903283''<br/><br />
''[mailto:saasenÄTTprojektwerkstatt.de saasen ÄTT projektwerkstatt.de]{{Spamschutz}}, http://www.gendreck-giessen.de.vu''<br />
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Spätsommer und Herbst haben Spuren hinterlassen in der Auseinandersetzung um die grüne Gentechnik. Die Nachrichten sind nicht rosig. Ganz verkürzt könnte mensch sagen: Die schlimmsten Befürchtungen werden wahr - und die Gentechniklobbyisten freuen sich über:<br />
* Hereinprasselnde Nachrichten über Funde gentechnisch verunreinigten Saatgutes und Lebensmittel. Wenn alles verseucht ist, haben die Täter gewonnen.<br />
* Immer härtere Strafen gegen GentechnikgegnerInnen, die nicht nur Postkarten unterschrieben, mit inzwischen vier Inhaftierungen und einem Abschreckungsurteil der politischen Justiz in Gießen gegen Aktivisten. Dreist: Der Richter dort stellte fest, dass Gentechnik nicht zu bremsen und nicht zu kontrollieren sei - und deshalb nicht mehr bekämpft werden dürfe!<br />
* Immer neue Fördermillionen für Scheinforschungund erschreckend blinde Apparate in Umwelt- und Biolandbauverbänden, die selbst die Anlage von mehr Versuchsfeldern fordern, wenn sie denn nur als Sicherheitsforschung deklariert werden (was in Deutschland 2009 fast überall so war).<br />
* Immer dreistere Forderungen der GentechnikmacherInnen. Der neueste Schrei: Die führenden Wissenschaftsinstitutionen des Landes fordern einen Freibrief für Genforschung (Abschaffung aller Kontrollen) bei gleichzeitiger Garantie, für alle Pannen und Auskreuzungen nicht haften zu müssen!<br />
* Den Wechsel einer EFSA-Angehörigen zu Syngenta, also eine Firma, die sie vorher noch „kontrollieren“ sollte. Und einen neuen Lobbyverband - gegründet von den RWTH-Seilschaften um Stefan Rauschen (Versuchsleiter Maisfeld Braunschweig): Das Forum Gen- und Biotechnologie, Träger von TransGen.<br />
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Wie immer also: Es werde Wut ... und dann Widerstand. Das nächste Frühjahr kommt bestimmt. Und auch eine schwarz-gelbe Regierung setzt diese Technik nicht durch, wenn der Widerstand stimmt. Die Hoffnung auf Parteien und verfilzte Behörden hat noch nie getragen. Die Entscheidung fällt auf Feldern und an Laboren.<br />
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=== Menschen können sie einsperren, Pollen nicht! ===<br />
'''''Der autoritäre Staat zeigt Zähne'''''<br/><br />
Als erster Feldbefreier wurde Bio-Imker Micha Grolm am 27. August ins Gefängnis Goldlauter (Suhl) gesperrt. Sein Vergehen: Zertreten von MON810-Mais, der zu dem Zeitpunkt schon verboten war. Am Dienstag, den 22. September, musste der zweite Feldbefreier seine Haftstrafe in der Justizvollzugsanstalt Kassel 1 antreten: Biolandwirt und Student in Witzenhausen C.P. hatte ebenfalls gentechnisch veränderte Maispflanzen ausgerissen. Am 5. Oktober folgte dann Karl Braig. Auch er hatte Genmais ausgerissen und zog mit einer Protestkolonne ins Gefängnis Rottenburg/Neckar. Inzwischen ist auch er wieder entlassen. Ende Oktober ging Micha Grolm erneut ins Gefängnis - Strafhaft für die Feldbefreiung ´07!<br />
* Berichte auf http://www.gendreck-weg.de<br />
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=== Maulkorb-Prozess: Schrader, Schmidt und Rehberger wollen Kritik verbieten! ===<br />
Nicht nur die Strafgerichte machen sich zu willigen Vollstreckern profitgeiler Forscher und Firmen. Zwei aktuell und eine ehemals wichtige Gestalt der Gentechnik-Szenerie in Deutschland klagen nun auch vor einem Zivilgericht in Saarbrücken. Das Ganze richtet sich gegen den Autor der Broschüre „Organisierte Unverantwortlichkeit“ mit dem Ziel, dass er seine Kritik an den Gentechnik-Seilschaften nicht mehr öffentlich sagen darf. Die Devise lautet also: Einsperren, mundtot und dann in aller Ruhe Kasse machen! 10 Tage Haft gegen den Broschürenautor sind schon verhängt! Das bevorstehende Verfahren wird anstrengend - aber es ist auch eine Chance. Denn das Gericht versucht zwar, unterwürfig die Interessen der Industrie und LobbyistInnen zu vertreten, hat aber dafür schon eine Rüge der nächsthöheren Instanz kassiert. Wahrscheinlich dauert das Verfahren mehrere Verhandlungstage. Der erste am 7.12. dauerte nur 30 Sekunden - dann führte ein Befangenheitsantrag zur Vertagung. Was soll verboten werden?<br />
# Die Broschüre: www.projektwerkstatt.de/ gen/filz/brosch.pdf<br />
# Die Seite www.biotech-seilschaften.de.vu<br />
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Die bisherigen Abläufe zum Verfahren, Schriftwechsel usw. stehen unter http://www. projektwerkstatt.de/gen/filz_brosch.htm.<br />
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=== Abschreckungsurteil in Gießen: Erstmals lange Haftstrafen für Gentechnikgegner! ===<br />
Jetzt ist auch die Berufung (2. Instanz) gegen zwei Genfeldbefreier in Gießen abgeschlossen. Beendet ist damit das Ganze aber nicht, denn die erneut zu Haftstrafen von vier bzw. sechs Monaten Verurteilten gehen in Revision. Hauptgrund: Der Streit um den § 34 StGB, auf dessen rechtfertigenden Notstand sie sich beriefen. Das Urteil bot neben der bekannten Neigung von Richtern, keine Lücken ihrer gesetzlichen Allmacht zuzulassen und folglich die Existenz oder Wirksamkeit des § 34 weitgehend zu leugnen, eine faustdicke Überraschung. Richter Nink urteilte nach 8 heftig umkämpften Verhandlungstagen, dass Widerstand gegen die grüne Gentechnik nicht zulässig sei, weil er nicht erfolgversprechend ist. Grund: Die hochgefährliche Gentechnik sei bereits außer Kontrolle und breite sich unwiderruflich überall aus: „Der Geist ist aus der Flasche“ sagte er wörtlich, bescheinigte dem am 2.6.2006 angegriffenen Gengerstefeld der Uni, skandalös schlampig organisiert worden zu sein und gab Hinweise, dass die dreisten Fälschungen und Schlampigkeiten der Versuchsleitung (Prof. Kogel und Team) auch Gegenstand von Wirtschaftsstrafverfahren oder Untersuchungsausschüssen sein könnten. Doch das hielt ihn nicht davon ab, die Überbringer der schlechten Nachrichten hart zu bestrafen. Er verurteilte die Aktivisten, obwohl sie sich - um Gegensatz zum Richter und den SchöffInnen - gegen das, was der Richter selbst für gefährlich einstufte, gewehrt hatten. Mit diesem Urteil dürfte der Richter der Gentechnik-Industrie einen großen Gefallen getan haben, da deren Strategie, die unerwünschte Technik durch unkontrollierte Anwendung faktisch durchzusetzen, aufgehen könnte. Eher ins Gruselkabinett und in Kategorie eitelkeitsgekränkter Richterlichkeit gehörte die Begründung für meine besonders hohe Bestrafung. Intensiv hatte ein Angeklagter die Hintergründe der Gentechnik und die Rolle des Staates bei der Durchsetzung von Macht- und Profitinteressen aufgedeckt. Kritik an der bürgerlichen Rechtsordnung aber müsse bestraft werden, befand der Richter und erhöhte deswegen dessen Strafmaß um zwei Monate. Für insgesamt sechs Monate soll einer der beiden nun hinter Gitter (ohne Bewährung selbstverständlich), weil ich ein - auch in den Augen des Richters - gefährliches, rechtswidriges und schlampig geführtes Genversuchsfeld attackiert hatte.<br />
* http://www.projektwerkstatt.de/gen/prozess.htm<br />
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Servicetipp: Für alle, die wegen Aktionen gegen die Gentechnik angeklagt werden, wurden etliche der bisher gestellten Anträge vor Gericht dokumentiert. Sie können als PDF aufgerufen werden. Wer will, kann daraus eigene Anträge formen, Passagen entnehmen, umbauen usw. Siehe: http://www.projektwerkstatt.de/gen/prozesse/lesefenster/antrag.html<br />
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=== Andersrum, gleiches Ziel: Ermittlungen gegen Gentech-Seilschaften eingestellt! ===<br />
Das Strafverfahren gegen Inge Broer, Kerstin Schmidt, Karl-Heinz Kogel und andere wegen Anlage eines illegalen Genfeldes wurde eingestellt. Grund: Die Behörden hätten das ja richtig gefunden - da können den armen „ForscherInnen“ ja kein Vorwurf gemacht werden (das Schreiben unter http://www.projektwerkstatt.de/gen/2009/grl/sta091103einst_feld2.pdf ).<br />
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=== Pollen gelangen überall hin! ===<br />
Während die Menschen hinter Gitter gesteckt werden, jagt eine schlechte Nachricht die andere. Die längst unkontrollierbar gewordenen Gentechnik erreicht immer mehr Lebensmittel und Saatguthändler. Was in Süd-, Nordamerika und Teilen von Asien schon Alltag ist, droht jetzt auch Europa: Gentechnikfreiheit wird zum Gegenstand der Geschichtsschreibung. Schuld daran ist nicht hauptsächlich, aber auch eine absurde Propaganda vieler gentechnikkritischer Verbände, mensch könne durch die Wahl der richtigen Produkte im Laden die Auskreuzung eindämmen.<br />
* Schlechte Nachrichten von der Auskreuzung: http://www.projektwerkstatt.de/gen/koexistenz.htm<br />
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=== Kommentar: Die Strategie der glücklichen Insel war und ist dumm! ===<br />
Ob Umwelt- oder Biolandbauverbände, Grüne oder viele weitere - in der Hauptsache beschränken sich ihre Vorschläge zur Verhinderung der Agrogentechnik auf das richtige Kaufverhalten oder auf solche politischen Entscheidungen, die das Kaufverhalten beeinflussen. Klarer Spitzenreiter der Hitliste politischer Vorschläge: Die Kennzeichnung. Dann könne sich der Verbraucher, so die Behauptung, entscheiden, ob er/sie gentechnikfrei leben will oder nicht. Gleichzeitig war von den genannten Verbänden und Parteien dort, wo die deutschen Genfelder des Jahres 2009 standen, nicht oder fast nichts zu sehen.<br />
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Diese strategische Entscheidung ist fatal und ein Teil des Problems. Es wird Zeit, dass die Bio-Tomaten von den Augen fallen und die einschläfernden Illusionen der Grünen, Umwelt- und Biolandbauverbände platzen. Denn die Gentechnik ist etwas, was sich von selbst auskreuzt - und zwar unaufhaltsam überall hin, solange es die Quellen gibt. Die Ausbreitung der gentechnisch veränderten Pflanzen kann also nur verhindert werden, wenn die Quellen gestoppt werden: Die Felder mit gv-Pflanzen oder, noch einen Schritt vorher, die Labore und Firmen, die solche Pflanzen entwickeln, sowie die staatlichen Förderprogramme, deren Millionen das alles erst provozieren. Solange sie bestehen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die gv-Bestandteile in den Regalen ankommen - egal ob Supermarkt oder Bioladen. Werden Produkte gekennzeichnet, aber die Felder belassen, so ist die Kennzeichnung nicht als die Suggestion einer Wirkung, die Schaffung einer Wohlfühlzone scheinbarer Idylle. Sie mutiert zur gefährlichen Beruhigungspille und trägt dazu bei, dass die 80 Prozent GentechnikgegnerInnen ruhig und abwartend das totale Desaster, nämlich die Auskreuzung der gv-Pflanzen in alle Ecken der Welt hinnehmen.<br />
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Übrigens: Das bewusste Einkaufen beim Bauernhof, im Bioladen oder in anderer politisch überlegter Weise bleibt dennoch wichtig. Es hilft, selbstbestimmte Wirtschaftsweisen zu erhalten, Spritzmittel zu reduzieren und den Boden zu schützen. Nur gegen Gentechnik hilft es wenig.<br />
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=== Feldpost ===<br />
Die Hochburgen der grünen Gentechnik sind ständig in Bewegungen. Der Widerstand spielt eine unterschiedliche Rolle, während die ständige Hatz nach Geldquellen und sicheren Flächen immer neue Konstellationen bewirken.<br />
* Die wichtigste Neuerung des Herbstes ist der Vertrag zwischen den IPK- und den BioTechFarm-Kreisen: Gatersleben goes Üplingen - und umgekehrt. Fortan wollen sich die beiden Seilschaftenknotenpunkte die Arbeit teilen. Labore und Gewächshäuser werden in Gatersleben genutzt, die Felder kommen nach Üplingen. Der dortige Gemeinderat hat sich mehrheitlich gegen die Gentechnikhochburg ausgesprochen. Aber demokratische Entscheidungen interessieren in einer Demokratie nur, wenn sie den Mächtigen nützen. Der Bürgermeister kungelt einfach weiter beherzt mit den Gentechnik-Seilschaften. Mehr zu Üplingen und den Aktivitäten in der Börde: http://www.biogeldfarm.de.vu<br />
* Etwas krude verlief die Auseinandersetzung um die Kündigung der Pachtverträge für Teile der Versuchsfelder in Sagerheide. Der Gemeinderat von Thulendorf hatte einstimmig beschlossen, die Verträge zu kündigen, allerdings verzögerte sich die Umsetzung. Probleme gab es im zuständigen Amt Carbäk - deren Chef ist SPD-Kreistagsfraktionsvorsitzender und Befürworter des Gentechnikstandortes. Formal können die Firmengeflechte um die Vielfachgeschäftsführerin Kerstin Schmidt und die Uni-Professorin Inge Broer daher die Flächen auch 2010 noch nutzen. Verhindern könnte das ein deutlicher Widerstand vor allem aus der Region. Infoseite zur Gentechnik nahe Rostock: http://www.aggrobiotechnikum.de.vu<br />
* Die KWS baut in Einbeck neue Gentechniklaboratorien. Ihre Versuchsfelder hatte sie aber 2009 ausschließlich in Sachsen-Anhalt verteilt (Infos: http://www.kws-gentechnikfrei.de ). Ähnliches gilt für die BASF. Deren Gentechnikschmiede bleibt das Agrarzentrum Limburgerhof. Die Felder aber waren auch 2009 vor allem in Mecklenburg-Vorpommern zu finden.<br />
* Nach dem illegalen Zweitfeld der Universität Gießen für Gengerste in Sagerheide (siehe http://www.projektwerkstatt.de/gen/sonder_gerste09.htm ) hat es offenbar auch auf der BioTechFarm ein illegales Genfeld gegeben. Jedenfalls berichtet das die gentechnikfreundliche „Welt“ am 22.9.2009 - allerdings mehr oder weniger aus Versehen. In einem peinlichen Jubelartikel über einen Busausflug zum Gentechnik-Streichelzoo wird erwähnt, wie die BesucherInnen staunend vor dem gezeigten MON810-Mais stehen. Der aber war 2009 verboten.<br />
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=== Rückblick: Aktionstage gegen die Gentechnik-Seilschaften ===<br />
Vom 6. bis 16. September fanden in etlichen Orten nahe der beiden Versuchsfeld-Hochburgen in Deutschland etliche Vorträge und Diskussionsveranstaltungen, Filme und mehr statt.<br />
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Am Sonntag, den 6.9., liefen am Lindenhof (Eilum östlich Braunschweig) und in der Bördegärtnerei (Erxleben) Hoffeste mit Informationsständen und Infos zu den Gentechnik-Seilschaften. Den dazupassenden Vortrag in Eilum verfolgten 80 ZuschauerInnen. Tags drauf verteilten AktivistInnen Informationsmaterial an die Gäste des InnoPlanta-Treffens in Üplingen. Ein Großaufgebot der Polizei schützte die Seilschaften und die direkt daneben liegende BioTechFarm.<br />
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Noch am Abend sowie am Folgetag war der Vortrag „Monsanto auf Deutsch - Seilschaften deutscher Gentechnik„ in Dreileben und Warsleben zu sehen. Aktuell konnte von den Ergebnissen des InnoPlanta-Forums berichtet werden, auf dem unter anderem die Verträge zum Umzug der Freisetzungsforschung von Gatersleben nach Üplingen unterzeichnet wurden. Das war vor allem für die anwesenden AnwohnerInnen und Gemeindevertreter aus Ausleben wichtig - hier dürften keine Zweifel mehr bestehen, dass der Ort zum Top-Gentechnikstandort ausgebaut werden soll. Die Mehrheit der Gemeindevertretung hatte sich dagegen ausgesprochen, wird aber nicht beachtet.<br />
Parallel gab es in Magdeburg Filmvorführungen sowie am 9.9. auch hier den Vortrag. Dramatischer verlief der 10.9. in Gatersleben. Der dort angesetzte Vortrag musste abgesagt werden ... plötzlich entschloss sich der Gastwirt, die Raumzusage zurückzuziehen - angeblich wegen Bauarbeiten. Aber das ist typisch für die Seilschaften: Ausladungen von Tagungen, Verbotsverfügungen per Gericht gegen kritische Wort und Verhindern unerwünschter Veranstaltungen - die wissen selbst, dass sie einiges zu verbergen haben! Aufgrund der Absage fand eine Mini-Demonstration in Gatersleben statt, so dass BesucherInnen der Veranstaltung erfuhren, was geschehen war.<br />
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Vom 10. bis 15.9. liefen in Berlin zu mehreren kleinen Aktionen, Workshops und Vorträge. Höhepunkt war die Blockade des BMBF. Die hielt immerhin einen Tag lang und fand darüber den Weg in einige Medien. Zwischen den BlockererInnen und dem BMBF fand Ende November ein Gespräch zum Thema stattt.<br />
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Am 12.9. ging es dann in und um Rostock los - mit einem Infostand beim Wochenmarkt und dem Hoffest auf dem Ulenkrug. AnwohnerInnen der Versuchsfelder hatten für den 13. (Sonntag) in ihren Garten eingeladen - bei Kaffee, Kuchen, Bio-Getränken der Stralsunder Brauerei (als Beitrag zu den Aktionen gegen Gentechnik) und einem spannenden Vortrag von Christiane Lüst über Menschenrechtsverletzungen durch die Grüne Gentechnik. Gut bewacht war das Ganze, ebenso wie die Folgetage, von der uniformierten Polizei und dem Rostocker Staatsschutz. Letzterer ließ sich dann am Montagabend zum Vortrag über Gentechnik-Seilschaften einladen - welch Erkenntnisse die beiden Herren auch immer darüber gewonnen haben, wer hier kriminell handelt ... Mit einer kleinen Diskussionsveranstaltung am 15.9. in Rostock ging die Veranstaltungsreihe zuende.<br />
* Berichte: http://gentechfilz.blogsport.de<br />
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=== An der Quelle stoppen! ===<br />
'''''Firmen, Labore, Geldgeber und die Felder'''''<br/><br />
Wegen der hohen Auskreuzung bei gentechnisch veränderten Organismen reicht das bewusste Einkaufen nicht aus. Die Gentechnik wird unweigerlich selbst in den Bioprodukten ankommen, solange nicht die Quellen der Auskreuzung wirksamer bekämpft werden. Doch an den Versuchsfeldern herrscht zuviel Zurückhaltung der sonst mit der Gentechnikkritik auf Spenden- oder Wählerjagd befindlichen Verbände und Parteien. Das muss sich ändern, sonst werden Protestpostkarten und -mausklicks schnell ihren Sinn verlieren.<br />
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Bislang sind vor allem selbstorganisierte AktivistInnen dort aktiv, wo die Gentechnik-Seilschaften agieren. Jetzt werden die nächsten Versuchsfelder geplant, beantragt und der große Kuchen mit Fördermillionen verteilt. Einmischen ist angesagt - bei den Ministerien des Bundes und der Länder, bei den landwirtschaftlichen Fachanstalten und dem Forschungszentrum Jülich als Geldvergabestelle der Sicherheitsforschung. Die Firmenstandorte in Stade, Düsseldorf, Leverkusen, Northeim /Dreileben und Limburgerhof sind wichtig, ebenso die Gentechnikuniversitäten Aachen, Gießen, Rostock und andere. Kleinstfirmen und Agenturen wie Genius (Darmstadt), Biovativ und BioOK (Groß Lüsewitz), BioTechFarm (Üplingen) und TransGen (Aachen) gehören zu den Knotenpunkten des engen Netzes grüner Gentechnik. Kristallisationspunkt bleiben die Felder, zu erwarten 2010 auf jeden Fall wieder in Braunschweig, Sagerheide (östlich Rostock) und Üplingen (Börde), dazu die KWS-Flächen voraussichtlich auch in der Börde (z.B. Dreileben) und von BASF, Pioneer und Monsanto an etlichen Orten des Landes. BASF will die Amflora-Kartoffel auf viele Felder ziehen. Wenn sich nicht Menschen in den Weg stellen - wortwörtlich vor allem!<br />
* Aktionsseite: http://www.gentech-weg.de.vu<br />
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=== Neue Materialien und Spendenaufruf ===<br />
'''''Bereits 3. Auflage vom Reader „Organisierte Unverantwortlichkeit“ erschienen!'''''<br/><br />
81.000mal wurde sie schon gedruckt und fast vollständig verteilt - über Naturkostläden, Initiativen und sowie rund um die Hochburgen der Seilschaften. Veranstaltungen und Berichte in mehreren Zeitschriften verstärken die Wirkung. Es wird nicht lange dauern, bis das Heft vergriffen ist. Wegen des laufenden Rechtsstreits und Versuchs der Seilschaften, die Kritik an ihren Machenschaften zu verbieten, bildet sich ein HerausgeberInnenkreis für die dritte Auflage.<br />
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Für die Finanzierung hoffen die neuen HerausgeberInnen auf weitere Spenden. Durch den bisherigen Spendeneingang konnte die erste Auflage und ein Teil der zweiten Auflage inzwischen vollständig bezahlt werden. Das ist gut und macht den Mut, einen dritten Druck zu wagen.<br />
* Bestellen? http://www.aktionsversand.de.vu oder 06401/90328-3, Fax -5<br />
* Download: http://www.projektwerkstatt.de/gen/filz/brosch.pdf<br />
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=== Neue Kalendarien für Fotokalender „Genfelder befreien!“ ===<br />
Habt Ihr den großen Wandkalender mit den beeindruckenden Fotos von Feldbesetzungen und Feldbefreiungen? Oder wisst Ihr, wo so einer hängt? Der muss nicht eingemottet werden, denn es gibt ein neues Kalendarium zum Überkleben! Es kann heruntergeladen und ausgedruckt werden über die Internetseite von http://www.aktionsversand.de.vu. Und wer den Kalender noch nicht hat, kann ihn dort auch noch bestellen ... für nur noch 5 Euro.<br />
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=== Newsletter abonnieren! ===<br />
Wer sicher sein will, aktuelle Infos zu erhalten, sollte sich in die Mailingliste eintragen unter http://www.gendreck-giessen.de.vu oder von der einzutragenden Adresse aus mit leerer Mail: [mailto:agrogentech-subscribeÄTTyahoogroups.de agrogentech-subscribe ÄTT yahoogroups.de]{{Spamschutz}}.<br />
* Kontakt & ReferentInnenanfragen: Projektwerkstatt, 06401/90328-3, Fax -5, [mailto:saasenÄTTprojektwerkstatt.de saasen ÄTT projektwerkstatt.de]{{Spamschutz}}<br />
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=== Vortragsangebot ===<br />
Auch 2010 soll es in möglichst vielen Orten an möglichst vielen Abenden wieder heißen: „Monsanto auf Deutsch“. Wer hat Lust, eine Abendveranstaltung zu organisieren? Inzwischen stehen mehrere ReferentInnen bereits - es kann also geplant werden ... auch wenn der eine oder die andere ReferentIn vielleicht mal zwangspausieren muss (Knast).<br />
* http://www.vortragsangebote.de.vu<br />
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<small>{{Fußnoten}}</small><br />
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[[Kategorie: Winter 2009/2010]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Gentech]]<br />
[[Kategorie: Repression]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2009-02:Der_Staat_bezieht_Stellung:_Gentech-KritikerInnen_in_den_Knast&diff=219652009-02:Der Staat bezieht Stellung: Gentech-KritikerInnen in den Knast2023-04-20T20:38:24Z<p>WikiSysop: </p>
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|[[Bild:Brosch kl.jpg|Die Broschüre zum Filz in der Gentech-Landschaft|thumb|right]]<br />
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|[[Bild:Richterkeule.gif|Der Richter mit der Keule|thumb|right]]<br />
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|[[Bild:Tripod m.jpg|Mit Tripods gegen Gentechnik|thumb|right]]<br />
|}<br />
'''''Der Staat bezieht Stellung:'''''<br />
== Millionen für die Gentechnik, Knast für immer mehr FeldbefreierInnen! ==<br />
'''ProWe''' Im Wahlkampf geben sie sich kritisch, doch die Wirklichkeit sieht anders aus: Landes- und Bundesregierungen tun viel für die ungeliebte Gentechnik in der Landwirtschaft: Die Gebäude für Firmen und Versuchsfelder, die Millionengelder für Personal und Labore und, wo nötig, große Mengen an Polizei zur Sicherung der Felder werden aus den Steuern derjenigen bezahlt, die zu vier Fünfteln diese Technik gar nicht wollen. Dennoch verstummt die Kritik an der vor allem an Profit- und Machtinteressen ausgerichteten Agrogentechnik nicht. Dafür will nun die Justiz sorgen: Mit Abschreckung durch Inhaftierungen und immer mehr Verurteilungen.<br />
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Der erste Feldbefreier, Bio-Imker Micha Grolm, musste bereits am 27. August ins Gefängnis Goldlauter (Suhl). Sein Vergehen: Zertreten von MON810-Mais, der zu dem Zeitpunkt schon verboten war. Am Dienstag, den 22. September, musste der zweite Feldbefreier seine zweiwöchige Haftstrafe in der Justizvollzugsanstalt Kassel 1 antreten. Biolandwirt und Student in Witzenhausen C.P. hat ebenfalls gentechnisch veränderte Maispflanzen ausgerissen. Am 5. Oktober trat mit Karl Braig der dritte Feldbefreier eine ebenfalls zweiwöchige Freiheitsstrafe an.<br />
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Im September sollte dann der Prozess gegen zwei Feldbefreier aus Giessen zu Ende geführt werden, musste aber noch zweimal verlängert werden, bevor der Richter sein eindrucksvolles Urteil sprechen konnte. Schon in der ersten Instanz war erkennbar, dass der Staat mit diesem Prozess ein Exempel gegen zivilen Ungehorsam statuieren wollte. Ein halbes Jahr Haft ohne Bewährung verhängte der Richter damals gegen zwei Aktivisten, die gentechnisch veränderte Gerste beschädigt hatten. Dass das Feld per Sofortvollzug durchgesetzt war, beim Förder- und beim Genehmigungsantrag mit falschen Angaben Gelder und Bescheide ergaunert wurden, die Sicherheitsbestimmungen nicht eingehalten und ein fachlich völlig unqualifizierte, zudem dem Versuchsleiter unterstellter Sicherheitskontrolleur beauftragt war, interessierte den Richter nicht. Ganz im Gegenteil: Fragen zur Gentechnik und zum beschädigten Feld verbot er und entschied dann sogar, lieber ohne den nachfragenden Angeklagten zu verhandeln. Der musste draußen vor der Tür bleiben. Eine Rechtsgrundlage dafür fehlte völlig.<br />
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Nun näherte sich das Ende der zweiten Instanz. Der neue Richter musste bei ähnlich skandalösen Rechtsbrüchen eine Revision fürchten. Daher verlief der Prozess intensiver und entspannter als das erste Verfahren. Doch das hatte sich im September gewandelt. Gericht und Staatsanwaltschaft befanden, dass eine Frist zur Antragsstellung zu beschließen sei und lehnten dann die ersten 78 Beweisanträge pauschal als "bedeutungslos" ab - erkennbar, ohne sie überhaupt alle gelesen zu haben. Die gleichzeitige massive Polizeibewachung zeigte, dass wieder ein hartes Urteil geplant war.<br />
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In allen bisherigen Prozessen haben bislang die RichterInnen die Prüfung der Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstandes (§ 34 Strafgesetzbuch) verweigert. Sie tun das mit gutem Grund: Angesichts der Verflechtungen zwischen Industrie, Forschung und Behörden in der Gentechnik gibt es keine unabhängigen Genehmigungs- und Überwachungsverfahren. Eine andere Möglichkeit, die Gefahren der Gentechnik abzuwenden, bleibt daher nicht. Bereits in drei Fällen haben Richter Angeklagte, die diesen Paragraphen zum Gegenstand des Verfahrens machen wollten, aus dem Gerichtssaal entfernen lassen. Unangenehme Fragen wurden verboten, entsprechende Beweisanträge zu Hunderten als "ohne Bedeutung" zurückgewiesen. Die Justiz schützt die Anwendung der Gentechnik und der hinter ihnen stehenden Konzerne. Eingereichte Strafanzeigen z.B. wegen gefälschter Förder- und Genehmigungsanträge bei Genversuchen werden aus gleichem Grund nicht verfolgt.<br />
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Stattdessen hat das Landgericht Saarbrücken jetzt auf Antrag zweier führender Köpfe im Geflecht von Gentechnikfirmen, -kontrolle und Lobbyarbeit einem Kritiker ohne vorherige Prüfung der Sachlage einen Maulkorb verhängt. Er darf die präzise nachgewiesenen Seilschaften zwischen Überwachung, finanzieller Förderung und Anwendung der Gentechnik nicht mehr öffentlich benennen. Die Information sind noch erreichbar über die Internetseiten http://www.biotech-seilschaften.de.vu und die Broschüre "Organisierte Unverantwortlichkeit".<br />
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== Verfahren gegen Feldbefreier: Staatsanwältin zieht Berufung zurück ==<br />
'''Simone Ott''' 30.09.2009, 22 Uhr: Im Gießener Landgericht brennen nur noch wenige Lichter. Im Sitzungssaal ... wird schon seit acht Stunden der Strafprozess gegen zwei Feldbefreier verhandelt. Es ist der siebte Verhandlungstag dieses Berufungsverfahrens und eigentlich gingen alle davon aus, es würde der letzte sein.<br />
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Deshalb waren Patrick Neuhaus und Jörg Bergstedt an diesem Tag auch nicht alleine vor Gericht erschienen. Über 70 UnterstützerInnen aus der ganzen Republik begleiteten sie in einem bunten Demonstrationszug vom Kirchenplatz vorbei am Universitäts-Hauptgebäude zum Gericht. Unter ihnen mehrere AktivistInnen von Gendreck-weg, z.B. der Imker und Mitbegründer Michael Grolm. In seinem Redebeitrag vor dem Landgericht wies er auf die Notwendigkeit von direktem Widerstand gegen<br />
Agro-Gentechnik hin. Auch Udo Wierlemann von der BI Marburg-Biedenkopf wandte sich mit einem engagierten und entschlossenen Grußwort an die DemonstrantInnen. Ein Vertreter von attac Wuppertal lobte das widerständige Handeln der Angeklagten. Und Gießener AktivistInnen mahnten die Uni Gießen in einem Ständchen, tatsächlich unabhängige Forschung zu betreiben. Aufgelockert wurde die Kundgebung mit einer Performance, die die Verflechtungen der Gentechnik-Branche untereinander versinnbildlichte, und aus denen sich LandwirtInnen, Imker und Verbraucherin nach einiger Zeit erfolgreich befreien konnten.<br />
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Weniger abwechslungsreich ging es danach im Gerichtssaal zu. Die Angeklagten mussten einmal mehr um ihr Recht auf Beweisaufnahme kämpfen. Bis die Staatsanwältin mit einer Bombe herausplatzte: sie zog ihre eigene Berufung zurück. Obwohl Frau Sehlbach-Schellenberg schon in der ersten Instanz ihr "Wunschurteil" von sechs Monaten Haft ohne Bewährung für beide Angeklagte bekommen hatte, legte sie damals Berufung ein. Damit verhinderte sie die Überprüfung der rechtswidrigen Handlungen des Richters aus der ersten Instanz, der u.a. einen der Angeklagten aus der Verhandlung werfen ließ. "Mit der Rücknahme der Berufung hat die Staatsanwältin den Verdacht nun erhärtet, dass dies das wahre Motiv für ihre Berufung war", argumentiert Jörg Bergstedt, einer der Angeklagten. "Auf einmal findet sie die bisherige Haftstrafe doch in Ordnung. Denn nun hat sie ihr Ziel erreicht: den Richter aus der 1. Instanz aus der Schusslinie zu bringen." Als weitere Schlussfolgerung aus ihrer Handlung gehen die Angeklagten davon aus, dass die Strafe nicht höher ausfallen wird als in der ersten Instanz.<br />
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Folgerichtig forderte die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer ein halbes Jahr Haft ohne Bewährung für Jörg Bergstedt und das gleiche mit Bewährung für Patrick Neuhaus. Die Anwälte der Angeklagten sehen das Gericht in der Pflicht, der Argumentation des rechtfertigenden Notstandes zu folgen und die Angeklagten freizusprechen. Während der Plädoyers der Angeklagten wurde die Sitzung endlich unterbrochen, um am Freitag, dem 9.10. fortzufahren.<br />
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Juristisches Geplänkel in einem aufsehenerregenden Präzedenzfall darum, ob Gentechnik-KritikerInnen quasi als "Notwehr" ein Versuchsfeld mit gentechnisch veränderten Pflanzen unschädlich machen dürfen. Nach dem Notstandsparagraphen 34 des Strafgesetzbuches werden Straftaten nicht geahndet, die dazu dienen, größere Gefahren von sich selbst oder anderen abzuwenden. Wer sich mit der Agro-Gentechnik auskennt, wird wissen, dass es genug Gefahren für Mensch und Umwelt gibt, die es abzuwenden gilt, vor allem die sozialen. Doch die Verbindungen von Kontroll- und Genehmigungsbehörden zu Wissenschaft und Wirtschaft sind so gut, dass legale Mittel bisher kaum Wirkung zeigten, um den Vormarsch der Agro-Gentechnik zu bremsen.<br />
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Deshalb waren Patrick Neuhaus und Jörg Bergstedt 2006 an einer Feldbefreiung in Gießen beteiligt. Die Aktion richtete sich gegen ein Versuchsfeld der Universität Gießen mit gentechnisch veränderter Gerste. Nach der Verhandlung lobte der Imker Michael Grolm: "Die Angeklagten bringen die Kritikpunkte an der Gentechnik genau auf den Punkt. Kein Richter kann sie ohne schlechtes Gewissen verurteilen."<br />
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== Klärung vor Oberlandesgericht: Rechtfertigender Notstand für politische Aktionen? ==<br />
'''jb''' Jetzt ist auch die Berufung gegen zwei Genfeldbefreier in Gießen abgeschlossen. Beendet ist damit das Ganze aber nicht, denn die erneut zu Haftstrafen von vier bzw. sechs Monaten verurteilten gehen in Revision. Hauptgrund: Der Streit um den § 34 StGB, auf dessen rechtfertigenden Notstand sich die Aktivisten beriefen. Das Urteil bot neben der bekannten Neigung von Richtern, keine Lücken ihrer gesetzlichen Allmacht zuzulassen und folglich die Existenz oder Wirksamkeit des § 34 weitgehend zu leugnen, eine faustdicke Überraschung. Richter Nink urteilte, dass Widerstand gegen die grüne Gentechnik nicht zulässig sei, weil sie nicht erfolgversprechend ist, da die hochgefährliche Gentechnik unbeherrschbar sei und unwiderruflich sich überall ausbreiten werde: "Der Geist ist aus der Flasche" sagte er wörtlich, bescheinigte dem am 2.6.2006 angegriffenen Gengerstefeld der Uni, skandalös schlampig organisiert worden zu sein und warf das auch dem Versuchsleiter Kogel vor. Dann aber verurteilte er die Überbringer der schlechten Nachrichten und Aktivisten, die sich - um Gegensatz zum Richter und den SchöffInnen - gewehrt hatten. Mit diesem Urteil dürfte der Richter der Gentechnik-Industrie einen großen Gefallen getan haben, da deren Strategie, die unerwünschte Technik einfach faktisch durchzusetzen, nun aufgeht. Eher ins Gruselkabinett gehörte die Begründung für die höhere Bestrafung des einen Angeklagten: Der sei<br />
grundsätzliche gegen Herrschaft eingestellt, würde damit die bürgerliche Rechtsordnung in Frage stelle - und das müsse bestraft werden. Anarchie als Straftatbestand! Der Verlauf des bisherigen und des weiteren Verfahrens kann auf http://projektwerkstatt.de/gen/prozess.htm verfolgt werden.<br />
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== Urteil im Giessener Feldbefreiungs-Prozess: Der Geist ist aus der Flasche! ==<br />
'''''Gericht in Gießen bescheinigt "Unkontrollierbarkeit der Gentechnik"'''''<br />
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'''Prowe''' Das war ein doppelter Paukenschlag: Der über acht Verhandlungstage andauernde Prozess gegen zwei Feldbefreier vor dem Landgericht Gießen endete mit einem spektakulären Urteil. Das Gericht stellte fest, dass die Gentechnik "hochbedenklich" und gefährlich sei. Auch dem konkreten Gerstenversuch der Universität Gießen, der von der Feldbefreiung betroffen war, bescheinigte das Gericht eine Reihe von Sicherheitslücken und Schlampereien. Gesteigert wurden diese Feststellungen im Urteil noch durch die grundlegende Aussage, dass die "Unkontrollierbarkeit der Gentechnik eine Tatsache" sei. "Der Geist ist aus der Flasche", fasste der Vorsitzende Richter Dr. Nink das Ergebnis der Beweisaufnahme zusammen und meinte damit, dass es keine Möglichkeit mehr gäbe, die Verbreitung der genmanipulierten Pflanzen noch zu stoppen. Doch ausgerechnet dieses totale Fiasko der grünen Gentechnik machte er dann nicht den Verursachern zum Verhängnis, sondern denen, die sich gegen die Gentechnik gewehrt hatten. Für sie komme der rechtfertigende Notstand nicht in Frage, weil die unkontrollierte Auskreuzung Gentechnik auch mit einer Feldbefreiung nicht zu verhindern sei. Die Quittung: Ein Angeklagter kassierte eine Bewährungsstrafe von vier Monaten, der andere muss sogar für sechs Monate ins Gefängnis. Eine Bewährung gab es für die sechs Monate nicht, weil das Gericht dem Angeklagten vorwarf, gegen die bürgerliche Ordnung eingestellt zu sein. Mehrere der während der Urteilsverkündung betroffen und ratlos zuhörenden ZuschauerInnen quittierten diese Formulierung im Urteil mit dem Wort "Gesinnungsjustiz".<br />
<br />
Die Angeklagten aber wollen nicht aufgeben und kündigten an, in die Revision zu gehen zu: "Es ist ein Hohn, die Gefahr und Unkontrollierbarkeit der Gentechnik selbst festzustellen und dann die, die das Desaster verhindern wollten, zu verurteilen, weil ihre Kritik an der Unkontrollierbarkeit der Gentechnik zutreffend war und ist", griff der zu sechs Monaten verurteilte Gentechnikgegner Jörg Bergstedt das Gericht an. Er hatte in einem leidenschaftlichen Plädoyer das Gericht aufgefordert, nicht williger Vollstrecker von Konzerninteressen zu sein. Genau das sei jetzt geschehen, denn die Feststellung, dass die Gentechnik nicht mehr aufzuhalten sei, diene denen, die den SuperGAU ihrer Technik kaltblütig als Weg zu mehr Profit längst einkalkuliert hätten.<br />
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Mehr Informationen:<br />
* Die Broschüre zu Gentechnik-Seilschaften: http://www.projektwerkstatt.de/gen/filz/brosch.pdf<br />
* Infoseite zum Gießener Feldbefreiungsprozess: http://www.projektwerkstatt.de/gen/prozess.htm<br />
* Informationen zu weiteren Inhaftierungen: http://www.gendreck-weg.de<br />
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[[Kategorie: Herbst 2009]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Gentech]]<br />
[[Kategorie: Repression]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Editorial&diff=219642022-01:Editorial2023-01-20T13:57:36Z<p>WikiSysop: </p>
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<div><noinclude><br />
== Editorial ==<br />
</noinclude>Liebe Leser*innen,<br/><br />
die Krisen der letzten Jahre haben auch unserem Magazin zuschaffen gemacht. Als ein auf ehrenamtlichem Engagement aufbauendes Projekt wirkten sich auch auf das grüne blatt die persönlichen Herausforderungen aus der Covid-19-Pandemie ebenso aus wie die Eindrücke der russischen Invasion in der Ukraine. Das verlangte vielen von uns Energie ab, die eigenen Abläufe und Prioritäten neu zu sortieren, sich zu informieren und die Geschehnisse und Auswirkungen einzuordnen. Manche haben ihre Tätigkeitsschwerpunkte verlagert und haben nun weniger Zeit für das grüne blatt. So kommt es, dass wir es 2021 erstmals in der Geschichte des Projekts nicht geschafft haben, zumindest eine jährliche Ausgabe zu produzieren. Und auch mit dem vor euch liegenden Heft waren wir mehrere Monate in Verzug.<br />
<br />
Während die Coronakrise aus der Wahrnehmung zu schwinden scheint, aber immer noch Rekordzahlen und gefährliche Belastungen des Gesundheitssystems bewirkt, hat sich die "Friedensordnung" in Europa, von der nach dem Ende des Kalten Krieges viel die Rede war, mit Putins Krieg binnen Wochen in Luft aufgelöst. Plötzlich soll auch Atomkraft wieder "notwendig" sein und die Parteien, die 2011 den sogenannten "Atomausstieg" beschlossen hatten, wollen nun eine Kehrtwende unternehmen.<br />
<br />
Trotzdem hat es uns auch Spaß gemacht, wieder Themen zusammenzustellen, zu recherchieren und die Seiten zu layouten. Wir hoffen, dass auch ihr die Mischung interessant findet und es uns nachseht, dass einzelne Berichte noch aus dem Jahr 2021 stammen. Wir fanden, dass diese trotzdem wertvoll sind und Platz in der neuen Ausgabe haben sollten.<br />
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Die Redaktion<br />
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<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Mitteilungen]]<br />
</noinclude></div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Editorial&diff=219632022-01:Editorial2023-01-20T13:56:50Z<p>WikiSysop: noinclude-Tag eingefügt, damit "Editorial" auf der Startseite nicht zweimal erscheint</p>
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== Editorial ==<br />
</noinclude>Liebe Leser*innen,<br/><br />
die Krisen der letzten Jahre haben auch unserem Magazin zuschaffen gemacht. Als ein auf ehrenamtlichem Engagement aufbauendes Projekt wirkten sich auch auf das grüne blatt die persönlichen Herausforderungen aus der Covid-19-Pandemie ebenso aus wie die Eindrücke der russischen Invasion in der Ukraine. Das verlangte vielen von uns Energie ab, die eigenen Abläufe und Prioritäten neu zu sortieren, sich zu informieren und die Geschehnisse und Auswirkungen einzuordnen. Manche haben ihre Tätigkeitsschwerpunkte verlagert und haben nun weniger Zeit für das grüne blatt. So kommt es, dass wir es 2021 erstmals in der Geschichte des Projekts nicht geschafft haben, zumindest eine jährliche Ausgabe zu produzieren. Und auch mit dem vor euch liegenden Heft waren wir mehrere Monate in Verzug.<br />
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Während die Coronakrise aus der Wahrnehmung zu schwinden scheint, aber immer noch Rekordzahlen und gefährliche Belastungen des Gesundheitssystems bewirkt, hat sich die "Friedensordnung" in Europa, von der nach dem Ende des Kalten Krieges viel die Rede war, mit Putins Krieg binnen Wochen in Luft aufgelöst. Plötzlich soll auch Atomkraft wieder "notwendig" sein und die Parteien, die 2011 den sogenannten "Atomausstieg" beschlossen hatten, wollen nun eine Kehrtwende unternehmen.<br />
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Trotzdem hat es uns auch Spaß gemacht, wieder Themen zusammenzustellen, zu recherchieren und die Seiten zu layouten. Wir hoffen, dass auch ihr die Mischung interessant findet und es uns nachseht, dass einzelne Berichte noch aus dem Jahr 2021 stammen. Wir fanden, dass diese trotzdem wertvoll sind und Platz in der neuen Ausgabe haben sollten.<br />
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Die Redaktion<br />
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[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Mitteilungen]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=Olkiluoto-3_macht_weiter_Probleme&diff=21871Olkiluoto-3 macht weiter Probleme2022-11-06T20:35:52Z<p>WikiSysop: WikiSysop verschob die Seite Olkiluoto-3 macht weiter Probleme nach 2022-01:Olkiluoto-3 macht weiter Probleme: Ausgaben-Namensraum ergänzt</p>
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<div>#WEITERLEITUNG [[2022-01:Olkiluoto-3 macht weiter Probleme]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Olkiluoto-3_macht_weiter_Probleme&diff=218702022-01:Olkiluoto-3 macht weiter Probleme2022-11-06T20:35:52Z<p>WikiSysop: WikiSysop verschob die Seite Olkiluoto-3 macht weiter Probleme nach 2022-01:Olkiluoto-3 macht weiter Probleme: Ausgaben-Namensraum ergänzt</p>
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<div>== Olkiluoto-3 macht weiter Probleme ==<br />
'''fb''' Der Vorzeigereaktor der sogenannten "Renaissance der Atomenergie" Olkiluoto-3 wurde nach mehrjährigen Verspätungen im März dieses Jahr schließlich probeweise ans Stromnetz angeschlossen. Er war 2003 der erste westliche Reaktor, der seit 1988 nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl in Auftrag gegeben wurde. Gleichzeitig ist es der Prototyp der inzwischen schon nicht mehr neuen Reaktorlinie EPR des französischen Atomkonzerns Areva (heute EDF), und damit essentieller erhoffter weltweiter Verkaufsschlager. Einige Jahre später wurde im französischen Flamanville eine zweite EPR-Prototyp-Baustelle gestartet, die bis heute nicht zum Abschluss kam<ref name="WNISR2022">https://www.worldnuclearreport.org/IMG/pdf/wnisr2022-hr.pdf - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
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Als 2005 in Finnland mit dem Bau von Olkiluoto-3 begonnen wurde, war geplant, den Reaktor 2009 in Betrieb zu nehmen; für die Fertigstellung waren Kosten in Höhe von 3 Mrd. EUR vereinbart worden. Unzählige Konstruktions- und Baumängel führten zu erheblichen Kostensteigerungen und Verzögerungen, so dass der Preis inzwischen mit etwa 11 Mrd. EUR veranschlagt wird und sich die Bauzeit vervierfacht hat<ref name="heise_OL3">https://www.heise.de/news/Atomkraft-Reaktor-3-des-AKW-Olkiluoto-darf-ganz-hochfahren-13-Jahre-verspaetet-7254815.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="WNISR2022" />.<br />
<br />
Nachdem das Schaumodell der modernen westlichen Atomindustrie wenige Monate nach der Probeinbetriebnahme im Sommer 2022 schon wieder repariert werden musste, erfolgte bereits im August der nächste Leistungsabfall aufgrund von Turbinenproblemen<ref>https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Kernkraftwerk_Olkiluoto&oldid=226918107- gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref>https://www.euractiv.de/section/energie/news/finnlands-groesster-atomreaktor-bereitet-erneut-schwierigkeiten/ - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>. Auch am Jahrestag der Atomkatastrophe ereignete sich ein "Vorfall", menschliches oder technisches Versagen, zu dem es in Hochrisikoanlagen nicht kommen darf: Beim Herunterfahren des Reaktors wurde am 26. April unbeabsichtigt die Borsäureeinspeisung gestartet, die eigentlich die Kettenreaktion reguliert und in Notfällen zu den letzten Mitteln zählt, um den Reaktor noch abzuschalten<ref>https://www.tvo.fi/en/index/news/pressreleasesstockexchangereleases/2022/theol3plantunit8217sboronpumpswereturnedonwhendrivingdowntheplanunit.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref>Mitteilung von Fredrik Lundberg, freier Journalist, vom 29. April 2022</ref><ref name="WNISR2022" />. Allen Ereignissen zum Trotz wird der Probebetrieb fortgesetzt. Es ist geplant, zum Jahreswechsel in die reguläre Stromerzeugung überzugehen<ref name="heise_OL3" />.<br />
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<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atomkraft_im_Krieg&diff=218692022-01:Atomkraft im Krieg2022-10-27T06:14:02Z<p>WikiSysop: </p>
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<div>== Atomkraft im Krieg ==<br />
'''fb''' "Atomkraftwerke sind Bomben, die zeitweise Strom erzeugen", stand auf einem Plakat, das 2002 bei Protesten gegen die Jahrestagung des Deutschen Atomforums in Stuttgart gezeigt wurde. Damit sollte vor allem auf die Unfallgefahr im "Normalbetrieb" hingewiesen werden. Dass jedes Atomkraftwerk (AKW) mit Reaktorkernladung Ziel oder Opfer eines Kollateralschadens in einer militärischen Auseinandersetzung sein kann, wurde andererseits seit dem ersten Tag von Putins Krieg gegen die Ukraine verdeutlicht: zunächst durch die Angriffe auf das AKW Tschernobyl in der Super-GAU-Sperrzone, wenige Tage später durch die Kämpfe um das AKW Saporischschja. Beide Anlagen erhielten Einschläge von Geschossen; es war Glück, dass kein kritischer Anlagenteil getroffen wurde. Seitdem schlitterte vor allem Saporischschja, das größte AKW in Europa, mehrfach knapp an einer Katastrophe vorbei. Berichte über Einschläge auf dem Gelände, die Zerstörung des Netzanschlusses und das Einsetzen der Notstromaggregate versetzten die Öffentlichkeit anfangs in Zittern, inzwischen, infolge ständiger Wiederholung, scheint eine Gewöhnung eingesetzt zu haben. Das Risiko hat sich dabei nicht verringert.<br />
<br />
Dabei handelt es sich, weltweit betrachtet, in der Ukraine nicht um die ersten militärischen Schläge gegen Atomkraftwerke. Es gab bereits mindestens 13 solche Angriffe auf Reaktoren in Israel, Iran, Irak und Syrien - ausgeführt von Israel, Iran, Irak, Großbritannien bzw. USA. Allerdings war keine dieser Anlagen zum Zeitpunkt der Angriffe in Betrieb. Es existiert kein spezifisches internationales Regelwerk, das den Umgang mit Atomanlagen im Krieg behandelt, aber eine Reihe Vorgaben in unterschiedlichen Verträgen. Hervorzuheben ist Teil III des Zusatzprotokolls I der Genfer Konventionen, der deutlich gegen Attacken auf Elektrizitätswerke im Krieg spricht. Russland zog sich 2019 von einzelnen Verpflichtungen aus diesem Protokoll zurück, was aber nicht als umfassender Austritt aus dem Vertragswerk betrachtet wird<ref name="Wikipedia">Protocol I. Wikipedia. https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Protocol_I&oldid=1117909633 - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Die USA, Indien, Iran, Israel, Pakistan und Türkei ratifizierten das Protokoll nie<ref>Anzumerken ist außerdem, dass das Pentagon seinen Militärkommandant*innen im 2016er "Law of War Manual" die Entscheidung überlässt, ob sie AKW angreifen, wenn diese das "wichtig" finden (vgl. Sokolski (2022)).</ref>.<ref name="armywarcollege">Sokolski, Henry D.: Present Danger: Nuclear Power Plants in War. The US Army War College Quarterly: Parameters 52(4), 19.10.2022. https://press.armywarcollege.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=3178&context=parameters - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
<br />
In der Ukraine befinden sich 15 Reaktoren in Betrieb, vier weitere sind stillgelegt<ref name="Tabelle">Übersichtstabelle "Nuclear Power Stations Ukraine" von Jan Haverkamp, 24.02.2022</ref>. Reaktor 4 von Tschernobyl war 1986 explodiert und ist bis heute stark radioaktiv kontaminiert<ref name="ShortBriefing">Jan Haverkamp: Short Briefing: Russian war on Ukraine – nuclear energy risks. 24.02.2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Ukraine">Stender, Anna: Atomkraft in der Ukraine. .ausgestrahlt, 02.03.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/02/atomkraft-der-ukraine/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. AKW produzieren etwa die Hälfte des Stroms des Landes<ref name="BeyondNuclear">Gunter, Linda Pentz: Nuclear warfare without bombs. Ukraine’s reactors could be in the line of fire. Beyond Nuclear International, 30.01.2022. https://beyondnuclearinternational.org/2022/01/30/nuclear-warfare-without-bombs/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. In der Tschernobyl-Sperrzone befinden sich mehrere Zwischenlager für alle Arten Atommüll, zwei oberflächennahe Endlager und Konditionierungseinrichtungen. Eines der Zwischenlager enthält in einem Lagerbecken etwa 20.000 abgebrannte Brennelemente aus den drei 1986 nicht beschädigten, inzwischen stillgelegten, Tschernobyl-Reaktoren<ref name="ShortBriefing" />. Ein Zwischenlager unter freiem Himmel mit mehr als 3.000 abgebrannten Brennelementen liegt zusätzlich auf dem Gelände des AKW Saporischschja. Darüberhinaus existieren Zwischenlager für andere radioaktive Abfälle an verschiedenen weiteren Orten in der Ukraine, u.a. in Charkiw und Kiew. Außerdem befinden sich in der Ukraine radioaktive Absetzbecken mit kontaminierten Abfällen aus der Uranförderung und -aufbereitung. Darüberhinaus befinden sich Forschungsreaktoren in Kiew und Charkiw, sowie an letzterem Ort außerdem eine Neutronenquelle und eine Isotopenproduktionsanlage. Auf der seit 2014 durch Russland besetzten Krim existiert ein weiterer Forschungsreaktor und die kritische Anordnung "Sph IR-100". Auch gibt es viele Strahlenquellen in Zwischenlagern, Kohlekraftwerken und Kohlebergwerken in der seit 2014 besetzten Ostukraine.<ref name="Atommuellreport">Schönberger, Ursula: "Länderbericht Ukraine". atommüllreport, 25.05.2022. https://www.atommuellreport.de/themen/detail/atommuellreport-laenderbericht-ukraine.html - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
<br />
Die AKW in der Ukraine befinden sich in einem schlechten Zustand: Jahrelang wurden nur die dringendsten Reparaturen vorgenommen, notwendige Sicherheitsnachrüstungen erfolgten kaum, trotzdem erlaubte die Atomaufsichtsbehörde immer weitere Laufzeitverlängerungen und Leistungserhöhungen der alternden Reaktoren. In den vergangenen zehn Jahren ereigneten sich mehrere schwerwiegende Unfälle und Sicherheitsprobleme, die teils zunächst vertuscht wurden. Die Reaktoren charakterisieren sich als höchst störanfällig. Problematisch ist außerdem der vor allem politisch motivierte Einsatz US-amerikanischer Brennelemente in ukrainischen Reaktoren, von denen keiner dafür ausgelegt ist. Daraus können sich zusätzliche Sicherheitsprobleme ergeben. Grundsätzlich ist die Atomindustrie der Ukraine von der Versorgung mit russischen Brennelementen abhängig.<ref name="Atommuellreport" /><br />
<br />
Kein Reaktor ist gegen militärische Attacken geschützt. Eine Atomkatastrophe mit massiver Freisetzung ist durch derartige Angriffe bei allen aktiven kommerziellen Atomkraftwerken möglich.<ref name="ShortBriefing" /> Dabei können Atomanlagen Ziele von direkten Attacken, Opfer von Kollateralschäden beispielsweise durch Geschosse, die ihr eigentliches Ziel verfehlen, oder auch Terrorziele werden<ref name="BeyondNuclear" />. Konkret kann es sich dabei insbesondere um den Einschlag von Explosivgeschossen in sicherheitskritische Anlagenteile oder Kernschmelze infolge der Trennung von Kühl- und Sicherheitssystemen von der Energieversorgung handeln. So können das Reaktor-Containment aufgeschlagen, abgebrannte Brennelemente durch Bombardierung beschädigt oder die Kühlwasserversorgung unterbrochen werden.<ref name="Polytechnique">Herviou, Karine; Meshkati, Najmedin; Ustohalova, Veronika; Gupta, Olivier: What are the risks of nuclear power plants in wartime? Polytechnique insights, 12.07.2022. https://www.polytechnique-insights.com/en/columns/geopolitics/how-to-protect-nuclear-power-plants-in-wartime/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
<br />
Schon vor der russischen Invasion kam es zu terroristischen bzw. sabotagebedingten Vorfällen, die sich auf Sicherheitssysteme der ukrainischen AKW auswirkten. 2015 führte beispielsweise die Sprengung von Hochspannungsmasten in der Krim-Region durch Separatist*innen zur Notabschaltung eines Reaktors wegen Netzinstabilität.<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" /> Auch bedrohte 2015 in der Ostukraine die Explosion von Munition in der Nähe eines Lagers für Strahlungsquellen deren Sicherheit. Aufgrund der absehbaren Bedrohungslage fand 2017 mit Unterstützung der USA eine Übung zum Schutz der kritischen Infrastruktur des AKW Saporischschja statt, nachdem sich die Ukraine schon 2014 mit der Bitte um Hilfe bei der Sicherung von Atomanlagen an NATO, EU und die USA gewandt hatte. Auch gab es Berichte von aus Kohlekraftwerken verschwundenen Strahlenquellen, die von Separatist*innen verkauft worden sein sollen.<ref name="Atommuellreport" /><br />
<br />
Gleich am ersten Tag der Invasion in der Ukraine besetzten die russischen Truppen das Gelände des 1986 havarierten AKW Tschernobyl<ref name="ZDF">Stillgelegtes Kernkraftwerk. Kiew: Russland hat Tschernobyl eingenommen. ZDF, 24.02.2022. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/tschernobyl-kernkraftwerk-krieg-russland-ukraine-100.html - gesichtet 24.10.2022</ref>. In den folgenden Tagen wurden Radioaktivitäts-Spikes von den Messsystemen zur Überwachung der Umweltradioaktivität in der Sperrzone festgestellt, die teils erheblich über den dort "normalen" Werten lagen. Dem russischen Anti-Atom-Experten Andrey Ozharovsky zufolge wurden diese vermutlich durch schwere Militärfahrzeuge, deren Manöver den verseuchten Boden aufgewirbelt hatten, verursacht<ref name="Ozharovsky">Ozharovsky, Andrey: Рост мощности дозы гамма излучения на площадке Чернобыльской АЭС. Facebook, 25.02.2022. https://www.facebook.com/andrey.ozharovsky/posts/4802038569873501 - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Am 9. März wurden die Atomanlagen in Tschernobyl von der externen Stromversorgung abgeschnitten und liefen mit Notstrom. Erst am 14. März konnte die Stromversorgung wiederhergestellt werden. Bei Plünderungen wurden im März außerdem technische Ausrüstung und wichtige Instrumente eines Labors zur Untersuchung der radiologischen Situation in der Tschernobyl-Sperrzone sowie das Frühwarnsystem für Störfälle und weitere Strahlenmesseinrichtungen zerstört.<ref name="Atommuellreport" /> Wegen des Ausfalls der Überwachungssysteme und der Plünderungen wird eine Gefahr unkontrollierter Verbreitung von atomwaffenfähigem Material aus den Atomanlagen gesehen, da die vorgesehene Verfolgung solcher Materialien, z.B. durch die IAEA, und die Überwachung ihrer weiteren Verwendung kaum noch möglich ist<ref name="SRzG">Russlands Einmarsch in die Ukraine bedroht die Freiheit nachrückender Generationen weltweit. Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, 25.02.2022. https://generationengerechtigkeit.info/russlands-einmarsch-in-die-ukraine/ - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Tschernobyl gab es eine Reihe von Berichten über russische Soldaten mit Strahlenschäden. Diese könnten sie sich beim Ausheben von Schützengräben in verseuchtem Boden und Aufenthalt in der kontaminierten Sperrzone zugezogen haben<ref name="Atommuellreport" />. Erst am 21. März konnte nach ca. vier Wochen ein erster Schichtwechsel in Tschernobyl erfolgen. Die Besatzer*innen hatten die Rotation des Personals nicht erlaubt<ref name="Atommuellreport" />. Fehlende Schichtwechsel in Atomanlagen im Krieg bedeuten ein erhöhtes Risiko menschlichen Versagens<ref name="Polytechnique" />.<br />
<br />
Aber auch andere Atomanlagen wurden bereits Opfer russischen Beschusses: Das Atomforschungsinstitut in Kiew wurde im März mehrfach Ziel russischer Angriffe: Am 6., 8. und 10./11. März schlugen Geschosse ein und verursachten erhebliche Schäden am Gebäude. Auch das Forschungszentrum in Charkiw wurde im März infolge von Bombardierung beschädigt und von der Stromversorgung abgeschnitten. Ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle wurde am 26. Februar in Charkiw getroffen und in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar war ein weiteres Lager in Kiew das Ziel von Granatenbeschuss.<ref name="Atommuellreport" /><br />
<br />
Besonders dramatisch ist die Lage am AKW Saporischschja. Anfang März erfolgte erstmals in der Geschichte ein Waffeneinsatz an einem in Betrieb befindlichen kommerziellen Reaktor<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass">Stender, Anna: Atomares Pulverfass. .ausgestrahlt, 24.08.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/08/24/atomares-pulverfass/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Der bewaffnete Konflikt in einem Land mit massiv ausgebauter Atomindustrie stellt einen Präzedenzfall dar<ref name="Polytechnique" />. Ein Schulungsgebäude auf dem AKW-Gelände brannte ab. Im Anschluss bestand längere Zeit kein Zugang und nur eine beschränkte Fernüberwachung für IAEA-Kontrolleur*innen.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /> Ca. 500 russische Soldaten sollen die Atomanlage seit März als Stützpunkt nutzen sowie Waffen und Munition, u.a. Granatwerfer sowie Panzer- und Flugabwehrraketen, in den Gebäuden lagern<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><ref name="Polytechnique" />. Sofort nach der Besetzung brachte das russische Militär Panzer auf dem Gelände unter<ref name="Polytechnique" />. Der Standort soll auch als Abschussbasis für Raketen und Artillerie genutzt worden sein<ref name="armywarcollege" />. Eine Explosion von Munition in der Nähe des AKW ereignete sich am 14. März<ref name="Atommuellreport" />. Seit August sollen Gebäude und Gelände mehrfach von Raketen getroffen worden sein<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" />. Fotos aus dem Sommer zeigten, dass u.a ein Transformator beschädigt wurde - ein kritisches System, das die kontinuierliche Versorgung von Kühl- und Sicherheitssystemen mit Strom sicherstellt<ref name="armywarcollege" />.<br />
<br />
Nach und nach wurden wegen der Gefahrenlage immer mehr Reaktoren heruntergefahren. Inzwischen (Stand: Oktober) sind alle Reaktoren abgeschaltet. Trotzdem bleibt die Gefahr einer Kernschmelze infolge eines Unfalls akut, da das Reaktorinventar und das Lager für abgebrannte Brennelemente selbst nach dem Herunterfahren noch viele Jahre einer intensiven Kühlung bedürfen. Hierfür ist das AKW auf eine externe Stromversorgung und funktionierende Kühl- sowie Sicherheitssysteme angewiesen. Wenn die Stromversorgung über das Netz ausfällt, kommen Dieselgeneratoren zum Einsatz, die allerdings eine auf einige Tage begrenzte Reichweite haben und von Treibstoff-Nachlieferungen abhängig sind.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
<br />
Das ukrainische AKW-Personal steht seit der Eroberung der Atomanlage unter russischer Aufsicht. Viele Menschen sind geflohen. Teile der Führungskräfte und Arbeiter*innenschaft wurden gekidnappt, gefoltert bzw. getötet<ref name="armywarcollege" /><ref name="Tagesschau_Interview_Kotin">Interview. Atombehördenchef Kotin: "Putin will unser Energiesystem zerstören". Tagesschau, 20.10.2022. https://www.tagesschau.de/kotin-atomkraftwerke-ukraine-101.html - gesichtet 26. Oktober 2022</ref>. Die verbleibenden Mitarbeiter*innen arbeiten unter Gewaltandrohungen durch die russischen Besatzer*innen. Sie stehen unter extremer psychischen Belastung, was auch die Fehleranfälligkeit beim Umgang mit dieser Hochrisikotechnologie erhöht. Berichtet wurde von Kommunikationsproblemen der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde mit dem Personal am AKW Saporischschja aufgrund der Abschaltung des Mobilfunks und Blockierung des Internets durch die russischen Kräfte<ref name="Polytechnique" />. Darüberhinaus könnten die Besatzer*innen selbst die Sicherheit der Anlage gefährden, weil sie weniger spezifisches Know-How als die ukrainischen Mitarbeiter*innen haben. So könnten sie falsche Maßnahmen erzwingen, und reguläre Sicherheitsüberprüfungen einschränken bzw. verhindern. Auch besteht die Gefahr, dass kritische Geräte und Bauteile im Krieg nicht beschafft werden können. Zudem ist das Krisenmanagement im Falle eines Unfalls voraussichtlich erschwert, weil Evakuierungen unter den Bedingungen von Besatzung und Krieg behindert würden und nötige Infrastruktur durch die Lage in Frontnähe womöglich nur eingeschränkt nutzbar wäre<ref name="Tagesschau_Interview_Kotin" />.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
<br />
Bereits 17 sicherheitsrelevante Zwischenfälle habe es in den ersten sieben Monaten der russischen Besetzung in Saporischschja gegeben, teilte Petro Kotin, Chef des ukrainischen AKW-Betreibers Energoatom in einem Interview mit der Tagesschau mit. Vier der Vorfälle standen im Zusammenhang mit der Beschädigung der Stromleitungen, die die Netzversorgung der Atomanlage sichern.<ref name="Tagesschau_Interview_Kotin" /><br />
<br />
Die Behörden der Ukraine, Polens, Rumäniens, Moldaus und Finnlands haben als Konsequenz aus der Sicherheitssituation am AKW Saporischschja für den Fall einer Atomkatastrophe Jodtabletten an die Bevölkerung verteilt<ref name="armywarcollege" />. Bei korrekter Dosierung und gutem Timing kann so zumindest das Schilddrüsenkrebsrisiko infolge eines Super-GAUs gesenkt werden.<br />
<br />
In einem im US Army War College-Journal veröffentlichten Papier mit Anregungen an das Pentagon stellt der Akademiker Henry D. Sokolski fest: "After what has unfolded at Zaporizhzhya, civilian nuclear plants must be viewed as prepositioned nuclear weapon"<ref name="armywarcollege" />. Trotzdem setzt die Ukraine weiter auf Atomkraft. Im Juni 2022 schloss der ukrainische AKW-Betreiber Energoatom mit dem US-amerikanischen Atomkonzern Westinghouse ein Abkommen über den Bau von vier neuen Reaktoren<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" />. Darüberhinaus wurden Absichtserklärungen zur Errichtung mehrerer sogenannter SMR (Small Modular Reactor) mit verschiedenen US-amerikanischen Firmen getroffen<ref name="Atommuellreport" />.<br />
<br />
Neben der Gefährdung der ukrainischen Atomanlagen im Krieg besteht außerdem ein steigendes Risiko für einen Einsatz von Atomwaffen durch die Russische Föderation. Schon am 27. Februar, wenige Tage nach dem Angriff auf die Ukraine, gab Putin den Befehl aus, die Abschreckungsstreitkräfte in besondere Alarmbereitschaft zu versetzen, zu denen auch ca. 6.200 Atomsprengköpfe gehören<ref>Breidenbach, Heinrich: Atomwaffen: No first use! PLAGE NEWS 1/22, S. 4</ref>. Die indirekte Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen wurde seitem mehrfach wiederholt. Im Sommer forderten radikale Nationalisten aus der russischen Militärführung in der Ukraine sogar ganz offen den Einsatz taktischer Atomwaffen, woraufhin USA und NATO Russland Konsequenzen für eine solche Aktion ankündigten. Eine besondere Dramatik ergibt sich aus dem Umstand, dass mit Russland die angreifende Nation einer der Garanten ist, die der Ukraine 1994 im Gegenzug für deren Verzicht auf ihr Atomwaffenarsenal Schutz versprachen<ref name="SRzG" />.<ref>Zu den Garantiestaaten für die territoriale Integrität der Ukraine gehörten 1994 auch die USA.</ref> Das Szenario eines Atomkriegs zwischen Russland und USA ist seit dem Invasionsbeginn näher als sonst jemals seit den 1970er Jahren<ref>Hudson, Kate: There is an increasing risk of nuclear war over Ukraine. Campaign for Nuclear Disarmament. E-Mail vom 24.02.2022</ref>. Eine weitere Bedrohung stellt die mögliche Interpretation einer grenzüberschreitenden, militärisch ausgelösten Atomkatastrophe in der Ukraine als NATO-Bündnisfall dar, der einzelnen Expert*innen denkbar erscheint, wenn z.B. die Bevölkerungen der NATO-Mitglieder Rumänien oder Polen von massiven radioaktiven Freisetzungen betroffen würden. Die Ausrufung des Bündnisfalles könnte im schlimmsten Fall bis zum Eintritt der NATO in den Krieg mit Russland führen<ref name="armywarcollege" />.<br />
<br />
So bleibt zum Abschluss nur festzuhalten, was eine Expert*innengruppe aus Atomindustrie, Forschung und Aufsichtsbehörden in einem wissenschaftlichen Journal zur Sicherheit von Atomkraftwerken in Kriegszeiten resümierte: "As things stand, that the attacking power does not target nuclear facilities is perhaps all we can hope for"<ref name="Polytechnique" />. AKW sind zu gefährlich, als dass sie noch gebaut, betrieben oder ihre Laufzeit verlängert werden sollte - nicht nur für aktive Kriegsparteien, sondern auch im Kontext sogenannter "hybrider Kriegsführung", z.B. Sabotage durch Spezialeinheiten.<br />
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=== Fußnoten ===<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Militarismus]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atomkraft_im_Krieg&diff=218682022-01:Atomkraft im Krieg2022-10-26T12:34:33Z<p>WikiSysop: Interview Kotin</p>
<hr />
<div>== Atomkraft im Krieg ==<br />
'''fb''' "Atomkraftwerke sind Bomben, die zeitweise Strom erzeugen", stand auf einem Plakat, das 2002 bei Protesten gegen die Jahrestagung des Deutschen Atomforums in Stuttgart gezeigt wurde. Damit sollte vor allem auf die Unfallgefahr im "Normalbetrieb" hingewiesen werden. Dass jedes Atomkraftwerk (AKW) mit Reaktorkernladung Ziel oder Opfer eines Kollateralschadens in einer militärischen Auseinandersetzung sein kann, wurde andererseits seit dem ersten Tag von Putins Krieg gegen die Ukraine verdeutlicht: zunächst durch die Angriffe auf das AKW Tschernobyl in der Super-GAU-Sperrzone, wenige Tage später durch die Kämpfe um das AKW Saporischschja. Beide Anlagen erhielten Einschläge von Geschossen; es war Glück, dass kein kritischer Anlagenteil getroffen wurde. Seitdem schlitterte vor allem Saporischschja, das größte AKW in Europa, mehrfach knapp an einer Katastrophe vorbei. Berichte über Einschläge auf dem Gelände, die Zerstörung des Netzanschlusses und das Einsetzen der Notstromaggregate versetzten die Öffentlichkeit anfangs in Zittern, inzwischen, infolge ständiger Wiederholung, scheint eine Gewöhnung eingesetzt zu haben. Das Risiko hat sich dabei nicht verringert.<br />
<br />
Dabei handelt es sich, weltweit betrachtet, in der Ukraine nicht um die ersten militärischen Schläge gegen Atomkraftwerke. Es gab bereits mindestens 13 solche Angriffe auf Reaktoren in Israel, Iran, Irak und Syrien - ausgeführt von Israel, Iran, Irak, Großbritannien bzw. USA. Allerdings war keine dieser Anlagen zum Zeitpunkt der Angriffe in Betrieb. Es existiert kein spezifisches internationales Regelwerk, das den Umgang mit Atomanlagen im Krieg behandelt, aber eine Reihe Vorgaben in unterschiedlichen Verträgen. Hervorzuheben ist Teil III des Zusatzprotokolls I der Genfer Konventionen, der deutlich gegen Attacken auf Elektrizitätswerke im Krieg spricht. Russland zog sich 2019 von einzelnen Verpflichtungen aus diesem Protokoll zurück, was aber nicht als umfassender Austritt aus dem Vertragswerk betrachtet wird<ref name="Wikipedia">Protocol I. Wikipedia. https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Protocol_I&oldid=1117909633 - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Die USA, Indien, Iran, Israel, Pakistan und Türkei ratifizierten das Protokoll nie<ref>Anzumerken ist außerdem, dass das Pentagon seinen Militärkommandant*innen im 2016er "Law of War Manual" die Entscheidung überlässt, ob sie AKW angreifen, wenn diese das "wichtig" finden (vgl. Sokolski (2022)).</ref>.<ref name="armywarcollege">Sokolski, Henry D.: Present Danger: Nuclear Power Plants in War. The US Army War College Quarterly: Parameters 52(4), 19.10.2022. https://press.armywarcollege.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=3178&context=parameters - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
<br />
In der Ukraine befinden sich 15 Reaktoren in Betrieb, vier weitere sind stillgelegt<ref name="Tabelle">Übersichtstabelle "Nuclear Power Stations Ukraine" von Jan Haverkamp, 24.02.2022</ref>. Reaktor 4 von Tschernobyl war 1986 explodiert und ist bis heute stark radioaktiv kontaminiert<ref name="ShortBriefing">Jan Haverkamp: Short Briefing: Russian war on Ukraine – nuclear energy risks. 24.02.2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Ukraine">Stender, Anna: Atomkraft in der Ukraine. .ausgestrahlt, 02.03.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/02/atomkraft-der-ukraine/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. AKW produzieren etwa die Hälfte des Stroms des Landes<ref name="BeyondNuclear">Gunter, Linda Pentz: Nuclear warfare without bombs. Ukraine’s reactors could be in the line of fire. Beyond Nuclear International, 30.01.2022. https://beyondnuclearinternational.org/2022/01/30/nuclear-warfare-without-bombs/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. In der Tschernobyl-Sperrzone befinden sich mehrere Zwischenlager für alle Arten Atommüll, zwei oberflächennahe Endlager und Konditionierungseinrichtungen. Eines der Zwischenlager enthält in einem Lagerbecken etwa 20.000 abgebrannte Brennelemente aus den drei 1986 nicht beschädigten, inzwischen stillgelegten, Tschernobyl-Reaktoren<ref name="ShortBriefing" />. Ein Zwischenlager unter freiem Himmel mit mehr als 3.000 abgebrannten Brennelementen liegt zusätzlich auf dem Gelände des AKW Saporischschja. Darüberhinaus existieren Zwischenlager für andere radioaktive Abfälle an verschiedenen weiteren Orten in der Ukraine, u.a. in Charkiw und Kiew. Außerdem befinden sich in der Ukraine radioaktive Absetzbecken mit kontaminierten Abfällen aus der Uranförderung und -aufbereitung. Darüberhinaus befinden sich Forschungsreaktoren in Kiew und Charkiw, sowie an letzterem Ort außerdem eine Neutronenquelle und eine Isotopenproduktionsanlage. Auf der seit 2014 durch Russland besetzten Krim existiert ein weiterer Forschungsreaktor und die kritische Anordnung "Sph IR-100". Auch gibt es viele Strahlenquellen in Zwischenlagern, Kohlekraftwerken und Kohlebergwerken in der seit 2014 besetzten Ostukraine.<ref name="Atommuellreport">Schönberger, Ursula: "Länderbericht Ukraine". atommüllreport, 25.05.2022. https://www.atommuellreport.de/themen/detail/atommuellreport-laenderbericht-ukraine.html - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
<br />
Die AKW in der Ukraine befinden sich in einem schlechten Zustand: Jahrelang wurden nur die dringendsten Reparaturen vorgenommen, notwendige Sicherheitsnachrüstungen erfolgten kaum, trotzdem erlaubte die Atomaufsichtsbehörde immer weitere Laufzeitverlängerungen und Leistungserhöhungen der alternden Reaktoren. In den vergangenen zehn Jahren ereigneten sich mehrere schwerwiegende Unfälle und Sicherheitsprobleme, die teils zunächst vertuscht wurden. Die Reaktoren charakterisieren sich als höchst störanfällig. Problematisch ist außerdem der vor allem politisch motivierte Einsatz US-amerikanischer Brennelemente in ukrainischen Reaktoren, von denen keiner dafür ausgelegt ist. Daraus können sich zusätzliche Sicherheitsprobleme ergeben. Grundsätzlich ist die Atomindustrie der Ukraine von der Versorgung mit russischen Brennelementen abhängig.<ref name="Atommuellreport" /><br />
<br />
Kein Reaktor ist gegen militärische Attacken geschützt. Eine Atomkatastrophe mit massiver Freisetzung ist durch derartige Angriffe bei allen aktiven kommerziellen Atomkraftwerken möglich.<ref name="ShortBriefing" /> Dabei können Atomanlagen Ziele von direkten Attacken, Opfer von Kollateralschäden beispielsweise durch Geschosse, die ihr eigentliches Ziel verfehlen, oder auch Terrorziele werden<ref name="BeyondNuclear" />. Konkret kann es sich dabei insbesondere um den Einschlag von Explosivgeschossen in sicherheitskritische Anlagenteile oder Kernschmelze infolge der Trennung von Kühl- und Sicherheitssystemen von der Energieversorgung handeln. So können das Reaktor-Containment aufgeschlagen, abgebrannte Brennelemente durch Bombardierung beschädigt oder die Kühlwasserversorgung unterbrochen werden.<ref name="Polytechnique">Herviou, Karine; Meshkati, Najmedin; Ustohalova, Veronika; Gupta, Olivier: What are the risks of nuclear power plants in wartime? Polytechnique insights, 12.07.2022. https://www.polytechnique-insights.com/en/columns/geopolitics/how-to-protect-nuclear-power-plants-in-wartime/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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Schon vor der russischen Invasion kam es zu terroristischen bzw. sabotagebedingten Vorfällen, die sich auf Sicherheitssysteme der ukrainischen AKW auswirkten. 2015 führte beispielsweise die Sprengung von Hochspannungsmasten in der Krim-Region durch Separatist*innen zur Notabschaltung eines Reaktors wegen Netzinstabilität.<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" /> Auch bedrohte 2015 in der Ostukraine die Explosion von Munition in der Nähe eines Lagers für Strahlungsquellen deren Sicherheit. Aufgrund der absehbaren Bedrohungslage fand 2017 mit Unterstützung der USA eine Übung zum Schutz der kritischen Infrastruktur des AKW Saporischschja statt, nachdem sich die Ukraine schon 2014 mit der Bitte um Hilfe bei der Sicherung von Atomanlagen an NATO, EU und die USA gewandt hatte. Auch gab es Berichte von aus Kohlekraftwerken verschwundenen Strahlenquellen, die von Separatist*innen verkauft worden sein sollen.<ref name="Atommuellreport" /><br />
<br />
Gleich am ersten Tag der Invasion in der Ukraine besetzten die russischen Truppen das Gelände des 1986 havarierten AKW Tschernobyl<ref name="ZDF">Stillgelegtes Kernkraftwerk. Kiew: Russland hat Tschernobyl eingenommen. ZDF, 24.02.2022. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/tschernobyl-kernkraftwerk-krieg-russland-ukraine-100.html - gesichtet 24.10.2022</ref>. In den folgenden Tagen wurden Radioaktivitäts-Spikes von den Messsystemen zur Überwachung der Umweltradioaktivität in der Sperrzone festgestellt, die teils erheblich über den dort "normalen" Werten lagen. Dem russischen Anti-Atom-Experten Andrey Ozharovsky zufolge wurden diese vermutlich durch schwere Militärfahrzeuge, deren Manöver den verseuchten Boden aufgewirbelt hatten, verursacht<ref name="Ozharovsky">Ozharovsky, Andrey: Рост мощности дозы гамма излучения на площадке Чернобыльской АЭС. Facebook, 25.02.2022. https://www.facebook.com/andrey.ozharovsky/posts/4802038569873501 - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Am 9. März wurden die Atomanlagen in Tschernobyl von der externen Stromversorgung abgeschnitten und liefen mit Notstrom. Erst am 14. März konnte die Stromversorgung wiederhergestellt werden. Bei Plünderungen wurden im März außerdem technische Ausrüstung und wichtige Instrumente eines Labors zur Untersuchung der radiologischen Situation in der Tschernobyl-Sperrzone sowie das Frühwarnsystem für Störfälle und weitere Strahlenmesseinrichtungen zerstört.<ref name="Atommuellreport" /> Wegen des Ausfalls der Überwachungssysteme und der Plünderungen wird eine Gefahr unkontrollierter Verbreitung von atomwaffenfähigem Material aus den Atomanlagen gesehen, da die vorgesehene Verfolgung solcher Materialien, z.B. durch die IAEA, und die Überwachung ihrer weiteren Verwendung kaum noch möglich ist<ref name="SRzG">Russlands Einmarsch in die Ukraine bedroht die Freiheit nachrückender Generationen weltweit. Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, 25.02.2022. https://generationengerechtigkeit.info/russlands-einmarsch-in-die-ukraine/ - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Tschernobyl gab es eine Reihe von Berichten über russische Soldaten mit Strahlenschäden. Diese könnten sie sich beim Ausheben von Schützengräben in verseuchtem Boden und Aufenthalt in der kontaminierten Sperrzone zugezogen haben<ref name="Atommuellreport" />. Erst am 21. März konnte nach ca. vier Wochen ein erster Schichtwechsel in Tschernobyl erfolgen. Die Besatzer*innen hatten die Rotation des Personals nicht erlaubt<ref name="Atommuellreport" />. Fehlende Schichtwechsel in Atomanlagen im Krieg bedeuten ein erhöhtes Risiko menschlichen Versagens<ref name="Polytechnique" />.<br />
<br />
Aber auch andere Atomanlagen wurden bereits Opfer russischen Beschusses: Das Atomforschungsinstitut in Kiew wurde im März mehrfach Ziel russischer Angriffe: Am 6., 8. und 10./11. März schlugen Geschosse ein und verursachten erhebliche Schäden am Gebäude. Auch das Forschungszentrum in Charkiw wurde im März infolge von Bombardierung beschädigt und von der Stromversorgung abgeschnitten. Ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle wurde am 26. Februar in Charkiw getroffen und in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar war ein weiteres Lager in Kiew das Ziel von Granatenbeschuss.<ref name="Atommuellreport" /><br />
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Besonders dramatisch ist die Lage am AKW Saporischschja. Anfang März erfolgte erstmals in der Geschichte ein Waffeneinsatz an einem in Betrieb befindlichen kommerziellen Reaktor<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass">Stender, Anna: Atomares Pulverfass. .ausgestrahlt, 24.08.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/08/24/atomares-pulverfass/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Der bewaffnete Konflikt in einem Land mit massiv ausgebauter Atomindustrie stellt einen Präzedenzfall dar<ref name="Polytechnique" />. Ein Schulungsgebäude auf dem AKW-Gelände brannte ab. Im Anschluss bestand längere Zeit kein Zugang und nur eine beschränkte Fernüberwachung für IAEA-Kontrolleur*innen.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /> Ca. 500 russische Soldaten sollen die Atomanlage seit März als Stützpunkt nutzen sowie Waffen und Munition, u.a. Granatwerfer sowie Panzer- und Flugabwehrraketen, in den Gebäuden lagern<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><ref name="Polytechnique" />. Sofort nach der Besetzung brachte das russische Militär Panzer auf dem Gelände unter<ref name="Polytechnique" />. Der Standort soll auch als Abschussbasis für Raketen und Artillerie genutzt worden sein<ref name="armywarcollege" />. Eine Explosion von Munition in der Nähe des AKW ereignete sich am 14. März<ref name="Atommuellreport" />. Seit August sollen Gebäude und Gelände mehrfach von Raketen getroffen worden sein<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" />. Fotos aus dem Sommer zeigten, dass u.a ein Transformator beschädigt wurde - ein kritisches System, das die kontinuierliche Versorgung von Kühl- und Sicherheitssystemen mit Strom sicherstellt<ref name="armywarcollege" />.<br />
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Nach und nach wurden wegen der Gefahrenlage immer mehr Reaktoren heruntergefahren. Inzwischen (Stand: Oktober) sind alle Reaktoren abgeschaltet. Trotzdem bleibt die Gefahr einer Kernschmelze infolge eines Unfalls akut, da das Reaktorinventar und das Lager für abgebrannte Brennelemente selbst nach dem Herunterfahren noch viele Jahre einer intensiven Kühlung bedürfen. Hierfür ist das AKW auf eine externe Stromversorgung und funktionierende Kühl- sowie Sicherheitssysteme angewiesen. Wenn die Stromversorgung über das Netz ausfällt, kommen Dieselgeneratoren zum Einsatz, die allerdings eine auf einige Tage begrenzte Reichweite haben und von Treibstoff-Nachlieferungen abhängig sind.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
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Das ukrainische AKW-Personal steht seit der Eroberung der Atomanlage unter russischer Aufsicht. Viele Menschen sind geflohen. Teile der Führungskräfte und Arbeiter*innenschaft wurden gekidnappt, gefoltert bzw. getötet<ref name="armywarcollege" /><ref name="Tagesschau_Interview_Kotin">Interview. Atombehördenchef Kotin: "Putin will unser Energiesystem zerstören". Tagesschau, 20.10.2022. https://www.tagesschau.de/kotin-atomkraftwerke-ukraine-101.html - gesichtet 26. Oktober 2022</ref>. Die verbleibenden Mitarbeiter*innen arbeiten unter Gewaltandrohungen durch die russischen Besatzer*innen. Sie stehen unter extremer psychischen Belastung, was auch die Fehleranfälligkeit beim Umgang mit dieser Hochrisikotechnologie erhöht. Berichtet wurde von Kommunikationsproblemen der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde mit dem Personal am AKW Saporischschja aufgrund der Abschaltung des Mobilfunks und Blockierung des Internets durch die russischen Kräfte<ref name="Polytechnique" />. Darüberhinaus könnten die Besatzer*innen selbst die Sicherheit der Anlage gefährden, weil sie weniger spezifisches Know-How als die ukrainischen Mitarbeiter*innen haben. So könnten sie falsche Maßnahmen erzwingen, und reguläre Sicherheitsüberprüfungen einschränken bzw. verhindern. Auch besteht die Gefahr, dass kritische Geräte und Bauteile im Krieg nicht beschafft werden können. Zudem ist das Krisenmanagement im Falle eines Unfalls voraussichtlich erschwert, weil Evakuierungen unter den Bedingungen von Besatzung und Krieg behindert würden und nötige Infrastruktur durch die Lage in Frontnähe womöglich nur eingeschränkt nutzbar wäre.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
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Bereits 17 sicherheitsrelevante Zwischenfälle habe es in den ersten sieben Monaten der russischen Besetzung in Saporischschja gegeben, teilte Petro Kotin, Chef des ukrainischen AKW-Betreibers Energoatom in einem Interview mit der Tagesschau mit. Vier der Vorfälle standen im Zusammenhang mit der Beschädigung der Stromleitungen, die die Netzversorgung der Atomanlage sichern.<ref name="Tagesschau_Interview_Kotin" /><br />
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Die Behörden der Ukraine, Polens, Rumäniens, Moldaus und Finnlands haben als Konsequenz aus der Sicherheitssituation am AKW Saporischschja für den Fall einer Atomkatastrophe Jodtabletten an die Bevölkerung verteilt<ref name="armywarcollege" />. Bei korrekter Dosierung und gutem Timing kann so zumindest das Schilddrüsenkrebsrisiko infolge eines Super-GAUs gesenkt werden.<br />
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In einem im US Army War College-Journal veröffentlichten Papier mit Anregungen an das Pentagon stellt der Akademiker Henry D. Sokolski fest: "After what has unfolded at Zaporizhzhya, civilian nuclear plants must be viewed as prepositioned nuclear weapon"<ref name="armywarcollege" />. Trotzdem setzt die Ukraine weiter auf Atomkraft. Im Juni 2022 schloss der ukrainische AKW-Betreiber Energoatom mit dem US-amerikanischen Atomkonzern Westinghouse ein Abkommen über den Bau von vier neuen Reaktoren<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" />. Darüberhinaus wurden Absichtserklärungen zur Errichtung mehrerer sogenannter SMR (Small Modular Reactor) mit verschiedenen US-amerikanischen Firmen getroffen<ref name="Atommuellreport" />.<br />
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Neben der Gefährdung der ukrainischen Atomanlagen im Krieg besteht außerdem ein steigendes Risiko für einen Einsatz von Atomwaffen durch die Russische Föderation. Schon am 27. Februar, wenige Tage nach dem Angriff auf die Ukraine, gab Putin den Befehl aus, die Abschreckungsstreitkräfte in besondere Alarmbereitschaft zu versetzen, zu denen auch ca. 6.200 Atomsprengköpfe gehören<ref>Breidenbach, Heinrich: Atomwaffen: No first use! PLAGE NEWS 1/22, S. 4</ref>. Die indirekte Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen wurde seitem mehrfach wiederholt. Im Sommer forderten radikale Nationalisten aus der russischen Militärführung in der Ukraine sogar ganz offen den Einsatz taktischer Atomwaffen, woraufhin USA und NATO Russland Konsequenzen für eine solche Aktion ankündigten. Eine besondere Dramatik ergibt sich aus dem Umstand, dass mit Russland die angreifende Nation einer der Garanten ist, die der Ukraine 1994 im Gegenzug für deren Verzicht auf ihr Atomwaffenarsenal Schutz versprachen<ref name="SRzG" />.<ref>Zu den Garantiestaaten für die territoriale Integrität der Ukraine gehörten 1994 auch die USA.</ref> Das Szenario eines Atomkriegs zwischen Russland und USA ist seit dem Invasionsbeginn näher als sonst jemals seit den 1970er Jahren<ref>Hudson, Kate: There is an increasing risk of nuclear war over Ukraine. Campaign for Nuclear Disarmament. E-Mail vom 24.02.2022</ref>. Eine weitere Bedrohung stellt die mögliche Interpretation einer grenzüberschreitenden, militärisch ausgelösten Atomkatastrophe in der Ukraine als NATO-Bündnisfall dar, der einzelnen Expert*innen denkbar erscheint, wenn z.B. die Bevölkerungen der NATO-Mitglieder Rumänien oder Polen von massiven radioaktiven Freisetzungen betroffen würden. Die Ausrufung des Bündnisfalles könnte im schlimmsten Fall bis zum Eintritt der NATO in den Krieg mit Russland führen<ref name="armywarcollege" />.<br />
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So bleibt zum Abschluss nur festzuhalten, was eine Expert*innengruppe aus Atomindustrie, Forschung und Aufsichtsbehörden in einem wissenschaftlichen Journal zur Sicherheit von Atomkraftwerken in Kriegszeiten resümierte: "As things stand, that the attacking power does not target nuclear facilities is perhaps all we can hope for"<ref name="Polytechnique" />. AKW sind zu gefährlich, als dass sie noch gebaut, betrieben oder ihre Laufzeit verlängert werden sollte - nicht nur für aktive Kriegsparteien, sondern auch im Kontext sogenannter "hybrider Kriegsführung", z.B. Sabotage durch Spezialeinheiten.<br />
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=== Fußnoten ===<br />
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[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Militarismus]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atomkraft_im_Krieg&diff=218672022-01:Atomkraft im Krieg2022-10-26T12:28:22Z<p>WikiSysop: </p>
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<div>== Atomkraft im Krieg ==<br />
'''fb''' "Atomkraftwerke sind Bomben, die zeitweise Strom erzeugen", stand auf einem Plakat, das 2002 bei Protesten gegen die Jahrestagung des Deutschen Atomforums in Stuttgart gezeigt wurde. Damit sollte vor allem auf die Unfallgefahr im "Normalbetrieb" hingewiesen werden. Dass jedes Atomkraftwerk (AKW) mit Reaktorkernladung Ziel oder Opfer eines Kollateralschadens in einer militärischen Auseinandersetzung sein kann, wurde andererseits seit dem ersten Tag von Putins Krieg gegen die Ukraine verdeutlicht: zunächst durch die Angriffe auf das AKW Tschernobyl in der Super-GAU-Sperrzone, wenige Tage später durch die Kämpfe um das AKW Saporischschja. Beide Anlagen erhielten Einschläge von Geschossen; es war Glück, dass kein kritischer Anlagenteil getroffen wurde. Seitdem schlitterte vor allem Saporischschja, das größte AKW in Europa, mehrfach knapp an einer Katastrophe vorbei. Berichte über Einschläge auf dem Gelände, die Zerstörung des Netzanschlusses und das Einsetzen der Notstromaggregate versetzten die Öffentlichkeit anfangs in Zittern, inzwischen, infolge ständiger Wiederholung, scheint eine Gewöhnung eingesetzt zu haben. Das Risiko hat sich dabei nicht verringert.<br />
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Dabei handelt es sich, weltweit betrachtet, in der Ukraine nicht um die ersten militärischen Schläge gegen Atomkraftwerke. Es gab bereits mindestens 13 solche Angriffe auf Reaktoren in Israel, Iran, Irak und Syrien - ausgeführt von Israel, Iran, Irak, Großbritannien bzw. USA. Allerdings war keine dieser Anlagen zum Zeitpunkt der Angriffe in Betrieb. Es existiert kein spezifisches internationales Regelwerk, das den Umgang mit Atomanlagen im Krieg behandelt, aber eine Reihe Vorgaben in unterschiedlichen Verträgen. Hervorzuheben ist Teil III des Zusatzprotokolls I der Genfer Konventionen, der deutlich gegen Attacken auf Elektrizitätswerke im Krieg spricht. Russland zog sich 2019 von einzelnen Verpflichtungen aus diesem Protokoll zurück, was aber nicht als umfassender Austritt aus dem Vertragswerk betrachtet wird<ref name="Wikipedia">Protocol I. Wikipedia. https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Protocol_I&oldid=1117909633 - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Die USA, Indien, Iran, Israel, Pakistan und Türkei ratifizierten das Protokoll nie<ref>Anzumerken ist außerdem, dass das Pentagon seinen Militärkommandant*innen im 2016er "Law of War Manual" die Entscheidung überlässt, ob sie AKW angreifen, wenn diese das "wichtig" finden (vgl. Sokolski (2022)).</ref>.<ref name="armywarcollege">Sokolski, Henry D.: Present Danger: Nuclear Power Plants in War. The US Army War College Quarterly: Parameters 52(4), 19.10.2022. https://press.armywarcollege.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=3178&context=parameters - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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In der Ukraine befinden sich 15 Reaktoren in Betrieb, vier weitere sind stillgelegt<ref name="Tabelle">Übersichtstabelle "Nuclear Power Stations Ukraine" von Jan Haverkamp, 24.02.2022</ref>. Reaktor 4 von Tschernobyl war 1986 explodiert und ist bis heute stark radioaktiv kontaminiert<ref name="ShortBriefing">Jan Haverkamp: Short Briefing: Russian war on Ukraine – nuclear energy risks. 24.02.2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Ukraine">Stender, Anna: Atomkraft in der Ukraine. .ausgestrahlt, 02.03.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/02/atomkraft-der-ukraine/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. AKW produzieren etwa die Hälfte des Stroms des Landes<ref name="BeyondNuclear">Gunter, Linda Pentz: Nuclear warfare without bombs. Ukraine’s reactors could be in the line of fire. Beyond Nuclear International, 30.01.2022. https://beyondnuclearinternational.org/2022/01/30/nuclear-warfare-without-bombs/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. In der Tschernobyl-Sperrzone befinden sich mehrere Zwischenlager für alle Arten Atommüll, zwei oberflächennahe Endlager und Konditionierungseinrichtungen. Eines der Zwischenlager enthält in einem Lagerbecken etwa 20.000 abgebrannte Brennelemente aus den drei 1986 nicht beschädigten, inzwischen stillgelegten, Tschernobyl-Reaktoren<ref name="ShortBriefing" />. Ein Zwischenlager unter freiem Himmel mit mehr als 3.000 abgebrannten Brennelementen liegt zusätzlich auf dem Gelände des AKW Saporischschja. Darüberhinaus existieren Zwischenlager für andere radioaktive Abfälle an verschiedenen weiteren Orten in der Ukraine, u.a. in Charkiw und Kiew. Außerdem befinden sich in der Ukraine radioaktive Absetzbecken mit kontaminierten Abfällen aus der Uranförderung und -aufbereitung. Darüberhinaus befinden sich Forschungsreaktoren in Kiew und Charkiw, sowie an letzterem Ort außerdem eine Neutronenquelle und eine Isotopenproduktionsanlage. Auf der seit 2014 durch Russland besetzten Krim existiert ein weiterer Forschungsreaktor und die kritische Anordnung "Sph IR-100". Auch gibt es viele Strahlenquellen in Zwischenlagern, Kohlekraftwerken und Kohlebergwerken in der seit 2014 besetzten Ostukraine.<ref name="Atommuellreport">Schönberger, Ursula: "Länderbericht Ukraine". atommüllreport, 25.05.2022. https://www.atommuellreport.de/themen/detail/atommuellreport-laenderbericht-ukraine.html - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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Die AKW in der Ukraine befinden sich in einem schlechten Zustand: Jahrelang wurden nur die dringendsten Reparaturen vorgenommen, notwendige Sicherheitsnachrüstungen erfolgten kaum, trotzdem erlaubte die Atomaufsichtsbehörde immer weitere Laufzeitverlängerungen und Leistungserhöhungen der alternden Reaktoren. In den vergangenen zehn Jahren ereigneten sich mehrere schwerwiegende Unfälle und Sicherheitsprobleme, die teils zunächst vertuscht wurden. Die Reaktoren charakterisieren sich als höchst störanfällig. Problematisch ist außerdem der vor allem politisch motivierte Einsatz US-amerikanischer Brennelemente in ukrainischen Reaktoren, von denen keiner dafür ausgelegt ist. Daraus können sich zusätzliche Sicherheitsprobleme ergeben. Grundsätzlich ist die Atomindustrie der Ukraine von der Versorgung mit russischen Brennelementen abhängig.<ref name="Atommuellreport" /><br />
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Kein Reaktor ist gegen militärische Attacken geschützt. Eine Atomkatastrophe mit massiver Freisetzung ist durch derartige Angriffe bei allen aktiven kommerziellen Atomkraftwerken möglich.<ref name="ShortBriefing" /> Dabei können Atomanlagen Ziele von direkten Attacken, Opfer von Kollateralschäden beispielsweise durch Geschosse, die ihr eigentliches Ziel verfehlen, oder auch Terrorziele werden<ref name="BeyondNuclear" />. Konkret kann es sich dabei insbesondere um den Einschlag von Explosivgeschossen in sicherheitskritische Anlagenteile oder Kernschmelze infolge der Trennung von Kühl- und Sicherheitssystemen von der Energieversorgung handeln. So können das Reaktor-Containment aufgeschlagen, abgebrannte Brennelemente durch Bombardierung beschädigt oder die Kühlwasserversorgung unterbrochen werden.<ref name="Polytechnique">Herviou, Karine; Meshkati, Najmedin; Ustohalova, Veronika; Gupta, Olivier: What are the risks of nuclear power plants in wartime? Polytechnique insights, 12.07.2022. https://www.polytechnique-insights.com/en/columns/geopolitics/how-to-protect-nuclear-power-plants-in-wartime/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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Schon vor der russischen Invasion kam es zu terroristischen bzw. sabotagebedingten Vorfällen, die sich auf Sicherheitssysteme der ukrainischen AKW auswirkten. 2015 führte beispielsweise die Sprengung von Hochspannungsmasten in der Krim-Region durch Separatist*innen zur Notabschaltung eines Reaktors wegen Netzinstabilität.<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" /> Auch bedrohte 2015 in der Ostukraine die Explosion von Munition in der Nähe eines Lagers für Strahlungsquellen deren Sicherheit. Aufgrund der absehbaren Bedrohungslage fand 2017 mit Unterstützung der USA eine Übung zum Schutz der kritischen Infrastruktur des AKW Saporischschja statt, nachdem sich die Ukraine schon 2014 mit der Bitte um Hilfe bei der Sicherung von Atomanlagen an NATO, EU und die USA gewandt hatte. Auch gab es Berichte von aus Kohlekraftwerken verschwundenen Strahlenquellen, die von Separatist*innen verkauft worden sein sollen.<ref name="Atommuellreport" /><br />
<br />
Gleich am ersten Tag der Invasion in der Ukraine besetzten die russischen Truppen das Gelände des 1986 havarierten AKW Tschernobyl<ref name="ZDF">Stillgelegtes Kernkraftwerk. Kiew: Russland hat Tschernobyl eingenommen. ZDF, 24.02.2022. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/tschernobyl-kernkraftwerk-krieg-russland-ukraine-100.html - gesichtet 24.10.2022</ref>. In den folgenden Tagen wurden Radioaktivitäts-Spikes von den Messsystemen zur Überwachung der Umweltradioaktivität in der Sperrzone festgestellt, die teils erheblich über den dort "normalen" Werten lagen. Dem russischen Anti-Atom-Experten Andrey Ozharovsky zufolge wurden diese vermutlich durch schwere Militärfahrzeuge, deren Manöver den verseuchten Boden aufgewirbelt hatten, verursacht<ref name="Ozharovsky">Ozharovsky, Andrey: Рост мощности дозы гамма излучения на площадке Чернобыльской АЭС. Facebook, 25.02.2022. https://www.facebook.com/andrey.ozharovsky/posts/4802038569873501 - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Am 9. März wurden die Atomanlagen in Tschernobyl von der externen Stromversorgung abgeschnitten und liefen mit Notstrom. Erst am 14. März konnte die Stromversorgung wiederhergestellt werden. Bei Plünderungen wurden im März außerdem technische Ausrüstung und wichtige Instrumente eines Labors zur Untersuchung der radiologischen Situation in der Tschernobyl-Sperrzone sowie das Frühwarnsystem für Störfälle und weitere Strahlenmesseinrichtungen zerstört.<ref name="Atommuellreport" /> Wegen des Ausfalls der Überwachungssysteme und der Plünderungen wird eine Gefahr unkontrollierter Verbreitung von atomwaffenfähigem Material aus den Atomanlagen gesehen, da die vorgesehene Verfolgung solcher Materialien, z.B. durch die IAEA, und die Überwachung ihrer weiteren Verwendung kaum noch möglich ist<ref name="SRzG">Russlands Einmarsch in die Ukraine bedroht die Freiheit nachrückender Generationen weltweit. Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, 25.02.2022. https://generationengerechtigkeit.info/russlands-einmarsch-in-die-ukraine/ - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Tschernobyl gab es eine Reihe von Berichten über russische Soldaten mit Strahlenschäden. Diese könnten sie sich beim Ausheben von Schützengräben in verseuchtem Boden und Aufenthalt in der kontaminierten Sperrzone zugezogen haben<ref name="Atommuellreport" />. Erst am 21. März konnte nach ca. vier Wochen ein erster Schichtwechsel in Tschernobyl erfolgen. Die Besatzer*innen hatten die Rotation des Personals nicht erlaubt<ref name="Atommuellreport" />. Fehlende Schichtwechsel in Atomanlagen im Krieg bedeuten ein erhöhtes Risiko menschlichen Versagens<ref name="Polytechnique" />.<br />
<br />
Aber auch andere Atomanlagen wurden bereits Opfer russischen Beschusses: Das Atomforschungsinstitut in Kiew wurde im März mehrfach Ziel russischer Angriffe: Am 6., 8. und 10./11. März schlugen Geschosse ein und verursachten erhebliche Schäden am Gebäude. Auch das Forschungszentrum in Charkiw wurde im März infolge von Bombardierung beschädigt und von der Stromversorgung abgeschnitten. Ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle wurde am 26. Februar in Charkiw getroffen und in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar war ein weiteres Lager in Kiew das Ziel von Granatenbeschuss.<ref name="Atommuellreport" /><br />
<br />
Besonders dramatisch ist die Lage am AKW Saporischschja. Anfang März erfolgte erstmals in der Geschichte ein Waffeneinsatz an einem in Betrieb befindlichen kommerziellen Reaktor<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass">Stender, Anna: Atomares Pulverfass. .ausgestrahlt, 24.08.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/08/24/atomares-pulverfass/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Der bewaffnete Konflikt in einem Land mit massiv ausgebauter Atomindustrie stellt einen Präzedenzfall dar<ref name="Polytechnique" />. Ein Schulungsgebäude auf dem AKW-Gelände brannte ab. Im Anschluss bestand längere Zeit kein Zugang und nur eine beschränkte Fernüberwachung für IAEA-Kontrolleur*innen.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /> Ca. 500 russische Soldaten sollen die Atomanlage seit März als Stützpunkt nutzen sowie Waffen und Munition, u.a. Granatwerfer sowie Panzer- und Flugabwehrraketen, in den Gebäuden lagern<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><ref name="Polytechnique" />. Sofort nach der Besetzung brachte das russische Militär Panzer auf dem Gelände unter<ref name="Polytechnique" />. Der Standort soll auch als Abschussbasis für Raketen und Artillerie genutzt worden sein<ref name="armywarcollege" />. Eine Explosion von Munition in der Nähe des AKW ereignete sich am 14. März<ref name="Atommuellreport" />. Seit August sollen Gebäude und Gelände mehrfach von Raketen getroffen worden sein<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" />. Fotos aus dem Sommer zeigten, dass u.a ein Transformator beschädigt wurde - ein kritisches System, das die kontinuierliche Versorgung von Kühl- und Sicherheitssystemen mit Strom sicherstellt<ref name="armywarcollege" />.<br />
<br />
Nach und nach wurden wegen der Gefahrenlage immer mehr Reaktoren heruntergefahren. Inzwischen (Stand: Oktober) sind alle Reaktoren abgeschaltet. Trotzdem bleibt die Gefahr einer Kernschmelze infolge eines Unfalls akut, da das Reaktorinventar und das Lager für abgebrannte Brennelemente selbst nach dem Herunterfahren noch viele Jahre einer intensiven Kühlung bedürfen. Hierfür ist das AKW auf eine externe Stromversorgung und funktionierende Kühl- sowie Sicherheitssysteme angewiesen. Wenn die Stromversorgung über das Netz ausfällt, kommen Dieselgeneratoren zum Einsatz, die allerdings eine auf einige Tage begrenzte Reichweite haben und von Treibstoff-Nachlieferungen abhängig sind.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
<br />
Das ukrainische AKW-Personal steht seit der Eroberung der Atomanlage unter russischer Aufsicht. Viele Menschen sind geflohen. Teile der Führungskräfte und Arbeiter*innenschaft wurden gekidnappt, gefoltert bzw. getötet<ref name="armywarcollege" /><ref name="Tagesschau_Interview_Kotin">Interview. Atombehördenchef Kotin: "Putin will unser Energiesystem zerstören". Tagesschau, 20.10.2022. https://www.tagesschau.de/kotin-atomkraftwerke-ukraine-101.html - gesichtet 26. Oktober 2022</ref>. Die verbleibenden Mitarbeiter*innen arbeiten unter Gewaltandrohungen durch die russischen Besatzer*innen. Sie stehen unter extremer psychischen Belastung, was auch die Fehleranfälligkeit beim Umgang mit dieser Hochrisikotechnologie erhöht. Berichtet wurde von Kommunikationsproblemen der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde mit dem Personal am AKW Saporischschja aufgrund der Abschaltung des Mobilfunks und Blockierung des Internets durch die russischen Kräfte<ref name="Polytechnique" />. Darüberhinaus könnten die Besatzer*innen selbst die Sicherheit der Anlage gefährden, weil sie weniger spezifisches Know-How als die ukrainischen Mitarbeiter*innen haben. So könnten sie falsche Maßnahmen erzwingen, und reguläre Sicherheitsüberprüfungen einschränken bzw. verhindern. Auch besteht die Gefahr, dass kritische Geräte und Bauteile im Krieg nicht beschafft werden können. Zudem ist das Krisenmanagement im Falle eines Unfalls voraussichtlich erschwert, weil Evakuierungen unter den Bedingungen von Besatzung und Krieg behindert würden und nötige Infrastruktur durch die Lage in Frontnähe womöglich nur eingeschränkt nutzbar wäre.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
<br />
Die Behörden der Ukraine, Polens, Rumäniens, Moldaus und Finnlands haben als Konsequenz aus der Sicherheitssituation am AKW Saporischschja für den Fall einer Atomkatastrophe Jodtabletten an die Bevölkerung verteilt<ref name="armywarcollege" />. Bei korrekter Dosierung und gutem Timing kann so zumindest das Schilddrüsenkrebsrisiko infolge eines Super-GAUs gesenkt werden.<br />
<br />
In einem im US Army War College-Journal veröffentlichten Papier mit Anregungen an das Pentagon stellt der Akademiker Henry D. Sokolski fest: "After what has unfolded at Zaporizhzhya, civilian nuclear plants must be viewed as prepositioned nuclear weapon"<ref name="armywarcollege" />. Trotzdem setzt die Ukraine weiter auf Atomkraft. Im Juni 2022 schloss der ukrainische AKW-Betreiber Energoatom mit dem US-amerikanischen Atomkonzern Westinghouse ein Abkommen über den Bau von vier neuen Reaktoren<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" />. Darüberhinaus wurden Absichtserklärungen zur Errichtung mehrerer sogenannter SMR (Small Modular Reactor) mit verschiedenen US-amerikanischen Firmen getroffen<ref name="Atommuellreport" />.<br />
<br />
Neben der Gefährdung der ukrainischen Atomanlagen im Krieg besteht außerdem ein steigendes Risiko für einen Einsatz von Atomwaffen durch die Russische Föderation. Schon am 27. Februar, wenige Tage nach dem Angriff auf die Ukraine, gab Putin den Befehl aus, die Abschreckungsstreitkräfte in besondere Alarmbereitschaft zu versetzen, zu denen auch ca. 6.200 Atomsprengköpfe gehören<ref>Breidenbach, Heinrich: Atomwaffen: No first use! PLAGE NEWS 1/22, S. 4</ref>. Die indirekte Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen wurde seitem mehrfach wiederholt. Im Sommer forderten radikale Nationalisten aus der russischen Militärführung in der Ukraine sogar ganz offen den Einsatz taktischer Atomwaffen, woraufhin USA und NATO Russland Konsequenzen für eine solche Aktion ankündigten. Eine besondere Dramatik ergibt sich aus dem Umstand, dass mit Russland die angreifende Nation einer der Garanten ist, die der Ukraine 1994 im Gegenzug für deren Verzicht auf ihr Atomwaffenarsenal Schutz versprachen<ref name="SRzG" />.<ref>Zu den Garantiestaaten für die territoriale Integrität der Ukraine gehörten 1994 auch die USA.</ref> Das Szenario eines Atomkriegs zwischen Russland und USA ist seit dem Invasionsbeginn näher als sonst jemals seit den 1970er Jahren<ref>Hudson, Kate: There is an increasing risk of nuclear war over Ukraine. Campaign for Nuclear Disarmament. E-Mail vom 24.02.2022</ref>. Eine weitere Bedrohung stellt die mögliche Interpretation einer grenzüberschreitenden, militärisch ausgelösten Atomkatastrophe in der Ukraine als NATO-Bündnisfall dar, der einzelnen Expert*innen denkbar erscheint, wenn z.B. die Bevölkerungen der NATO-Mitglieder Rumänien oder Polen von massiven radioaktiven Freisetzungen betroffen würden. Die Ausrufung des Bündnisfalles könnte im schlimmsten Fall bis zum Eintritt der NATO in den Krieg mit Russland führen<ref name="armywarcollege" />.<br />
<br />
So bleibt zum Abschluss nur festzuhalten, was eine Expert*innengruppe aus Atomindustrie, Forschung und Aufsichtsbehörden in einem wissenschaftlichen Journal zur Sicherheit von Atomkraftwerken in Kriegszeiten resümierte: "As things stand, that the attacking power does not target nuclear facilities is perhaps all we can hope for"<ref name="Polytechnique" />. AKW sind zu gefährlich, als dass sie noch gebaut, betrieben oder ihre Laufzeit verlängert werden sollte - nicht nur für aktive Kriegsparteien, sondern auch im Kontext sogenannter "hybrider Kriegsführung", z.B. Sabotage durch Spezialeinheiten.<br />
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=== Fußnoten ===<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Militarismus]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atomkraft_im_Krieg&diff=218662022-01:Atomkraft im Krieg2022-10-26T12:27:05Z<p>WikiSysop: </p>
<hr />
<div>== Atomkraft im Krieg ==<br />
'''fb''' "Atomkraftwerke sind Bomben, die zeitweise Strom erzeugen", stand auf einem Plakat, das 2002 bei Protesten gegen die Jahrestagung des Deutschen Atomforums in Stuttgart gezeigt wurde. Damit sollte vor allem auf die Unfallgefahr im "Normalbetrieb" hingewiesen werden. Dass jedes Atomkraftwerk (AKW) mit Reaktorkernladung Ziel oder Opfer eines Kollateralschadens in einer militärischen Auseinandersetzung sein kann, wurde andererseits seit dem ersten Tag von Putins Krieg gegen die Ukraine verdeutlicht: zunächst durch die Angriffe auf das AKW Tschernobyl in der Super-GAU-Sperrzone, wenige Tage später durch die Kämpfe um das AKW Saporischschja. Beide Anlagen erhielten Einschläge von Geschossen; es war Glück, dass kein kritischer Anlagenteil getroffen wurde. Seitdem schlitterte vor allem Saporischschja, das größte AKW in Europa, mehrfach knapp an einer Katastrophe vorbei. Berichte über Einschläge auf dem Gelände, die Zerstörung des Netzanschlusses und das Einsetzen der Notstromaggregate versetzten die Öffentlichkeit anfangs in Zittern, inzwischen, infolge ständiger Wiederholung, scheint eine Gewöhnung eingesetzt zu haben. Das Risiko hat sich dabei nicht verringert.<br />
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Dabei handelt es sich, weltweit betrachtet, in der Ukraine nicht um die ersten militärischen Schläge gegen Atomkraftwerke. Es gab bereits mindestens 13 solche Angriffe auf Reaktoren in Israel, Iran, Irak und Syrien - ausgeführt von Israel, Iran, Irak, Großbritannien bzw. USA. Allerdings war keine dieser Anlagen zum Zeitpunkt der Angriffe in Betrieb. Es existiert kein spezifisches internationales Regelwerk, das den Umgang mit Atomanlagen im Krieg behandelt, aber eine Reihe Vorgaben in unterschiedlichen Verträgen. Hervorzuheben ist Teil III des Zusatzprotokolls I der Genfer Konventionen, der deutlich gegen Attacken auf Elektrizitätswerke im Krieg spricht. Russland zog sich 2019 von einzelnen Verpflichtungen aus diesem Protokoll zurück, was aber nicht als umfassender Austritt aus dem Vertragswerk betrachtet wird<ref name="Wikipedia">Protocol I. Wikipedia. https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Protocol_I&oldid=1117909633 - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Die USA, Indien, Iran, Israel, Pakistan und Türkei ratifizierten das Protokoll nie<ref>Anzumerken ist außerdem, dass das Pentagon seinen Militärkommandant*innen im 2016er "Law of War Manual" die Entscheidung überlässt, ob sie AKW angreifen, wenn diese das "wichtig" finden (vgl. Sokolski (2022)).</ref>.<ref name="armywarcollege">Sokolski, Henry D.: Present Danger: Nuclear Power Plants in War. The US Army War College Quarterly: Parameters 52(4), 19.10.2022. https://press.armywarcollege.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=3178&context=parameters - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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In der Ukraine befinden sich 15 Reaktoren in Betrieb, vier weitere sind stillgelegt<ref name="Tabelle">Übersichtstabelle "Nuclear Power Stations Ukraine" von Jan Haverkamp, 24.02.2022</ref>. Reaktor 4 von Tschernobyl war 1986 explodiert und ist bis heute stark radioaktiv kontaminiert<ref name="ShortBriefing">Jan Haverkamp: Short Briefing: Russian war on Ukraine – nuclear energy risks. 24.02.2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Ukraine">Stender, Anna: Atomkraft in der Ukraine. .ausgestrahlt, 02.03.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/02/atomkraft-der-ukraine/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. AKW produzieren etwa die Hälfte des Stroms des Landes<ref name="BeyondNuclear">Gunter, Linda Pentz: Nuclear warfare without bombs. Ukraine’s reactors could be in the line of fire. Beyond Nuclear International, 30.01.2022. https://beyondnuclearinternational.org/2022/01/30/nuclear-warfare-without-bombs/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. In der Tschernobyl-Sperrzone befinden sich mehrere Zwischenlager für alle Arten Atommüll, zwei oberflächennahe Endlager und Konditionierungseinrichtungen. Eines der Zwischenlager enthält in einem Lagerbecken etwa 20.000 abgebrannte Brennelemente aus den drei 1986 nicht beschädigten, inzwischen stillgelegten, Tschernobyl-Reaktoren<ref name="ShortBriefing" />. Ein Zwischenlager unter freiem Himmel mit mehr als 3.000 abgebrannten Brennelementen liegt zusätzlich auf dem Gelände des AKW Saporischschja. Darüberhinaus existieren Zwischenlager für andere radioaktive Abfälle an verschiedenen weiteren Orten in der Ukraine, u.a. in Charkiw und Kiew. Außerdem befinden sich in der Ukraine radioaktive Absetzbecken mit kontaminierten Abfällen aus der Uranförderung und -aufbereitung. Darüberhinaus befinden sich Forschungsreaktoren in Kiew und Charkiw, sowie an letzterem Ort außerdem eine Neutronenquelle und eine Isotopenproduktionsanlage. Auf der seit 2014 durch Russland besetzten Krim existiert ein weiterer Forschungsreaktor und die kritische Anordnung "Sph IR-100". Auch gibt es viele Strahlenquellen in Zwischenlagern, Kohlekraftwerken und Kohlebergwerken in der seit 2014 besetzten Ostukraine.<ref name="Atommuellreport">Schönberger, Ursula: "Länderbericht Ukraine". atommüllreport, 25.05.2022. https://www.atommuellreport.de/themen/detail/atommuellreport-laenderbericht-ukraine.html - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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Die AKW in der Ukraine befinden sich in einem schlechten Zustand: Jahrelang wurden nur die dringendsten Reparaturen vorgenommen, notwendige Sicherheitsnachrüstungen erfolgten kaum, trotzdem erlaubte die Atomaufsichtsbehörde immer weitere Laufzeitverlängerungen und Leistungserhöhungen der alternden Reaktoren. In den vergangenen zehn Jahren ereigneten sich mehrere schwerwiegende Unfälle und Sicherheitsprobleme, die teils zunächst vertuscht wurden. Die Reaktoren charakterisieren sich als höchst störanfällig. Problematisch ist außerdem der vor allem politisch motivierte Einsatz US-amerikanischer Brennelemente in ukrainischen Reaktoren, von denen keiner dafür ausgelegt ist. Daraus können sich zusätzliche Sicherheitsprobleme ergeben. Grundsätzlich ist die Atomindustrie der Ukraine von der Versorgung mit russischen Brennelementen abhängig.<ref name="Atommuellreport" /><br />
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Kein Reaktor ist gegen militärische Attacken geschützt. Eine Atomkatastrophe mit massiver Freisetzung ist durch derartige Angriffe bei allen aktiven kommerziellen Atomkraftwerken möglich.<ref name="ShortBriefing" /> Dabei können Atomanlagen Ziele von direkten Attacken, Opfer von Kollateralschäden beispielsweise durch Geschosse, die ihr eigentliches Ziel verfehlen, oder auch Terrorziele werden<ref name="BeyondNuclear" />. Konkret kann es sich dabei insbesondere um den Einschlag von Explosivgeschossen in sicherheitskritische Anlagenteile oder Kernschmelze infolge der Trennung von Kühl- und Sicherheitssystemen von der Energieversorgung handeln. So können das Reaktor-Containment aufgeschlagen, abgebrannte Brennelemente durch Bombardierung beschädigt oder die Kühlwasserversorgung unterbrochen werden.<ref name="Polytechnique">Herviou, Karine; Meshkati, Najmedin; Ustohalova, Veronika; Gupta, Olivier: What are the risks of nuclear power plants in wartime? Polytechnique insights, 12.07.2022. https://www.polytechnique-insights.com/en/columns/geopolitics/how-to-protect-nuclear-power-plants-in-wartime/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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Schon vor der russischen Invasion kam es zu terroristischen bzw. sabotagebedingten Vorfällen, die sich auf Sicherheitssysteme der ukrainischen AKW auswirkten. 2015 führte beispielsweise die Sprengung von Hochspannungsmasten in der Krim-Region durch Separatist*innen zur Notabschaltung eines Reaktors wegen Netzinstabilität.<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" /> Auch bedrohte 2015 in der Ostukraine die Explosion von Munition in der Nähe eines Lagers für Strahlungsquellen deren Sicherheit. Aufgrund der absehbaren Bedrohungslage fand 2017 mit Unterstützung der USA eine Übung zum Schutz der kritischen Infrastruktur des AKW Saporischschja statt, nachdem sich die Ukraine schon 2014 mit der Bitte um Hilfe bei der Sicherung von Atomanlagen an NATO, EU und die USA gewandt hatte. Auch gab es Berichte von aus Kohlekraftwerken verschwundenen Strahlenquellen, die von Separatist*innen verkauft worden sein sollen.<ref name="Atommuellreport" /><br />
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Gleich am ersten Tag der Invasion in der Ukraine besetzten die russischen Truppen das Gelände des 1986 havarierten AKW Tschernobyl<ref name="ZDF">Stillgelegtes Kernkraftwerk. Kiew: Russland hat Tschernobyl eingenommen. ZDF, 24.02.2022. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/tschernobyl-kernkraftwerk-krieg-russland-ukraine-100.html - gesichtet 24.10.2022</ref>. In den folgenden Tagen wurden Radioaktivitäts-Spikes von den Messsystemen zur Überwachung der Umweltradioaktivität in der Sperrzone festgestellt, die teils erheblich über den dort "normalen" Werten lagen. Dem russischen Anti-Atom-Experten Andrey Ozharovsky zufolge wurden diese vermutlich durch schwere Militärfahrzeuge, deren Manöver den verseuchten Boden aufgewirbelt hatten, verursacht<ref name="Ozharovsky">Ozharovsky, Andrey: Рост мощности дозы гамма излучения на площадке Чернобыльской АЭС. Facebook, 25.02.2022. https://www.facebook.com/andrey.ozharovsky/posts/4802038569873501 - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Am 9. März wurden die Atomanlagen in Tschernobyl von der externen Stromversorgung abgeschnitten und liefen mit Notstrom. Erst am 14. März konnte die Stromversorgung wiederhergestellt werden. Bei Plünderungen wurden im März außerdem technische Ausrüstung und wichtige Instrumente eines Labors zur Untersuchung der radiologischen Situation in der Tschernobyl-Sperrzone sowie das Frühwarnsystem für Störfälle und weitere Strahlenmesseinrichtungen zerstört.<ref name="Atommuellreport" /> Wegen des Ausfalls der Überwachungssysteme und der Plünderungen wird eine Gefahr unkontrollierter Verbreitung von atomwaffenfähigem Material aus den Atomanlagen gesehen, da die vorgesehene Verfolgung solcher Materialien, z.B. durch die IAEA, und die Überwachung ihrer weiteren Verwendung kaum noch möglich ist<ref name="SRzG">Russlands Einmarsch in die Ukraine bedroht die Freiheit nachrückender Generationen weltweit. Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, 25.02.2022. https://generationengerechtigkeit.info/russlands-einmarsch-in-die-ukraine/ - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Tschernobyl gab es eine Reihe von Berichten über russische Soldaten mit Strahlenschäden. Diese könnten sie sich beim Ausheben von Schützengräben in verseuchtem Boden und Aufenthalt in der kontaminierten Sperrzone zugezogen haben<ref name="Atommuellreport" />. Erst am 21. März konnte nach ca. vier Wochen ein erster Schichtwechsel in Tschernobyl erfolgen. Die Besatzer*innen hatten die Rotation des Personals nicht erlaubt<ref name="Atommuellreport" />. Fehlende Schichtwechsel in Atomanlagen im Krieg bedeuten ein erhöhtes Risiko menschlichen Versagens<ref name="Polytechnique" />.<br />
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Aber auch andere Atomanlagen wurden bereits Opfer russischen Beschusses: Das Atomforschungsinstitut in Kiew wurde im März mehrfach Ziel russischer Angriffe: Am 6., 8. und 10./11. März schlugen Geschosse ein und verursachten erhebliche Schäden am Gebäude. Auch das Forschungszentrum in Charkiw wurde im März infolge von Bombardierung beschädigt und von der Stromversorgung abgeschnitten. Ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle wurde am 26. Februar in Charkiw getroffen und in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar war ein weiteres Lager in Kiew das Ziel von Granatenbeschuss.<ref name="Atommuellreport" /><br />
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Besonders dramatisch ist die Lage am AKW Saporischschja. Anfang März erfolgte erstmals in der Geschichte ein Waffeneinsatz an einem in Betrieb befindlichen kommerziellen Reaktor<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass">Stender, Anna: Atomares Pulverfass. .ausgestrahlt, 24.08.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/08/24/atomares-pulverfass/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Der bewaffnete Konflikt in einem Land mit massiv ausgebauter Atomindustrie stellt einen Präzedenzfall dar<ref name="Polytechnique" />. Ein Schulungsgebäude auf dem AKW-Gelände brannte ab. Im Anschluss bestand längere Zeit kein Zugang und nur eine beschränkte Fernüberwachung für IAEA-Kontrolleur*innen.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /> Ca. 500 russische Soldaten sollen die Atomanlage seit März als Stützpunkt nutzen sowie Waffen und Munition, u.a. Granatwerfer sowie Panzer- und Flugabwehrraketen, in den Gebäuden lagern<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><ref name="Polytechnique" />. Sofort nach der Besetzung brachte das russische Militär Panzer auf dem Gelände unter<ref name="Polytechnique" />. Der Standort soll auch als Abschussbasis für Raketen und Artillerie genutzt worden sein<ref name="armywarcollege" />. Eine Explosion von Munition in der Nähe des AKW ereignete sich am 14. März<ref name="Atommuellreport" />. Seit August sollen Gebäude und Gelände mehrfach von Raketen getroffen worden sein<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" />. Fotos aus dem Sommer zeigten, dass u.a ein Transformator beschädigt wurde - ein kritisches System, das die kontinuierliche Versorgung von Kühl- und Sicherheitssystemen mit Strom sicherstellt<ref name="armywarcollege" />.<br />
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Nach und nach wurden wegen der Gefahrenlage immer mehr Reaktoren heruntergefahren. Inzwischen (Stand: Oktober) sind alle Reaktoren abgeschaltet. Trotzdem bleibt die Gefahr einer Kernschmelze infolge eines Unfalls akut, da das Reaktorinventar und das Lager für abgebrannte Brennelemente selbst nach dem Herunterfahren noch viele Jahre einer intensiven Kühlung bedürfen. Hierfür ist das AKW auf eine externe Stromversorgung und funktionierende Kühl- sowie Sicherheitssysteme angewiesen. Wenn die Stromversorgung über das Netz ausfällt, kommen Dieselgeneratoren zum Einsatz, die allerdings eine auf einige Tage begrenzte Reichweite haben und von Treibstoff-Nachlieferungen abhängig sind.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
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Das ukrainische AKW-Personal steht seit der Eroberung der Atomanlage unter russischer Aufsicht. Viele Menschen sind geflohen. Teile der Führungskräfte und Arbeiter*innenschaft wurden gekidnappt, gefoltert bzw. getötet<ref name="armywarcollege" /><ref name="Tagesschau_Interview_Kotin">https://www.tagesschau.de/kotin-atomkraftwerke-ukraine-101.html - gesichtet 26. Oktober 2022</ref>. Die verbleibenden Mitarbeiter*innen arbeiten unter Gewaltandrohungen durch die russischen Besatzer*innen. Sie stehen unter extremer psychischen Belastung, was auch die Fehleranfälligkeit beim Umgang mit dieser Hochrisikotechnologie erhöht. Berichtet wurde von Kommunikationsproblemen der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde mit dem Personal am AKW Saporischschja aufgrund der Abschaltung des Mobilfunks und Blockierung des Internets durch die russischen Kräfte<ref name="Polytechnique" />. Darüberhinaus könnten die Besatzer*innen selbst die Sicherheit der Anlage gefährden, weil sie weniger spezifisches Know-How als die ukrainischen Mitarbeiter*innen haben. So könnten sie falsche Maßnahmen erzwingen, und reguläre Sicherheitsüberprüfungen einschränken bzw. verhindern. Auch besteht die Gefahr, dass kritische Geräte und Bauteile im Krieg nicht beschafft werden können. Zudem ist das Krisenmanagement im Falle eines Unfalls voraussichtlich erschwert, weil Evakuierungen unter den Bedingungen von Besatzung und Krieg behindert würden und nötige Infrastruktur durch die Lage in Frontnähe womöglich nur eingeschränkt nutzbar wäre.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
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Die Behörden der Ukraine, Polens, Rumäniens, Moldaus und Finnlands haben als Konsequenz aus der Sicherheitssituation am AKW Saporischschja für den Fall einer Atomkatastrophe Jodtabletten an die Bevölkerung verteilt<ref name="armywarcollege" />. Bei korrekter Dosierung und gutem Timing kann so zumindest das Schilddrüsenkrebsrisiko infolge eines Super-GAUs gesenkt werden.<br />
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In einem im US Army War College-Journal veröffentlichten Papier mit Anregungen an das Pentagon stellt der Akademiker Henry D. Sokolski fest: "After what has unfolded at Zaporizhzhya, civilian nuclear plants must be viewed as prepositioned nuclear weapon"<ref name="armywarcollege" />. Trotzdem setzt die Ukraine weiter auf Atomkraft. Im Juni 2022 schloss der ukrainische AKW-Betreiber Energoatom mit dem US-amerikanischen Atomkonzern Westinghouse ein Abkommen über den Bau von vier neuen Reaktoren<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" />. Darüberhinaus wurden Absichtserklärungen zur Errichtung mehrerer sogenannter SMR (Small Modular Reactor) mit verschiedenen US-amerikanischen Firmen getroffen<ref name="Atommuellreport" />.<br />
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Neben der Gefährdung der ukrainischen Atomanlagen im Krieg besteht außerdem ein steigendes Risiko für einen Einsatz von Atomwaffen durch die Russische Föderation. Schon am 27. Februar, wenige Tage nach dem Angriff auf die Ukraine, gab Putin den Befehl aus, die Abschreckungsstreitkräfte in besondere Alarmbereitschaft zu versetzen, zu denen auch ca. 6.200 Atomsprengköpfe gehören<ref>Breidenbach, Heinrich: Atomwaffen: No first use! PLAGE NEWS 1/22, S. 4</ref>. Die indirekte Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen wurde seitem mehrfach wiederholt. Im Sommer forderten radikale Nationalisten aus der russischen Militärführung in der Ukraine sogar ganz offen den Einsatz taktischer Atomwaffen, woraufhin USA und NATO Russland Konsequenzen für eine solche Aktion ankündigten. Eine besondere Dramatik ergibt sich aus dem Umstand, dass mit Russland die angreifende Nation einer der Garanten ist, die der Ukraine 1994 im Gegenzug für deren Verzicht auf ihr Atomwaffenarsenal Schutz versprachen<ref name="SRzG" />.<ref>Zu den Garantiestaaten für die territoriale Integrität der Ukraine gehörten 1994 auch die USA.</ref> Das Szenario eines Atomkriegs zwischen Russland und USA ist seit dem Invasionsbeginn näher als sonst jemals seit den 1970er Jahren<ref>Hudson, Kate: There is an increasing risk of nuclear war over Ukraine. Campaign for Nuclear Disarmament. E-Mail vom 24.02.2022</ref>. Eine weitere Bedrohung stellt die mögliche Interpretation einer grenzüberschreitenden, militärisch ausgelösten Atomkatastrophe in der Ukraine als NATO-Bündnisfall dar, der einzelnen Expert*innen denkbar erscheint, wenn z.B. die Bevölkerungen der NATO-Mitglieder Rumänien oder Polen von massiven radioaktiven Freisetzungen betroffen würden. Die Ausrufung des Bündnisfalles könnte im schlimmsten Fall bis zum Eintritt der NATO in den Krieg mit Russland führen<ref name="armywarcollege" />.<br />
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So bleibt zum Abschluss nur festzuhalten, was eine Expert*innengruppe aus Atomindustrie, Forschung und Aufsichtsbehörden in einem wissenschaftlichen Journal zur Sicherheit von Atomkraftwerken in Kriegszeiten resümierte: "As things stand, that the attacking power does not target nuclear facilities is perhaps all we can hope for"<ref name="Polytechnique" />. AKW sind zu gefährlich, als dass sie noch gebaut, betrieben oder ihre Laufzeit verlängert werden sollte - nicht nur für aktive Kriegsparteien, sondern auch im Kontext sogenannter "hybrider Kriegsführung", z.B. Sabotage durch Spezialeinheiten.<br />
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=== Fußnoten ===<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Militarismus]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atomkraft_im_Krieg&diff=218652022-01:Atomkraft im Krieg2022-10-25T05:30:49Z<p>WikiSysop: Korrekturen</p>
<hr />
<div>== Atomkraft im Krieg ==<br />
'''fb''' "Atomkraftwerke sind Bomben, die zeitweise Strom erzeugen", stand auf einem Plakat, das 2002 bei Protesten gegen die Jahrestagung des Deutschen Atomforums in Stuttgart gezeigt wurde. Damit sollte vor allem auf die Unfallgefahr im "Normalbetrieb" hingewiesen werden. Dass jedes Atomkraftwerk (AKW) mit Reaktorkernladung Ziel oder Opfer eines Kollateralschadens in einer militärischen Auseinandersetzung sein kann, wurde andererseits seit dem ersten Tag von Putins Krieg gegen die Ukraine verdeutlicht: zunächst durch die Angriffe auf das AKW Tschernobyl in der Super-GAU-Sperrzone, wenige Tage später durch die Kämpfe um das AKW Saporischschja. Beide Anlagen erhielten Einschläge von Geschossen; es war Glück, dass kein kritischer Anlagenteil getroffen wurde. Seitdem schlitterte vor allem Saporischschja, das größte AKW in Europa, mehrfach knapp an einer Katastrophe vorbei. Berichte über Einschläge auf dem Gelände, die Zerstörung des Netzanschlusses und das Einsetzen der Notstromaggregate versetzten die Öffentlichkeit anfangs in Zittern, inzwischen, infolge ständiger Wiederholung, scheint eine Gewöhnung eingesetzt zu haben. Das Risiko hat sich dabei nicht verringert.<br />
<br />
Dabei handelt es sich, weltweit betrachtet, in der Ukraine nicht um die ersten militärischen Schläge gegen Atomkraftwerke. Es gab bereits mindestens 13 solche Angriffe auf Reaktoren in Israel, Iran, Irak und Syrien - ausgeführt von Israel, Iran, Irak, Großbritannien bzw. USA. Allerdings war keine dieser Anlagen zum Zeitpunkt der Angriffe in Betrieb. Es existiert kein spezifisches internationales Regelwerk, das den Umgang mit Atomanlagen im Krieg behandelt, aber eine Reihe Vorgaben in unterschiedlichen Verträgen. Hervorzuheben ist Teil III des Zusatzprotokolls I der Genfer Konventionen, der deutlich gegen Attacken auf Elektrizitätswerke im Krieg spricht. Russland zog sich 2019 von einzelnen Verpflichtungen aus diesem Protokoll zurück, was aber nicht als umfassender Austritt aus dem Vertragswerk betrachtet wird<ref name="Wikipedia">Protocol I. Wikipedia. https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Protocol_I&oldid=1117909633 - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Die USA, Indien, Iran, Israel, Pakistan und Türkei ratifizierten das Protokoll nie<ref>Anzumerken ist außerdem, dass das Pentagon seinen Militärkommandant*innen im 2016er "Law of War Manual" die Entscheidung überlässt, ob sie AKW angreifen, wenn diese das "wichtig" finden (vgl. Sokolski (2022)).</ref>.<ref name="armywarcollege">Sokolski, Henry D.: Present Danger: Nuclear Power Plants in War. The US Army War College Quarterly: Parameters 52(4), 19.10.2022. https://press.armywarcollege.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=3178&context=parameters - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
<br />
In der Ukraine befinden sich 15 Reaktoren in Betrieb, vier weitere sind stillgelegt<ref name="Tabelle">Übersichtstabelle "Nuclear Power Stations Ukraine" von Jan Haverkamp, 24.02.2022</ref>. Reaktor 4 von Tschernobyl war 1986 explodiert und ist bis heute stark radioaktiv kontaminiert<ref name="ShortBriefing">Jan Haverkamp: Short Briefing: Russian war on Ukraine – nuclear energy risks. 24.02.2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Ukraine">Stender, Anna: Atomkraft in der Ukraine. .ausgestrahlt, 02.03.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/02/atomkraft-der-ukraine/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. AKW produzieren etwa die Hälfte des Stroms des Landes<ref name="BeyondNuclear">Gunter, Linda Pentz: Nuclear warfare without bombs. Ukraine’s reactors could be in the line of fire. Beyond Nuclear International, 30.01.2022. https://beyondnuclearinternational.org/2022/01/30/nuclear-warfare-without-bombs/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. In der Tschernobyl-Sperrzone befinden sich mehrere Zwischenlager für alle Arten Atommüll, zwei oberflächennahe Endlager und Konditionierungseinrichtungen. Eines der Zwischenlager enthält in einem Lagerbecken etwa 20.000 abgebrannte Brennelemente aus den drei 1986 nicht beschädigten, inzwischen stillgelegten, Tschernobyl-Reaktoren<ref name="ShortBriefing" />. Ein Zwischenlager unter freiem Himmel mit mehr als 3.000 abgebrannten Brennelementen liegt zusätzlich auf dem Gelände des AKW Saporischschja. Darüberhinaus existieren Zwischenlager für andere radioaktive Abfälle an verschiedenen weiteren Orten in der Ukraine, u.a. in Charkiw und Kiew. Außerdem befinden sich in der Ukraine radioaktive Absetzbecken mit kontaminierten Abfällen aus der Uranförderung und -aufbereitung. Darüberhinaus befinden sich Forschungsreaktoren in Kiew und Charkiw, sowie an letzterem Ort außerdem eine Neutronenquelle und eine Isotopenproduktionsanlage. Auf der seit 2014 durch Russland besetzten Krim existiert ein weiterer Forschungsreaktor und die kritische Anordnung "Sph IR-100". Auch gibt es viele Strahlenquellen in Zwischenlagern, Kohlekraftwerken und Kohlebergwerken in der seit 2014 besetzten Ostukraine.<ref name="Atommuellreport">Schönberger, Ursula: "Länderbericht Ukraine". atommüllreport, 25.05.2022. https://www.atommuellreport.de/themen/detail/atommuellreport-laenderbericht-ukraine.html - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
<br />
Die AKW in der Ukraine befinden sich in einem schlechten Zustand: Jahrelang wurden nur die dringendsten Reparaturen vorgenommen, notwendige Sicherheitsnachrüstungen erfolgten kaum, trotzdem erlaubte die Atomaufsichtsbehörde immer weitere Laufzeitverlängerungen und Leistungserhöhungen der alternden Reaktoren. In den vergangenen zehn Jahren ereigneten sich mehrere schwerwiegende Unfälle und Sicherheitsprobleme, die teils zunächst vertuscht wurden. Die Reaktoren charakterisieren sich als höchst störanfällig. Problematisch ist außerdem der vor allem politisch motivierte Einsatz US-amerikanischer Brennelemente in ukrainischen Reaktoren, von denen keiner dafür ausgelegt ist. Daraus können sich zusätzliche Sicherheitsprobleme ergeben. Grundsätzlich ist die Atomindustrie der Ukraine von der Versorgung mit russischen Brennelementen abhängig.<ref name="Atommuellreport" /><br />
<br />
Kein Reaktor ist gegen militärische Attacken geschützt. Eine Atomkatastrophe mit massiver Freisetzung ist durch derartige Angriffe bei allen aktiven kommerziellen Atomkraftwerken möglich.<ref name="ShortBriefing" /> Dabei können Atomanlagen Ziele von direkten Attacken, Opfer von Kollateralschäden beispielsweise durch Geschosse, die ihr eigentliches Ziel verfehlen, oder auch Terrorziele werden<ref name="BeyondNuclear" />. Konkret kann es sich dabei insbesondere um den Einschlag von Explosivgeschossen in sicherheitskritische Anlagenteile oder Kernschmelze infolge der Trennung von Kühl- und Sicherheitssystemen von der Energieversorgung handeln. So können das Reaktor-Containment aufgeschlagen, abgebrannte Brennelemente durch Bombardierung beschädigt oder die Kühlwasserversorgung unterbrochen werden.<ref name="Polytechnique">Herviou, Karine; Meshkati, Najmedin; Ustohalova, Veronika; Gupta, Olivier: What are the risks of nuclear power plants in wartime? Polytechnique insights, 12.07.2022. https://www.polytechnique-insights.com/en/columns/geopolitics/how-to-protect-nuclear-power-plants-in-wartime/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
<br />
Schon vor der russischen Invasion kam es zu terroristischen bzw. sabotagebedingten Vorfällen, die sich auf Sicherheitssysteme der ukrainischen AKW auswirkten. 2015 führte beispielsweise die Sprengung von Hochspannungsmasten in der Krim-Region durch Separatist*innen zur Notabschaltung eines Reaktors wegen Netzinstabilität.<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" /> Auch bedrohte 2015 in der Ostukraine die Explosion von Munition in der Nähe eines Lagers für Strahlungsquellen deren Sicherheit. Aufgrund der absehbaren Bedrohungslage fand 2017 mit Unterstützung der USA eine Übung zum Schutz der kritischen Infrastruktur des AKW Saporischschja statt, nachdem sich die Ukraine schon 2014 mit der Bitte um Hilfe bei der Sicherung von Atomanlagen an NATO, EU und die USA gewandt hatte. Auch gab es Berichte von aus Kohlekraftwerken verschwundenen Strahlenquellen, die von Separatist*innen verkauft worden sein sollen.<ref name="Atommuellreport" /><br />
<br />
Gleich am ersten Tag der Invasion in der Ukraine besetzten die russischen Truppen das Gelände des 1986 havarierten AKW Tschernobyl<ref name="ZDF">Stillgelegtes Kernkraftwerk. Kiew: Russland hat Tschernobyl eingenommen. ZDF, 24.02.2022. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/tschernobyl-kernkraftwerk-krieg-russland-ukraine-100.html - gesichtet 24.10.2022</ref>. In den folgenden Tagen wurden Radioaktivitäts-Spikes von den Messsystemen zur Überwachung der Umweltradioaktivität in der Sperrzone festgestellt, die teils erheblich über den dort "normalen" Werten lagen. Dem russischen Anti-Atom-Experten Andrey Ozharovsky zufolge wurden diese vermutlich durch schwere Militärfahrzeuge, deren Manöver den verseuchten Boden aufgewirbelt hatten, verursacht<ref name="Ozharovsky">Ozharovsky, Andrey: Рост мощности дозы гамма излучения на площадке Чернобыльской АЭС. Facebook, 25.02.2022. https://www.facebook.com/andrey.ozharovsky/posts/4802038569873501 - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Am 9. März wurden die Atomanlagen in Tschernobyl von der externen Stromversorgung abgeschnitten und liefen mit Notstrom. Erst am 14. März konnte die Stromversorgung wiederhergestellt werden. Bei Plünderungen wurden im März außerdem technische Ausrüstung und wichtige Instrumente eines Labors zur Untersuchung der radiologischen Situation in der Tschernobyl-Sperrzone sowie das Frühwarnsystem für Störfälle und weitere Strahlenmesseinrichtungen zerstört.<ref name="Atommuellreport" /> Wegen des Ausfalls der Überwachungssysteme und der Plünderungen wird eine Gefahr unkontrollierter Verbreitung von atomwaffenfähigem Material aus den Atomanlagen gesehen, da die vorgesehene Verfolgung solcher Materialien, z.B. durch die IAEA, und die Überwachung ihrer weiteren Verwendung kaum noch möglich ist<ref name="SRzG">Russlands Einmarsch in die Ukraine bedroht die Freiheit nachrückender Generationen weltweit. Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, 25.02.2022. https://generationengerechtigkeit.info/russlands-einmarsch-in-die-ukraine/ - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Tschernobyl gab es eine Reihe von Berichten über russische Soldaten mit Strahlenschäden. Diese könnten sie sich beim Ausheben von Schützengräben in verseuchtem Boden und Aufenthalt in der kontaminierten Sperrzone zugezogen haben<ref name="Atommuellreport" />. Erst am 21. März konnte nach ca. vier Wochen ein erster Schichtwechsel in Tschernobyl erfolgen. Die Besatzer*innen hatten die Rotation des Personals nicht erlaubt<ref name="Atommuellreport" />. Fehlende Schichtwechsel in Atomanlagen im Krieg bedeuten ein erhöhtes Risiko menschlichen Versagens<ref name="Polytechnique" />.<br />
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Aber auch andere Atomanlagen wurden bereits Opfer russischen Beschusses: Das Atomforschungsinstitut in Kiew wurde im März mehrfach Ziel russischer Angriffe: Am 6., 8. und 10./11. März schlugen Geschosse ein und verursachten erhebliche Schäden am Gebäude. Auch das Forschungszentrum in Charkiw wurde im März infolge von Bombardierung beschädigt und von der Stromversorgung abgeschnitten. Ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle wurde am 26. Februar in Charkiw getroffen und in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar war ein weiteres Lager in Kiew das Ziel von Granatenbeschuss.<ref name="Atommuellreport" /><br />
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Besonders dramatisch ist die Lage am AKW Saporischschja. Anfang März erfolgte erstmals in der Geschichte ein Waffeneinsatz an einem in Betrieb befindlichen kommerziellen Reaktor<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass">Stender, Anna: Atomares Pulverfass. .ausgestrahlt, 24.08.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/08/24/atomares-pulverfass/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Der bewaffnete Konflikt in einem Land mit massiv ausgebauter Atomindustrie stellt einen Präzedenzfall dar<ref name="Polytechnique" />. Ein Schulungsgebäude auf dem AKW-Gelände brannte ab. Im Anschluss bestand längere Zeit kein Zugang und nur eine beschränkte Fernüberwachung für IAEA-Kontrolleur*innen.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /> Ca. 500 russische Soldaten sollen die Atomanlage seit März als Stützpunkt nutzen sowie Waffen und Munition, u.a. Granatwerfer sowie Panzer- und Flugabwehrraketen, in den Gebäuden lagern<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><ref name="Polytechnique" />. Sofort nach der Besetzung brachte das russische Militär Panzer auf dem Gelände unter<ref name="Polytechnique" />. Der Standort soll auch als Abschussbasis für Raketen und Artillerie genutzt worden sein<ref name="armywarcollege" />. Eine Explosion von Munition in der Nähe des AKW ereignete sich am 14. März<ref name="Atommuellreport" />. Seit August sollen Gebäude und Gelände mehrfach von Raketen getroffen worden sein<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" />. Fotos aus dem Sommer zeigten, dass u.a ein Transformator beschädigt wurde - ein kritisches System, das die kontinuierliche Versorgung von Kühl- und Sicherheitssystemen mit Strom sicherstellt<ref name="armywarcollege" />.<br />
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Nach und nach wurden wegen der Gefahrenlage immer mehr Reaktoren heruntergefahren. Inzwischen (Stand: Oktober) sind alle Reaktoren abgeschaltet. Trotzdem bleibt die Gefahr einer Kernschmelze infolge eines Unfalls akut, da das Reaktorinventar und das Lager für abgebrannte Brennelemente selbst nach dem Herunterfahren noch viele Jahre einer intensiven Kühlung bedürfen. Hierfür ist das AKW auf eine externe Stromversorgung und funktionierende Kühl- sowie Sicherheitssysteme angewiesen. Wenn die Stromversorgung über das Netz ausfällt, kommen Dieselgeneratoren zum Einsatz, die allerdings eine auf einige Tage begrenzte Reichweite haben und von Treibstoff-Nachlieferungen abhängig sind.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
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Das ukrainische AKW-Personal steht seit der Eroberung der Atomanlage unter russischer Aufsicht. Viele Menschen sind geflohen. Teile der Führungskräfte und Arbeiter*innenschaft wurden gekidnappt, gefoltert bzw. getötet<ref name="armywarcollege" />. Die verbleibenden Mitarbeiter*innen arbeiten unter Gewaltandrohungen durch die russischen Besatzer*innen. Sie stehen unter extremer psychischen Belastung, was auch die Fehleranfälligkeit beim Umgang mit dieser Hochrisikotechnologie erhöht. Berichtet wurde von Kommunikationsproblemen der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde mit dem Personal am AKW Saporischschja aufgrund der Abschaltung des Mobilfunks und Blockierung des Internets durch die russischen Kräfte<ref name="Polytechnique" />. Darüberhinaus könnten die Besatzer*innen selbst die Sicherheit der Anlage gefährden, weil sie weniger spezifisches Know-How als die ukrainischen Mitarbeiter*innen haben. So könnten sie falsche Maßnahmen erzwingen, und reguläre Sicherheitsüberprüfungen einschränken bzw. verhindern. Auch besteht die Gefahr, dass kritische Geräte und Bauteile im Krieg nicht beschafft werden können. Zudem ist das Krisenmanagement im Falle eines Unfalls voraussichtlich erschwert, weil Evakuierungen unter den Bedingungen von Besatzung und Krieg behindert würden und nötige Infrastruktur durch die Lage in Frontnähe womöglich nur eingeschränkt nutzbar wäre.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
<br />
Die Behörden der Ukraine, Polens, Rumäniens, Moldaus und Finnlands haben als Konsequenz aus der Sicherheitssituation am AKW Saporischschja für den Fall einer Atomkatastrophe Jodtabletten an die Bevölkerung verteilt<ref name="armywarcollege" />. Bei korrekter Dosierung und gutem Timing kann so zumindest das Schilddrüsenkrebsrisiko infolge eines Super-GAUs gesenkt werden.<br />
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In einem im US Army War College-Journal veröffentlichten Papier mit Anregungen an das Pentagon stellt der Akademiker Henry D. Sokolski fest: "After what has unfolded at Zaporizhzhya, civilian nuclear plants must be viewed as prepositioned nuclear weapon"<ref name="armywarcollege" />. Trotzdem setzt die Ukraine weiter auf Atomkraft. Im Juni 2022 schloss der ukrainische AKW-Betreiber Energoatom mit dem US-amerikanischen Atomkonzern Westinghouse ein Abkommen über den Bau von vier neuen Reaktoren<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" />. Darüberhinaus wurden Absichtserklärungen zur Errichtung mehrerer sogenannter SMR (Small Modular Reactor) mit verschiedenen US-amerikanischen Firmen getroffen<ref name="Atommuellreport" />.<br />
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Neben der Gefährdung der ukrainischen Atomanlagen im Krieg besteht außerdem ein steigendes Risiko für einen Einsatz von Atomwaffen durch die Russische Föderation. Schon am 27. Februar, wenige Tage nach dem Angriff auf die Ukraine, gab Putin den Befehl aus, die Abschreckungsstreitkräfte in besondere Alarmbereitschaft zu versetzen, zu denen auch ca. 6.200 Atomsprengköpfe gehören<ref>Breidenbach, Heinrich: Atomwaffen: No first use! PLAGE NEWS 1/22, S. 4</ref>. Die indirekte Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen wurde seitem mehrfach wiederholt. Im Sommer forderten radikale Nationalisten aus der russischen Militärführung in der Ukraine sogar ganz offen den Einsatz taktischer Atomwaffen, woraufhin USA und NATO Russland Konsequenzen für eine solche Aktion ankündigten. Eine besondere Dramatik ergibt sich aus dem Umstand, dass mit Russland die angreifende Nation einer der Garanten ist, die der Ukraine 1994 im Gegenzug für deren Verzicht auf ihr Atomwaffenarsenal Schutz versprachen<ref name="SRzG" />.<ref>Zu den Garantiestaaten für die territoriale Integrität der Ukraine gehörten 1994 auch die USA.</ref> Das Szenario eines Atomkriegs zwischen Russland und USA ist seit dem Invasionsbeginn näher als sonst jemals seit den 1970er Jahren<ref>Hudson, Kate: There is an increasing risk of nuclear war over Ukraine. Campaign for Nuclear Disarmament. E-Mail vom 24.02.2022</ref>. Eine weitere Bedrohung stellt die mögliche Interpretation einer grenzüberschreitenden, militärisch ausgelösten Atomkatastrophe in der Ukraine als NATO-Bündnisfall dar, der einzelnen Expert*innen denkbar erscheint, wenn z.B. die Bevölkerungen der NATO-Mitglieder Rumänien oder Polen von massiven radioaktiven Freisetzungen betroffen würden. Die Ausrufung des Bündnisfalles könnte im schlimmsten Fall bis zum Eintritt der NATO in den Krieg mit Russland führen<ref name="armywarcollege" />.<br />
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So bleibt zum Abschluss nur festzuhalten, was eine Expert*innengruppe aus Atomindustrie, Forschung und Aufsichtsbehörden in einem wissenschaftlichen Journal zur Sicherheit von Atomkraftwerken in Kriegszeiten resümierte: "As things stand, that the attacking power does not target nuclear facilities is perhaps all we can hope for"<ref name="Polytechnique" />. AKW sind zu gefährlich, als dass sie noch gebaut, betrieben oder ihre Laufzeit verlängert werden sollte - nicht nur für aktive Kriegsparteien, sondern auch im Kontext sogenannter "hybrider Kriegsführung", z.B. Sabotage durch Spezialeinheiten.<br />
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=== Fußnoten ===<br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Militarismus]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atomkraft_im_Krieg&diff=218642022-01:Atomkraft im Krieg2022-10-24T20:19:34Z<p>WikiSysop: Korrekturen</p>
<hr />
<div>== Atomkraft im Krieg ==<br />
'''fb''' "Atomkraftwerke sind Bomben, die zeitweise Strom erzeugen", stand auf einem Plakat, das 2002 bei Protesten gegen die Jahrestagung des Deutschen Atomforums in Stuttgart gezeigt wurde. Damit sollte vor allem auf die Unfallgefahr im "Normalbetrieb" hingewiesen werden. Dass jedes Atomkraftwerk (AKW) mit Reaktorkernladung Ziel oder Opfer eines Kollateralschadens in einer militärischen Auseinandersetzung sein kann, wurde seit dem ersten Tag von Putins Krieg gegen die Ukraine verdeutlicht: zunächst durch die Angriffe auf das AKW Tschernobyl in der Super-GAU-Sperrzone, wenige Tage später durch die Kämpfe um das AKW Saporischschja. Beide Anlagen erhielten Einschläge von Geschossen; es war Glück, dass kein kritischer Anlagenteil getroffen wurde. Seitdem schlitterte vor allem Saporischschja, das größte AKW in Europa, mehrfach knapp an einer Katastrophe vorbei. Berichte über Einschläge auf dem Gelände, die Zerstörung des Netzanschlusses und das Einsetzen der Notstromaggregate versetzten die Öffentlichkeit anfangs in Zittern, inzwischen, infolge ständiger Wiederholung, scheint eine Gewöhnung eingesetzt zu haben. Das Risiko hat sich dabei nicht verringert.<br />
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Dabei handelt es sich, weltweit betrachtet, in der Ukraine nicht um die ersten militärischen Schläge gegen Atomkraftwerke. Es gab bereits mindestens 13 solche Angriffe auf Reaktoren in Israel, Iran, Irak und Syrien - ausgeführt von Israel, Iran, Irak, Großbritannien bzw. USA. Allerdings war keine dieser Anlagen zum Zeitpunkt der Angriffe in Betrieb. Es existiert kein spezifisches internationales Regelwerk, das den Umgang mit Atomanlagen im Krieg behandelt, aber eine Reihe Vorgaben in unterschiedlichen Verträgen. Hervorzuheben ist Teil III des Zusatzprotokolls I der Genfer Konventionen, der deutlich gegen Attacken auf Elektrizitätswerke im Krieg spricht. Russland zog sich 2019 von einzelnen Verpflichtungen aus diesem Protokoll zurück, was aber nicht als umfassender Austritt aus dem Vertragswerk betrachtet wird<ref name="Wikipedia">Protocol I. Wikipedia. https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Protocol_I&oldid=1117909633 - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Die USA, Indien, Iran, Israel, Pakistan und Türkei ratifizierten das Protokoll nie<ref>Anzumerken ist außerdem, dass das Pentagon seinen Militärkommandant*innen im 2016er "Law of War Manual" die Entscheidung überlässt, ob sie AKW angreifen, wenn diese das "wichtig" finden (vgl. Sokolski (2022)).</ref>.<ref name="armywarcollege">Sokolski, Henry D.: Present Danger: Nuclear Power Plants in War. The US Army War College Quarterly: Parameters 52(4), 19.10.2022. https://press.armywarcollege.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=3178&context=parameters - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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In der Ukraine befinden sich 15 Reaktoren in Betrieb, vier weitere sind stillgelegt<ref name="Tabelle">Übersichtstabelle "Nuclear Power Stations Ukraine" von Jan Haverkamp, 24.02.2022</ref>. Reaktor 4 von Tschernobyl war 1986 explodiert und ist bis heute stark radioaktiv kontaminiert<ref name="ShortBriefing">Jan Haverkamp: Short Briefing: Russian war on Ukraine – nuclear energy risks. 24.02.2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Ukraine">Stender, Anna: Atomkraft in der Ukraine. .ausgestrahlt, 02.03.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/02/atomkraft-der-ukraine/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. AKW produzieren etwa die Hälfte des Stroms des Landes<ref name="BeyondNuclear">Gunter, Linda Pentz: Nuclear warfare without bombs. Ukraine’s reactors could be in the line of fire. Beyond Nuclear International, 30.01.2022. https://beyondnuclearinternational.org/2022/01/30/nuclear-warfare-without-bombs/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. In der Tschernobyl-Sperrzone befinden sich mehrere Zwischenlager für alle Arten Atommüll, zwei oberflächennahe Endlager und Konditionierungseinrichtungen. Eines der Zwischenlager enthält in einem Lagerbecken etwa 20.000 abgebrannte Brennelemente aus den drei 1986 nicht beschädigten, inzwischen stillgelegten, Tschernobyl-Reaktoren<ref name="ShortBriefing" />. Ein Zwischenlager unter freiem Himmel mit mehr als 3.000 abgebrannten Brennelementen liegt zusätzlich auf dem Gelände des AKW Saporischschja. Darüberhinaus existieren Zwischenlager für andere radioaktive Abfälle an verschiedenen weiteren Orten in der Ukraine, u.a. in Charkiw und Kiew. Außerdem befinden sich in der Ukraine radioaktive Absetzbecken mit kontaminierten Abfällen aus der Uranförderung und -aufbereitung. Darüberhinaus befinden sich Forschungsreaktoren in Kiew und Charkiw, sowie an letzterem Ort außerdem eine Neutronenquelle und eine Isotopenproduktionsanlage. Auf der seit 2014 durch Russland besetzten Krim existiert ein weiterer Forschungsreaktor und die kritische Anordnung "Sph IR-100". Auch gibt es viele Strahlenquellen in Zwischenlagern, Kohlekraftwerken und Kohlebergwerken in der seit 2014 besetzten Ostukraine.<ref name="Atommuellreport">Schönberger, Ursula: "Länderbericht Ukraine". atommüllreport, 25.05.2022. https://www.atommuellreport.de/themen/detail/atommuellreport-laenderbericht-ukraine.html - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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Die AKW in der Ukraine befinden sich in einem schlechten Zustand: Jahrelang wurden nur die dringendsten Reparaturen vorgenommen, notwendige Sicherheitsnachrüstungen erfolgten kaum, trotzdem erlaubte die Atomaufsichtsbehörde immer weitere Laufzeitverlängerungen und Leistungserhöhungen der alternden Reaktoren. In den vergangenen zehn Jahren ereigneten sich mehrere schwerwiegende Unfälle und Sicherheitsprobleme, die teils zunächst vertuscht wurden. Die Reaktoren charakterisieren sich als höchst störanfällig. Problematisch ist außerdem der vor allem politisch motivierte Einsatz US-amerikanischer Brennelemente in ukrainischen Reaktoren, von denen keiner dafür ausgelegt ist. Daraus können sich zusätzliche Sicherheitsprobleme ergeben. Grundsätzlich ist die Atomindustrie der Ukraine von der Versorgung mit russischen Brennelementen abhängig.<ref name="Atommuellreport" /><br />
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Kein Reaktor ist gegen militärische Attacken geschützt. Eine Atomkatastrophe mit massiver Freisetzung ist durch derartige Angriffe bei allen aktiven kommerziellen Atomkraftwerken möglich.<ref name="ShortBriefing" /> Dabei können Atomanlagen Ziele von direkten Attacken, Opfer von Kollateralschäden beispielsweise durch Geschosse, die ihr eigentliches Ziel verfehlen oder auch Terrorziele werden<ref name="BeyondNuclear" />. Konkret kann es sich dabei insbesondere um den Einschlag von Explosivgeschossen in sicherheitskritische Anlagenteile oder Kernschmelze infolge der Trennung von Kühl- und Sicherheitssystemen von der Energieversorgung handeln. So können das Reaktor-Containment aufgeschlagen werden, abgebrannte Brennelemente durch Bombardierung beschädigt oder die Kühlwasserversorgung unterbrochen werden.<ref name="Polytechnique">Herviou, Karine; Meshkati, Najmedin; Ustohalova, Veronika; Gupta, Olivier: What are the risks of nuclear power plants in wartime? Polytechnique insights, 12.07.2022. https://www.polytechnique-insights.com/en/columns/geopolitics/how-to-protect-nuclear-power-plants-in-wartime/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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Schon vor der russischen Invasion kam es zu terroristischen bzw. sabotagebedingten Vorfällen, die sich auf Sicherheitssysteme der ukrainischen AKW auswirkten. 2015 führte beispielsweise die Sprengung von Hochspannungsmasten in der Krim-Region durch Separatist*innen zur Notabschaltung eines Reaktors wegen Netzinstabilität.<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" /> Auch bedrohte 2015 in der Ostukraine die Explosion von Munition in der Nähe eines Lagers für Strahlungsquellen deren Sicherheit. Aufgrund der absehbaren Bedrohungslage fand 2017 mit Unterstützung der USA eine Übung zum Schutz der kritischen Infrastruktur des AKW Saporischschja statt, nachdem sich die Ukraine schon 2014 mit der Bitte um Hilfe bei der Sicherung von Atomanlagen an NATO, EU und die USA gewandt hatte. Auch gab es Berichte von aus Kohlekraftwerken verschwundenen Strahlenquellen, die von Separatist*innen verkauft worden sein sollen.<ref name="Atommuellreport" /><br />
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Gleich am ersten Tag der Invasion in der Ukraine besetzten die russischen Truppen das Gelände des 1986 havarierten AKW Tschernobyl<ref name="ZDF">Stillgelegtes Kernkraftwerk. Kiew: Russland hat Tschernobyl eingenommen. ZDF, 24.02.2022. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/tschernobyl-kernkraftwerk-krieg-russland-ukraine-100.html - gesichtet 24.10.2022</ref>. In den folgenden Tagen wurden Radioaktivitäts-Spikes von den Messsystemen zur Überwachung der Umweltradioaktivität in der Sperrzone festgestellt, die teils erheblich über den dort "normalen" Werten lagen. Dem russischen Anti-Atom-Experten Andrey Ozharovsky zufolge wurden diese vermutlich durch schwere Militärfahrzeuge, deren Manöver den verseuchten Boden aufgewirbelt hatten, verursacht<ref name="Ozharovsky">Ozharovsky, Andrey: Рост мощности дозы гамма излучения на площадке Чернобыльской АЭС. Facebook, 25.02.2022. https://www.facebook.com/andrey.ozharovsky/posts/4802038569873501 - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Am 9. März wurden die Atomanlagen in Tschernobyl von der externen Stromversorgung abgeschnitten und liefen mit Notstrom. Erst am 14. März konnte die Stromversorgung wiederhergestellt werden. Bei Plünderungen wurden im März außerdem technische Ausrüstung und wichtige Instrumente eines Labors zur Untersuchung der radiologischen Situation in der Tschernobyl-Sperrzone sowie das Frühwarnsystem für Störfälle und weitere Strahlenmesseinrichtungen zerstört.<ref name="Atommuellreport" /> Wegen des Ausfalls der Überwachungssysteme und der Plünderungen wird die Gefahr einer unkontrollierten Verbreitung von atomwaffenfähigem Material aus den Atomanlagen gesehen, da die vorgesehene Verfolgung solcher Materialien, z.B. durch die IAEA, und die Überwachung ihrer weiteren Verwendung kaum noch möglich ist<ref name="SRzG">Russlands Einmarsch in die Ukraine bedroht die Freiheit nachrückender Generationen weltweit. Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, 25.02.2022. https://generationengerechtigkeit.info/russlands-einmarsch-in-die-ukraine/ - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Tschernobyl gab es eine Reihe von Berichten über russische Soldaten mit Strahlenschäden. Diese könnten sie sich beim Ausheben von Schützengräben in verseuchtem Boden und Aufenthalt in der kontaminierten Sperrzone zugezogen haben<ref name="Atommuellreport" />. Erst am 21. März konnte nach ca. vier Wochen ein erster Schichtwechsel in Tschernobyl erfolgen. Die Besatzer*innen hatten die Rotation des Personals nicht erlaubt<ref name="Atommuellreport" />. Fehlende Schichtwechsel in Atomanlagen im Krieg bedeuten ein erhöhtes Risiko menschlichen Versagens<ref name="Polytechnique" />.<br />
<br />
Aber auch andere Atomanlagen wurden bereits Opfer russischen Beschusses: Das Atomforschungsinstitut in Kiew wurde im März mehrfach Ziel russischer Angriffe: Am 6., 8. und 10./11. März schlugen Geschosse ein und verursachten erhebliche Schäden am Gebäude. Auch das Forschungszentrum in Charkiw wurde im März infolge von Bombardierung beschädigt und von der Stromversorgung abgeschnitten. Ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle wurde am 26. Februar in Charkiw getroffen und in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar war ein weiteres Lager in Kiew das Ziel von Granatenbeschuss.<ref name="Atommuellreport" /><br />
<br />
Besonders dramatisch ist die Lage am AKW Saporischschja. Anfang März erfolgte erstmals in der Geschichte ein Waffeneinsatz an einem in Betrieb befindlichen kommerziellen Reaktor<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass">Stender, Anna: Atomares Pulverfass. .ausgestrahlt, 24.08.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/08/24/atomares-pulverfass/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Der bewaffnete Konflikt in einem Land mit massiv ausgebauter Atomindustrie stellt einen Präzedenzfall dar<ref name="Polytechnique" />. Ein Schulungsgebäude auf dem AKW-Gelände brannte ab. Im Anschluss bestand längere Zeit kein Zugang und nur eine beschränkte Fernüberwachung für IAEA-Kontrolleur*innen.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /> Ca. 500 russische Soldaten sollen die Atomanlage seit März als Stützpunkt nutzen sowie Waffen und Munition, u.a. Granatwerfer sowie Panzer- und Flugabwehrraketen, in den Gebäuden lagern<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><ref name="Polytechnique" />. Sofort nach der Besetzung brachte das russische Militär Panzer auf dem Gelände unter<ref name="Polytechnique" />. Der Standort wurde auch als Abschussbasis für Raketen und Artillerie genutzt<ref name="armywarcollege" />. Eine Explosion von Munition in der Nähe des AKW ereignete sich am 14. März<ref name="Atommuellreport" />. Seit August sollen Gebäude und Gelände mehrfach von Raketen getroffen worden sein<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" />. Fotos aus dem Sommer zeigten, dass u.a ein Transformator beschädigt wurde - ein kritisches System, das die kontinuierliche Versorgung von Kühl- und Sicherheitssystemen mit Strom sicherstellen soll<ref name="armywarcollege" />.<br />
<br />
Nach und nach wurden wegen der Gefahrenlage immer mehr Reaktoren heruntergefahren. Inzwischen (Stand: Oktober) sind alle Reaktoren abgeschaltet. Trotzdem bleibt die Gefahr einer Kernschmelze infolge eines Unfalls akut, da das Reaktorinventar und das Lager für abgebrannte Brennelemente selbst nach dem Herunterfahren noch viele Jahre einer intensiven Kühlung bedürfen. Hierfür ist das AKW auf eine externe Stromversorgung und funktionierende Kühl- sowie Sicherheitssysteme angewiesen. Wenn die Stromversorgung über das Netz ausfällt, kommen Dieselgeneratoren zum Einsatz, die allerdings eine auf einige Tage begrenzte Reichweite haben und von Treibstoff-Nachlieferungen abhängig sind.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
<br />
Das ukrainische AKW-Personal steht seit der Eroberung der Atomanlage unter russischer Aufsicht. Viele Menschen sind geflohen. Teile der Führungskräfte und Arbeiter*innenschaft wurden gekidnappt, gefoltert bzw. getötet<ref name="armywarcollege" />. Die verbleibenden Mitarbeiter*innen arbeiten unter Gewaltandrohungen durch die russischen Besatzer*innen. Sie stehen unter extremer psychischen Belastung, was auch die Fehleranfälligkeit beim Umgang mit dieser Hochrisikotechnologie erhöht. Berichtet wurde von Kommunikationsproblemen der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde mit dem Personal am AKW Saporischschja aufgrund der Abschaltung des Mobilfunks und Blockierung des Internets durch die russischen Kräfte<ref name="Polytechnique" />. Darüberhinaus könnten die Besatzer*innen selbst die Sicherheit der Anlage gefährden, weil sie weniger spezifisches Know-How als die ukrainischen Mitarbeiter*innen haben. So könnten sie falsche Maßnahmen erzwingen, und reguläre Sicherheitsüberprüfungen einschränken bzw. verhindern. Auch besteht die Gefahr, dass kritische Geräte und Bauteile im Krieg nicht beschafft werden können. Zudem ist das Krisenmanagement im Falle eines Unfalls voraussichtlich erschwert, weil Evakuierungen unter den Bedingungen von Besatzung und Krieg behindert würden und nötige Infrastruktur durch die Lage in Frontnähe womöglich nur eingeschränkt nutzbar wäre.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
<br />
Die Behörden der Ukraine, Polens, Rumäniens, Moldaus und Finnlands haben als Konsequenz aus der Sicherheitssituation am AKW Saporischschja für den Fall einer Atomkatastrophe Jodtabletten an die Bevölkerung verteilt<ref name="armywarcollege" />. Bei korrekter Dosierung und gutem Timing kann so zumindest das Schilddrüsenkrebsrisiko infolge eines Super-GAUs gesenkt werden.<br />
<br />
In einem im US Army War College-Journal veröffentlichten Papier mit Anregungen an das Pentagon stellt der Akademiker Henry D. Sokolski fest: "After what has unfolded at Zaporizhzhya, civilian nuclear plants must be viewed as prepositioned nuclear weapon"<ref name="armywarcollege" />. Trotzdem setzt die Ukraine weiter auf Atomkraft. Im Juni 2022 schloss der ukrainische AKW-Betreiber Energoatom mit dem US-amerikanischen Atomkonzern Westinghouse ein Abkommen über den Bau von vier neuen Reaktoren<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" />. Darüberhinaus wurden Absichtserklärungen zur Errichtung mehrerer sogenannter SMR (Small Modular Reactor) mit verschiedenen US-amerikanischen Firmen getroffen<ref name="Atommuellreport" />.<br />
<br />
Neben der Gefährdung der ukrainischen Atomanlagen im Krieg besteht außerdem ein steigendes Risiko für einen Einsatz von Atomwaffen durch die Russische Föderation. Schon am 27. Februar, wenige Tage nach dem Angriff auf die Ukraine, gab Putin den Befehl aus, die Abschreckungsstreitkräfte in besondere Alarmbereitschaft zu versetzen, zu denen auch ca. 6.200 Atomsprengköpfe gehören<ref>Breidenbach, Heinrich: Atomwaffen: No first use! PLAGE NEWS 1/22, S. 4</ref>. Die indirekte Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen wurde seitem mehrfach wiederholt. Im Sommer forderten radikale Nationalisten aus der russischen Militärführung in der Ukraine sogar ganz offen den Einsatz taktischer Atomwaffen, woraufhin USA und NATO Russland Konsequenzen für eine solche Aktion ankündigten. Eine besondere Dramatik ergibt sich aus dem Umstand, dass mit Russland die angreifende Nation einer der Garanten ist, die der Ukraine 1994 im Gegenzug für deren Verzicht auf ihr Atomwaffenarsenal Schutz versprachen<ref name="SRzG" />.<ref>Zu den Garantiestaaten für die territoriale Integrität der Ukraine gehörten 1994 auch die USA.</ref> Das Szenario eines Atomkriegs zwischen Russland und USA ist seit dem Invasionsbeginn näher als sonst jemals seit den 1970er Jahren<ref>Hudson, Kate: There is an increasing risk of nuclear war over Ukraine. Campaign for Nuclear Disarmament. E-Mail vom 24.02.2022</ref>. Eine weitere Bedrohung stellt die mögliche Interpretation einer grenzüberschreitenden, militärisch ausgelösten Atomkatastrophe in der Ukraine als NATO-Bündnisfall dar, der einzelnen Expert*innen denkbar erscheint, wenn z.B. die Bevölkerungen der NATO-Mitglieder Rumänien oder Polen von massiven radioaktiven Freisetzungen betroffen würden. Die Ausrufung des Bündnisfalles könnte im schlimmsten Fall bis zum Eintritt der NATO in den Krieg mit Russland führen<ref name="armywarcollege" />.<br />
<br />
So bleibt zum Abschluss nur festzuhalten, was eine Expert*innengruppe aus Atomindustrie, Forschung und Aufsichtsbehörden in einem wissenschaftlichen Journal zur Sicherheit von Atomkraftwerken in Kriegszeiten resümierte: "As things stand, that the attacking power does not target nuclear facilities is perhaps all we can hope for"<ref name="Polytechnique" />. AKW sind zu gefährlich, als dass sie noch gebaut, betrieben oder ihre Laufzeit verlängert werden sollte - nicht nur für aktive Kriegsparteien, sondern auch im Kontext sogenannter "hybrider Kriegsführung", z.B. Sabotage durch Spezialeinheiten.<br />
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=== Fußnoten ===<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Militarismus]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atomkraft_im_Krieg&diff=218632022-01:Atomkraft im Krieg2022-10-24T19:12:47Z<p>WikiSysop: Korrekturen</p>
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<div>== Atomkraft im Krieg ==<br />
'''fb''' "Atomkraftwerke sind Bomben, die zeitweise Strom erzeugen", stand auf einem Plakat, das 2002 bei Protesten gegen die Jahrestagung des Deutschen Atomforums in Stuttgart gezeigt wurde. Damit sollte vor allem auf die Unfallgefahr im "Normalbetrieb" hingewiesen werden. Dass jedes Atomkraftwerk (AKW) mit Reaktorkernladung Ziel oder Opfer eines Kollateralschadens in einer militärischen Auseinandersetzung sein kann, wurde seit dem ersten Tag von Putins Krieg gegen die Ukraine verdeutlicht: zunächst durch die Angriffe auf das AKW Tschernobyl in der Super-GAU-Sperrzone, wenige Tage später durch die Kämpfe um das AKW Saporischschja. Beide Anlagen erhielten Einschläge von Geschossen; es war Glück, dass kein kritischer Anlagenteil getroffen wurde. Seitdem schlitterte vor allem Saporischschja, das größte AKW in Europa, mehrfach knapp an einer Katastrophe vorbei. Berichte über Einschläge auf dem Gelände, die Zerstörung des Netzanschlusses und das Einsetzen der Notstromaggregate versetzten die Öffentlichkeit anfangs in Zittern, inzwischen, infolge ständiger Wiederholung, scheint eine Gewöhnung eingesetzt zu haben. Das Risiko hat sich dabei nicht verringert.<br />
<br />
Dabei handelt es sich, weltweit betrachtet, in der Ukraine nicht um die ersten militärischen Schläge gegen Atomkraftwerke. Es gab bereits mindestens 13 solche Angriffe auf Reaktoren in Israel, Iran, Irak und Syrien - ausgeführt von Israel, Iran, Irak, Großbritannien bzw. USA. Allerdings war keine dieser Anlagen zum Zeitpunkt der Angriffe in Betrieb. Es existiert kein spezifisches internationales Regelwerk, das den Umgang mit Atomanlagen im Krieg behandelt, aber eine Reihe Vorgaben in unterschiedlichen Verträgen. Hervorzuheben ist Teil III des Zusatzprotokolls I der Genfer Konventionen, der deutlich gegen Attacken auf Elektrizitätswerke im Krieg spricht. Russland zog sich 2019 von einzelnen Verpflichtungen aus diesem Protokoll zurück, was aber nicht als umfassenden Austritt aus dem Vertragswerk betrachtet wird<ref name="Wikipedia">Protocol I. Wikipedia. https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Protocol_I&oldid=1117909633 - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Die USA, Indien, Iran, Israel, Pakistan und Türkei ratifizierten das Protokoll nie<ref>Anzumerken ist außerdem, dass das Pentagon seinen Militärkommandant*innen im 2016er "Law of War Manual" die Entscheidung überlässt, ob sie AKW angreifen, wenn diese das "wichtig" finden (vgl. Sokolski (2022)).</ref>.<ref name="armywarcollege">Sokolski, Henry D.: Present Danger: Nuclear Power Plants in War. The US Army War College Quarterly: Parameters 52(4), 19.10.2022. https://press.armywarcollege.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=3178&context=parameters - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
<br />
In der Ukraine befinden sich 15 Reaktoren in Betrieb, vier weitere sind stillgelegt<ref name="Tabelle">Übersichtstabelle "Nuclear Power Stations Ukraine" von Jan Haverkamp, 24.02.2022</ref>. Reaktor 4 von Tschernobyl war 1986 explodiert und ist bis heute stark radioaktiv kontaminiert<ref name="ShortBriefing">Jan Haverkamp: Short Briefing: Russian war on Ukraine – nuclear energy risks. 24.02.2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Ukraine">Stender, Anna: Atomkraft in der Ukraine. .ausgestrahlt, 02.03.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/02/atomkraft-der-ukraine/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. AKW produzieren etwa die Hälfte des Stroms des Landes<ref name="BeyondNuclear">Gunter, Linda Pentz: Nuclear warfare without bombs. Ukraine’s reactors could be in the line of fire. Beyond Nuclear International, 30.01.2022. https://beyondnuclearinternational.org/2022/01/30/nuclear-warfare-without-bombs/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. In der Tschernobyl-Sperrzone befinden sich mehrere Zwischenlager für alle Arten Atommüll, zwei oberflächennahe Endlager und Konditionierungseinrichtungen. Eines der Zwischenlager enthält in einem Lagerbecken etwa 20.000 abgebrannte Brennelemente aus den drei 1986 nicht beschädigten, inzwischen stillgelegten, Tschernobyl-Reaktoren<ref name="ShortBriefing" />. Ein Zwischenlager unter freiem Himmel mit mehr als 3.000 abgebrannten Brennelementen liegt zusätzlich auf dem Gelände des AKW Saporischschja. Darüberhinaus existieren Zwischenlager für andere radioaktive Abfälle an verschiedenen weiteren Orten in der Ukraine, u.a. in Charkiw und Kiew. Außerdem befinden sich in der Ukraine radioaktive Absetzbecken mit kontaminierten Abfällen aus der Uranförderung und -aufbereitung. Darüberhinaus befinden sich Forschungsreaktoren in Kiew und Charkiw, sowie an letzterem Ort außerdem eine Neutronenquelle und eine Isotopenproduktionsanlage. Auf der seit 2014 durch Russland besetzten Krim existiert ein weiterer Forschungsreaktor und die kritische Anordnung "Sph IR-100". Auch gibt es viele Strahlenquellen in Zwischenlagern, Kohlekraftwerken und Kohlebergwerken in der seit 2014 besetzten Ostukraine.<ref name="Atommuellreport">Schönberger, Ursula: "Länderbericht Ukraine". atommüllreport, 25.05.2022. https://www.atommuellreport.de/themen/detail/atommuellreport-laenderbericht-ukraine.html - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
<br />
Die AKW in der Ukraine befinden sich in einem schlechten Zustand: Jahrelang wurden nur die dringendsten Reparaturen vorgenommen, notwendige Sicherheitsnachrüstungen erfolgten kaum, trotzdem erlaubte die Atomaufsichtsbehörde immer weitere Laufzeitverlängerungen und Leistungserhöhungen der alternden Reaktoren. In den vergangenen zehn Jahren ereigneten sich mehrere schwerwiegende Unfälle und Sicherheitsprobleme, die teils zunächst vertuscht wurden. Die Reaktoren charakterisieren sich als höchst störanfällig. Problematisch ist außerdem der vor allem politisch motivierte Einsatz US-amerikanischer Brennelemente in ukrainischen Reaktoren, von denen keiner dafür ausgelegt ist. Daraus können sich zusätzliche Sicherheitsprobleme ergeben. Grundsätzlich ist die Atomindustrie der Ukraine von der Versorgung mit russischen Brennelementen abhängig.<ref name="Atommuellreport" /><br />
<br />
Kein Reaktor ist gegen militärische Attacken geschützt. Eine Atomkatastrophe mit massiver Freisetzung ist durch derartige Angriffe bei allen aktiven kommerziellen Atomkraftwerken möglich.<ref name="ShortBriefing" /> Dabei können Atomanlagen Ziele von direkten Attacken, Opfer von Kollateralschäden beispielsweise durch Geschosse, die ihr eigentliches Ziel verfehlen oder auch Terrorziele werden<ref name="BeyondNuclear" />. Konkret kann es sich dabei insbesondere um den Einschlag von Explosivgeschossen in sicherheitskritische Anlagenteile oder Kernschmelze infolge der Trennung von Kühl- und Sicherheitssystemen von der Energieversorgung handeln. So können das Reaktor-Containment aufgeschlagen werden, abgebrannte Brennelemente durch Bombardierung beschädigt oder die Kühlwasserversorgung unterbrochen werden.<ref name="Polytechnique">Herviou, Karine; Meshkati, Najmedin; Ustohalova, Veronika; Gupta, Olivier: What are the risks of nuclear power plants in wartime? Polytechnique insights, 12.07.2022. https://www.polytechnique-insights.com/en/columns/geopolitics/how-to-protect-nuclear-power-plants-in-wartime/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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Schon vor der russischen Invasion kam es zu terroristischen bzw. sabotagebedingten Vorfällen, die sich auf Sicherheitssysteme der ukrainischen AKW auswirkten. 2015 führte beispielsweise die Sprengung von Hochspannungsmasten in der Krim-Region durch Separatist*innen zur Notabschaltung eines Reaktors wegen Netzinstabilität.<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" /> Auch bedrohte 2015 in der Ostukraine die Explosion von Munition in der Nähe eines Lagers für Strahlungsquellen deren Sicherheit. Aufgrund der absehbaren Bedrohungslage fand 2017 mit Unterstützung der USA eine Übung zum Schutz der kritischen Infrastruktur des AKW Saporischschja statt, nachdem sich die Ukraine schon 2014 mit der Bitte um Hilfe bei der Sicherung von Atomanlagen an NATO, EU und die USA gewandt hatte. Auch gab es Berichte von aus Kohlekraftwerken verschwundenen Strahlenquellen, die von Separatist*innen verkauft worden sein sollen.<ref name="Atommuellreport" /><br />
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Gleich am ersten Tag der Invasion in der Ukraine besetzten die russischen Truppen das Gelände des 1986 havarierten AKW Tschernobyl<ref name="ZDF">Stillgelegtes Kernkraftwerk. Kiew: Russland hat Tschernobyl eingenommen. ZDF, 24.02.2022. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/tschernobyl-kernkraftwerk-krieg-russland-ukraine-100.html - gesichtet 24.10.2022</ref>. In den folgenden Tagen wurden Radioaktivitäts-Spikes von den Messsystemen zur Überwachung der Umweltradioaktivität in der Sperrzone festgestellt, die teils erheblich über den dort "normalen" Werten lagen. Dem russischen Anti-Atom-Experten Andrey Ozharovsky zufolge wurden diese vermutlich durch schwere Militärfahrzeuge, deren Manöver den verseuchten Boden aufgewirbelt hatten, verursacht<ref name="Ozharovsky">Ozharovsky, Andrey: Рост мощности дозы гамма излучения на площадке Чернобыльской АЭС. Facebook, 25.02.2022. https://www.facebook.com/andrey.ozharovsky/posts/4802038569873501 - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Am 9. März wurden die Atomanlagen in Tschernobyl von der externen Stromversorgung abgeschnitten und liefen mit Notstrom. Erst am 14. März konnte die Stromversorgung wiederhergestellt werden. Bei Plünderungen wurden im März außerdem technische Ausrüstung und wichtige Instrumente eines Labors zur Untersuchung der radiologischen Situation in der Tschernobyl-Sperrzone sowie das Frühwarnsystem für Störfälle und weitere Strahlenmesseinrichtungen zerstört.<ref name="Atommuellreport" /> Wegen des Ausfalls der Überwachungssysteme und der Plünderungen wird die Gefahr einer unkontrollierten Verbreitung von atomwaffenfähigem Material aus den Atomanlagen gesehen, da die vorgesehene Verfolgung solcher Materialien, z.B. durch die IAEA, und die Überwachung ihrer weiteren Verwendung kaum noch möglich ist<ref name="SRzG">Russlands Einmarsch in die Ukraine bedroht die Freiheit nachrückender Generationen weltweit. Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, 25.02.2022. https://generationengerechtigkeit.info/russlands-einmarsch-in-die-ukraine/ - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Tschernobyl gab es eine Reihe von Berichten über russische Soldaten mit Strahlenschäden. Diese könnten sie sich beim Ausheben von Schützengräben in verseuchtem Boden und Aufenthalt in der kontaminierten Sperrzone zugezogen haben<ref name="Atommuellreport" />. Erst am 21. März konnte nach ca. vier Wochen ein erster Schichtwechsel in Tschernobyl erfolgen. Die Besatzer*innen hatten die Rotation des Personals nicht erlaubt<ref name="Atommuellreport" />. Fehlende Schichtwechsel in Atomanlagen im Krieg bedeuten ein erhöhtes Risiko menschlichen Versagens<ref name="Polytechnique" />.<br />
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Aber auch andere Atomanlagen wurden bereits Opfer russischen Beschusses: Das Atomforschungsinstitut in Kiew wurde im März mehrfach Ziel russischer Angriffe: Am 6., 8. und 10./11. März schlugen Geschosse ein und verursachten erhebliche Schäden am Gebäude. Auch das Forschungszentrum in Charkiw wurde im März infolge von Bombardierung beschädigt und von der Stromversorgung abgeschnitten. Ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle wurde am 26. Februar in Charkiw getroffen und in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar war ein weiteres Lager in Kiew das Ziel von Granatenbeschuss.<ref name="Atommuellreport" /><br />
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Besonders dramatisch ist die Lage am AKW Saporischschja. Anfang März erfolgte erstmals in der Geschichte ein Waffeneinsatz an einem in Betrieb befindlichen kommerziellen Reaktor<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass">Stender, Anna: Atomares Pulverfass. .ausgestrahlt, 24.08.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/08/24/atomares-pulverfass/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Der bewaffnete Konflikt in einem Land mit massiv ausgebauter Atomindustrie stellt einen Präzendenzfall dar<ref name="Polytechnique" />. Ein Schulungsgebäude auf dem AKW-Gelände brannte ab. Im Anschluss bestand längere Zeit kein Zugang und nur eine beschränkte Fernüberwachung für IAEA-Kontrolleur*innen.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /> Ca. 500 russische Soldaten sollen die Atomanlage seit März als Stützpunkt nutzen sowie Waffen und Munition, u.a. Granatwerfer sowie Panzer- und Flugabwehrraketen, in den Gebäuden lagern<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><ref name="Polytechnique" />. Sofort nach der Besetzung brachte das russische Militär Panzer auf dem Gelände unter<ref name="Polytechnique" />. Der Standort wurde auch als Abschussbasis für Raketen und Artillerie genutzt<ref name="armywarcollege" />. Eine Explosion von Munition in der Nähe des AKW ereignete sich am 14. März<ref name="Atommuellreport" />. Seit August sollen Gebäude und Gelände mehrfach von Raketen getroffen worden sein<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" />. Fotos aus dem Sommer zeigten, dass u.a ein Transformator beschädigt wurde - ein kritisches System, das die kontinuierliche Versorgung von Kühl- und Sicherheitssystemen mit Strom sicherstellen soll<ref name="armywarcollege" />.<br />
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Nach und nach wurden wegen der Gefahrenlage immer mehr Reaktoren heruntergefahren. Inzwischen (Stand: Oktober) sind alle Reaktoren abgeschaltet. Trotzdem bleibt die Gefahr einer Kernschmelze infolge eines Unfalls akut, da das Reaktorinventar und das Lager für abgebrannte Brennelemente selbst nach dem Herunterfahren noch viele Jahre einer intensiven Kühlung bedürfen. Hierfür ist das AKW auf eine externe Stromversorgung und funktionierende Kühl- sowie Sicherheitssysteme angewiesen. Wenn die Stromversorgung über das Netz ausfällt, kommen Dieselgeneratoren zum Einsatz, die allerdings eine auf einige Tage begrenzte Reichweite haben und von Treibstoff-Nachlieferungen abhängig sind.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
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Das ukrainische AKW-Personal steht seit der Eroberung der Atomanlage unter russischer Aufsicht. Viele Menschen sind geflohen. Teile der Führungskräfte und Arbeiter*innenschaft wurden gekidnappt, gefoltert bzw. getötet<ref name="armywarcollege" />. Die verbleibenden Mitarbeiter*innen arbeiten unter Gewaltandrohungen durch die russischen Besatzer*innen. Sie stehen unter extremer psychischen Belastung, was auch die Fehleranfälligkeit beim Umgang mit dieser Hochrisikotechnologie erhöht. Berichtet wurde von Kommunikationsproblemen der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde mit dem Personal am AKW Saporischschja aufgrund der Abschaltung des Mobilfunks und Blockierung des Internets durch die russischen Kräfte<ref name="Polytechnique" />. Darüberhinaus könnten die Besatzer*innen selbst die Sicherheit der Anlage gefährden, weil sie weniger spezifisches Know-How als die ukrainischen Mitarbeiter*innen haben. So könnten sie falsche Maßnahmen erzwingen, und reguläre Sicherheitsüberprüfungen einschränken bzw. verhindern. Auch besteht die Gefahr, dass kritische Geräte und Bauteile im Krieg nicht beschafft werden können. Zudem ist das Krisenmanagement im Falle eines Unfalls voraussichtlich erschwert, weil Evakuierungen unter den Bedingungen von Besatzung und Krieg behindert würden und nötige Infrastruktur durch die Lage in Frontnähe womöglich nur eingeschränkt nutzbar wäre.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
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Die Behörden der Ukraine, Polens, Rumäniens, Moldaus und Finnlands haben als Konsequenz aus der Sicherheitssituation am AKW Saporischschja für den Fall einer Atomkatastrophe Jodtabletten an die Bevölkerung verteilt<ref name="armywarcollege" />. Bei korrekter Dosierung und gutem Timing kann so zumindest das Schilddrüsenkrebsrisiko infolge eines Super-GAUs gesenkt werden.<br />
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In einem im US Army War College-Journal veröffentlichten Papier mit Anregungen an das Pentagon stellt der Akademiker Henry D. Sokolski fest: "After what has unfolded at Zaporizhzhya, civilian nuclear plants must be viewed as prepositioned nuclear weapon"<ref name="armywarcollege" />. Trotzdem setzt die Ukraine weiter auf Atomkraft. Im Juni 2022 schloss der ukrainische AKW-Betreiber Energoatom mit dem US-amerikanischen Atomkonzern Westinghouse ein Abkommen über den Bau von vier neuen Reaktoren<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" />. Darüberhinaus wurden Absichtserklärungen zur Errichtung mehrerer sogenannter SMR (Small Modular Reactor) mit verschiedenen US-amerikanischen Firmen getroffen<ref name="Atommuellreport" />.<br />
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Neben der Gefährdung der ukrainischen Atomanlagen im Krieg besteht außerdem ein steigendes Risiko für einen Einsatz von Atomwaffen durch die Russische Föderation. Schon am 27. Februar, wenige Tage nach dem Angriff auf die Ukraine, gab Putin den Befehl aus, die Abschreckungsstreitkräfte in besondere Alarmbereitschaft zu versetzen, zu denen auch ca. 6.200 Atomsprengköpfe gehören<ref>Breidenbach, Heinrich: Atomwaffen: No first use! PLAGE NEWS 1/22, S. 4</ref>. Die indirekte Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen wurde seitem mehrfach wiederholt. Im Sommer forderten radikale Nationalisten aus der russischen Militärführung in der Ukraine sogar ganz offen den Einsatz taktischer Atomwaffen, woraufhin USA und NATO Russland Konsequenzen für eine solche Aktion ankündigten. Eine besondere Dramatik ergibt sich aus dem Umstand, dass mit Russland die angreifende Nation einer der Garanten ist, die der Ukraine 1994 im Gegenzug für deren Verzicht auf ihr Atomwaffenarsenal Schutz versprachen<ref name="SRzG" />.<ref>Zu den Garantiestaaten für die territoriale Integrität der Ukraine gehörten 1994 auch die USA.</ref> Das Szenario eines Atomkriegs zwischen Russland und USA ist seit dem Invasionsbeginn näher als sonst jemals seit den 1970er Jahren<ref>Hudson, Kate: There is an increasing risk of nuclear war over Ukraine. Campaign for Nuclear Disarmament. E-Mail vom 24.02.2022</ref>. Eine weitere Bedrohung stellt die mögliche Interpretation einer grenzüberschreitenden, militärisch ausgelösten Atomkatastrophe in der Ukraine als NATO-Bündnisfall dar, der einzelnen Expert*innen denkbar erscheint, wenn z.B. die Bevölkerungen der NATO-Mitglieder Rumänien oder Polen von massiven radioaktiven Freisetzungen betroffen würden. Die Ausrufung des Bündnisfalles könnte im schlimmsten Fall bis zum Eintritt der NATO in den Krieg mit Russland führen<ref name="armywarcollege" />.<br />
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So bleibt zum Abschluss nur festzuhalten, was eine Expert*innengruppe aus Atomindustrie, Forschung und Aufsichtsbehörden in einem wissenschaftlichen Journal zur Sicherheit von Atomkraftwerken in Kriegszeiten resümierte: "As things stand, that the attacking power does not target nuclear facilities is perhaps all we can hope for"<ref name="Polytechnique" />. AKW sind zu gefährlich, als dass sie noch gebaut, betrieben oder ihre Laufzeit verlängert werden sollte - nicht nur für aktive Kriegsparteien, sondern auch im Kontext sogenannter "hybrider Kriegsführung", z.B. Sabotage durch Spezialeinheiten.<br />
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=== Fußnoten ===<br />
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[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Militarismus]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atomkraft_im_Krieg&diff=218622022-01:Atomkraft im Krieg2022-10-24T18:12:05Z<p>WikiSysop: Korrekturen</p>
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<div>== Atomkraft im Krieg ==<br />
'''fb''' "Atomkraftwerke sind Bomben, die zeitweise Strom erzeugen", stand auf einem Plakat, das 2002 bei Protesten gegen die Jahrestagung des Deutschen Atomforums in Stuttgart gezeigt wurde. Damit sollte vor allem auf die Unfallgefahr im "Normalbetrieb" hingewiesen werden. Dass jedes Atomkraftwerk (AKW) mit Reaktorkernladung Ziel oder Opfer eines Kollateralschadens in einer militärischen Auseinandersetzung sein kann, wurde seit dem ersten Tag von Putins Krieg gegen die Ukraine verdeutlicht: zunächst durch die Angriffe auf das AKW Tschernobyl in der Super-GAU-Sperrzone, wenige Tage später durch die Kämpfe um das AKW Saporischschja. Beide Anlagen erhielten Einschläge von Geschossen; es war Glück, dass kein kritischer Anlagenteil getroffen wurde. Seitdem schlitterte vor allem Saporischschja, das größte AKW in Europa, mehrfach knapp an einer Katastrophe vorbei. Berichte über Einschläge auf dem Gelände, die Zerstörung des Netzanschlusses und das Einsetzen der Notstromaggregate versetzten die Öffentlichkeit anfangs in Zittern, inzwischen, infolge ständiger Wiederholung, scheint eine Gewöhnung eingesetzt zu haben. Das Risiko hat sich dabei nicht verringert.<br />
<br />
Dabei handelt es sich, weltweit betrachtet, in der Ukraine nicht um die ersten militärischen Schläge gegen Atomkraftwerke. Es gab bereits mindestens 13 solche Angriffe auf Reaktoren in Israel, Iran, Irak und Syrien - ausgeführt von Israel, Iran Irak, Großbritannien bzw. USA. Allerdings war keine dieser Anlagen zum Zeitpunkt der Angriffe in Betrieb. Es existiert kein spezifisches internationales Regelwerk, das den Umgang mit Atomanlagen im Krieg behandelt, aber eine Reihe Vorgaben in unterschiedlichen Verträgen. Hervorzuheben ist Teil III des Zusatzprotokolls I der Genfer Konventionen, der deutlich gegen Attacken auf Elektrizitätswerke im Krieg spricht. Russland zog sich 2019 von einzelnen Verpflichtungen aus diesem Protokoll zurück, was aber nicht als umfassenden Austritt aus dem Vertragswerk betrachtet wird<ref name="Wikipedia">Protocol I. Wikipedia. https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Protocol_I&oldid=1117909633 - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Die USA, Indien, Iran, Israel, Pakistan und Türkei ratifizierten das Protokoll nie<ref>Anzumerken ist außerdem, dass das Pentagon seinen Militärkommandant*innen im 2016er "Law of War Manual" die Entscheidung überlässt, ob sie AKW angreifen, wenn diese das "wichtig" finden (vgl. Sokolski (2022)).</ref>.<ref name="armywarcollege">Sokolski, Henry D.: Present Danger: Nuclear Power Plants in War. The US Army War College Quarterly: Parameters 52(4), 19.10.2022. https://press.armywarcollege.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=3178&context=parameters - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
<br />
In der Ukraine befinden sich 15 Reaktoren in Betrieb, vier weitere sind stillgelegt<ref name="Tabelle">Übersichtstabelle "Nuclear Power Stations Ukraine" von Jan Haverkamp, 24.02.2022</ref>. Reaktor 4 von Tschernobyl war 1986 explodiert und ist bis heute stark radioaktiv kontaminiert<ref name="ShortBriefing">Jan Haverkamp: Short Briefing: Russian war on Ukraine – nuclear energy risks. 24.02.2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Ukraine">Stender, Anna: Atomkraft in der Ukraine. .ausgestrahlt, 02.03.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/02/atomkraft-der-ukraine/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. AKW produzieren etwa die Hälfte des Stroms des Landes<ref name="BeyondNuclear">Gunter, Linda Pentz: Nuclear warfare without bombs. Ukraine’s reactors could be in the line of fire. Beyond Nuclear International, 30.01.2022. https://beyondnuclearinternational.org/2022/01/30/nuclear-warfare-without-bombs/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. In der Tschernobyl-Sperrzone befinden sich mehrere Zwischenlager für alle Arten Atommüll, zwei oberflächennahe Endlager und Konditionierungseinrichtungen. Eines der Zwischenlager enthält in einem Lagerbecken etwa 20.000 abgebrannte Brennelemente aus den drei 1986 nicht beschädigten, inzwischen stillgelegten, Tschernobyl-Reaktoren<ref name="ShortBriefing" />. Ein Zwischenlager unter freiem Himmel mit mehr als 3.000 abgebrannten Brennelementen liegt zusätzlich auf dem Gelände des AKW Saporischschja. Darüberhinaus existieren Zwischenlager für andere radioaktive Abfälle an verschiedenen weiteren Orten in der Ukraine, u.a. in Charkiw und Kiew. Außerdem befinden sich in der Ukraine radioaktive Absetzbecken mit kontaminierten Abfällen aus der Uranförderung und -aufbereitung. Darüberhinaus befinden sich Forschungsreaktoren in Kiew und Charkiw, sowie an letzterem Ort außerdem eine Neutronenquelle und eine Isotopenproduktionsanlage. Auf der seit 2014 durch Russland besetzten Krim existiert ein weiterer Forschungsreaktor und die kritische Anordnung "Sph IR-100". Auch gibt es viele Strahlenquellen in Zwischenlagern, Kohlekraftwerken und Kohlebergwerken in der seit 2014 besetzten Ostukraine.<ref name="Atommuellreport">Schönberger, Ursula: "Länderbericht Ukraine". atommüllreport, 25.05.2022. https://www.atommuellreport.de/themen/detail/atommuellreport-laenderbericht-ukraine.html - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
<br />
Die AKW in der Ukraine befinden sich in einem schlechten Zustand: Jahrelang wurden nur die dringendsten Reparaturen vorgenommen, notwendige Sicherheitsnachrüstungen erfolgten kaum, trotzdem erlaubte die Atomaufsichtsbehörde immer weitere Laufzeitverlängerungen und Leistungserhöhungen der alternden Reaktoren. In den vergangenen zehn Jahren ereigneten sich mehrere schwerwiegende Unfälle und Sicherheitsprobleme, die teils zunächst vertuscht wurden. Die Reaktoren charakterisieren sich als höchst störanfällig. Problematisch ist außerdem der vor allem politisch motivierte Einsatz US-amerikanischer Brennelemente in ukrainischen Reaktoren, von denen keiner dafür ausgelegt ist. Daraus können sich zusätzliche Sicherheitsprobleme ergeben. Grundsätzlich ist die Atomindustrie der Ukraine von der Versorgung mit russischen Brennelementen abhängig.<ref name="Atommuellreport" /><br />
<br />
Kein Reaktor ist gegen militärische Attacken geschützt. Eine Atomkatastrophe mit massiver Freisetzung ist durch derartige Angriffe bei allen aktiven kommerziellen Atomkraftwerken möglich.<ref name="ShortBriefing" /> Dabei können Atomanlagen Ziele von direkten Attacken, Opfer von Kollateralschäden beispielsweise durch Geschosse, die ihr eigentliches Ziel verfehlen oder auch Terrorziele werden<ref name="BeyondNuclear" />. Konkret kann es sich dabei insbesondere um den Einschlag von Explosivgeschossen in sicherheitskritische Anlagenteile oder Kernschmelze infolge der Trennung von Kühl- und Sicherheitssystemen von der Energieversorgung handeln. So können das Reaktor-Containment aufgeschlagen werden, abgebrannte Brennelemente durch Bombardierung beschädigt oder die Kühlwasserversorgung unterbrochen werden.<ref name="Polytechnique">Herviou, Karine; Meshkati, Najmedin; Ustohalova, Veronika; Gupta, Olivier: What are the risks of nuclear power plants in wartime? Polytechnique insights, 12.07.2022. https://www.polytechnique-insights.com/en/columns/geopolitics/how-to-protect-nuclear-power-plants-in-wartime/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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Schon vor der russischen Invasion kam es zu terroristischen bzw. sabotagebedingten Vorfällen, die sich auf Sicherheitssysteme der ukrainischen AKW auswirkten. 2015 führte beispielsweise die Sprengung von Hochspannungsmasten in der Krim-Region durch Separatist*innen zur Notabschaltung eines Reaktors wegen Netzinstabilität.<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" /> Auch bedrohte 2015 in der Ostukraine die Explosion von Munition in der Nähe eines Lagers für Strahlungsquellen deren Sicherheit. Aufgrund der absehbaren Bedrohungslage fand 2017 mit Unterstützung der USA eine Übung zum Schutz der kritischen Infrastruktur des AKW Saporischschja statt, nachdem sich die Ukraine schon 2014 mit der Bitte um Hilfe bei der Sicherung von Atomanlagen an NATO, EU und die USA gewandt hatte. Auch gab es Berichte von aus Kohlekraftwerken verschwundenen Strahlenquellen, die von Separatist*innen verkauft worden sein sollen.<ref name="Atommuellreport" /><br />
<br />
Gleich am ersten Tag der Invasion in der Ukraine besetzten die russischen Truppen das Gelände des 1986 havarierten AKW Tschernobyl<ref name="ZDF">Stillgelegtes Kernkraftwerk. Kiew: Russland hat Tschernobyl eingenommen. ZDF, 24.02.2022. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/tschernobyl-kernkraftwerk-krieg-russland-ukraine-100.html - gesichtet 24.10.2022</ref>. In den folgenden Tagen wurden Radioaktivitäts-Spikes von den Messsystemen zur Überwachung der Umweltradioaktivität in der Sperrzone festgestellt, die teils erheblich über den dort "normalen" Werten lagen. Dem russischen Anti-Atom-Experten Andrey Ozharovsky zufolge wurden diese vermutlich durch schwere Militärfahrzeuge, deren Manöver den verseuchten Boden aufgewirbelt hatten, verursacht<ref name="Ozharovsky">Ozharovsky, Andrey: Рост мощности дозы гамма излучения на площадке Чернобыльской АЭС. Facebook, 25.02.2022. https://www.facebook.com/andrey.ozharovsky/posts/4802038569873501 - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Am 9. März wurden die Atomanlagen in Tschernobyl von der externen Stromversorgung abgeschnitten und liefen mit Notstrom. Erst am 14. März konnte die Stromversorgung wiederhergestellt werden. Bei Plünderungen wurden im März außerdem technische Ausrüstung und wichtige Instrumente eines Labors zur Untersuchung der radiologischen Situation in der Tschernobyl-Sperrzone sowie das Frühwarnsystem für Störfälle und weitere Strahlenmesseinrichtungen zerstört.<ref name="Atommuellreport" /> Wegen des Ausfalls der Überwachungssysteme und der Plünderungen wird die Gefahr einer unkontrollierten Verbreitung von atomwaffenfähigem Material aus den Atomanlagen gesehen, da die vorgesehene Verfolgung solcher Materialien, z.B. durch die IAEA, und die Überwachung ihrer weiteren Verwendung kaum noch möglich ist<ref name="SRzG">Russlands Einmarsch in die Ukraine bedroht die Freiheit nachrückender Generationen weltweit. Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, 25.02.2022. https://generationengerechtigkeit.info/russlands-einmarsch-in-die-ukraine/ - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Tschernobyl gab es eine Reihe von Berichten über russische Soldaten mit Strahlenschäden. Diese könnten sie sich beim Ausheben von Schützengräben in verseuchtem Boden und Aufenthalt in der kontaminierten Sperrzone zugezogen haben<ref name="Atommuellreport" />. Erst am 21. März konnte nach ca. vier Wochen ein erster Schichtwechsel in Tschernobyl erfolgen. Die Besatzer*innen hatten die Rotation des Personals nicht erlaubt<ref name="Atommuellreport" />. Fehlende Schichtwechsel in Atomanlagen im Krieg bedeuten ein erhöhtes Risiko menschlichen Versagens<ref name="Polytechnique" />.<br />
<br />
Aber auch andere Atomanlagen wurden bereits Opfer russischen Beschusses: Das Atomforschungsinstitut in Kiew wurde im März mehrfach Ziel russischer Angriffe: Am 6., 8. und 10./11. März schlugen Geschosse ein und verursachten erhebliche Schäden am Gebäude. Auch das Forschungszentrum in Charkiw wurde im März infolge von Bombardierung beschädigt und von der Stromversorgung abgeschnitten. Ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle wurde am 26. Februar in Charkiw getroffen und in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar war ein weiteres Lager in Kiew das Ziel von Granatenbeschuss.<ref name="Atommuellreport" /><br />
<br />
Besonders dramatisch ist die Lage am AKW Saporischschja. Anfang März erfolgte erstmals in der Geschichte ein Waffeneinsatz an einem in Betrieb befindlichen kommerziellen Reaktor<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass">Stender, Anna: Atomares Pulverfass. .ausgestrahlt, 24.08.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/08/24/atomares-pulverfass/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Der bewaffnete Konflikt in einem Land mit massiv ausgebauter Atomindustrie stellt einen Präzendenzfall dar<ref name="Polytechnique" />. Ein Schulungsgebäude auf dem AKW-Gelände brannte ab. Im Anschluss bestand längere Zeit kein Zugang und nur eine beschränkte Fernüberwachung für IAEA-Kontrolleur*innen.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /> Ca. 500 russische Soldaten sollen die Atomanlage seit März als Stützpunkt nutzen sowie Waffen und Munition, u.a. Granatwerfer sowie Panzer- und Flugabwehrraketen, in den Gebäuden lagern<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><ref name="Polytechnique" />. Sofort nach der Besetzung brachte das russische Militär Panzer auf dem Gelände unter<ref name="Polytechnique" />. Der Standort wurde auch als Abschussbasis für Raketen und Artillerie genutzt<ref name="armywarcollege" />. Eine Explosion von Munition in der Nähe des AKW ereignete sich am 14. März<ref name="Atommuellreport" />. Seit August sollen Gebäude und Gelände mehrfach von Raketen getroffen worden sein<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" />. Fotos aus dem Sommer zeigten, dass u.a ein Transformator beschädigt wurde - ein kritisches System, das die kontinuierliche Versorgung von Kühl- und Sicherheitssystemen mit Strom sicherstellen soll<ref name="armywarcollege" />.<br />
<br />
Nach und nach wurden wegen der Gefahrenlage immer mehr Reaktoren heruntergefahren. Inzwischen (Stand: Oktober) sind alle Reaktoren abgeschaltet. Trotzdem bleibt die Gefahr einer Kernschmelze infolge eines Unfalls akut, da das Reaktorinventar und das Lager für abgebrannte Brennelemente selbst nach dem Herunterfahren noch viele Jahre einer intensiven Kühlung bedürfen. Hierfür ist das AKW auf eine externe Stromversorgung und funktionierende Kühl- sowie Sicherheitssysteme angewiesen. Wenn die Stromversorgung über das Netz ausfällt, kommen Dieselgeneratoren zum Einsatz, die allerdings eine auf einige Tage begrenzte Reichweite haben und von Treibstoff-Nachlieferungen abhängig sind.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
<br />
Das ukrainische AKW-Personal steht seit der Eroberung der Atomanlage unter russischer Aufsicht. Viele Menschen sind geflohen. Teile der Führungskräfte und Arbeiter*innenschaft wurden gekidnappt, gefoltert bzw. getötet<ref name="armywarcollege" />. Die verbleibenden Mitarbeiter*innen arbeiten unter Gewaltandrohungen durch die russischen Besatzer*innen. Sie stehen unter extremer psychischen Belastung, was auch die Fehleranfälligkeit beim Umgang mit dieser Hochrisikotechnologie erhöht. Berichtet wurde von Kommunikationsproblemen der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde mit dem Personal am AKW Saporischschja aufgrund der Abschaltung des Mobilfunks und Blockierung des Internets durch die russischen Kräfte<ref name="Polytechnique" />. Darüberhinaus könnten die Besatzer*innen selbst die Sicherheit der Anlage gefährden, weil sie weniger spezifisches Know-How als die ukrainischen Mitarbeiter*innen haben. So könnten sie falsche Maßnahmen erzwingen, und reguläre Sicherheitsüberprüfungen einschränken bzw. verhindern. Auch besteht die Gefahr, dass kritische Geräte und Bauteile im Krieg nicht beschafft werden können. Zudem ist das Krisenmanagement im Falle eines Unfalls voraussichtlich erschwert, weil Evakuierungen unter den Bedingungen von Besatzung und Krieg behindert würden und nötige Infrastruktur durch die Lage in Frontnähe womöglich nur eingeschränkt nutzbar wäre.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
<br />
Die Behörden der Ukraine, Polens, Rumäniens, Moldaus und Finnlands haben als Konsequenz aus der Sicherheitssituation am AKW Saporischschja für den Fall einer Atomkatastrophe Jodtabletten an die Bevölkerung verteilt<ref name="armywarcollege" />. Bei korrekter Dosierung und gutem Timing kann so zumindest das Schilddrüsenkrebsrisiko infolge eines Super-GAUs gesenkt werden.<br />
<br />
In einem im US Army War College-Journal veröffentlichten Papier mit Anregungen an das Pentagon stellt der Akademiker Henry D. Sokolski fest: "After what has unfolded at Zaporizhzhya, civilian nuclear plants must be viewed as prepositioned nuclear weapon"<ref name="armywarcollege" />. Trotzdem setzt die Ukraine weiter auf Atomkraft. Im Juni 2022 schloss der ukrainische AKW-Betreiber Energoatom mit dem US-amerikanischen Atomkonzern Westinghouse ein Abkommen über den Bau von vier neuen Reaktoren<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" />. Darüberhinaus wurden Absichtserklärungen zur Errichtung mehrerer sogenannter SMR (Small Modular Reactor) mit verschiedenen US-amerikanischen Firmen getroffen<ref name="Atommuellreport" />.<br />
<br />
Neben der Gefährdung der ukrainischen Atomanlagen im Krieg besteht außerdem ein steigendes Risiko für einen Einsatz von Atomwaffen durch die Russische Föderation. Schon am 27. Februar, wenige Tage nach dem Angriff auf die Ukraine, gab Putin den Befehl aus, die Abschreckungsstreitkräfte in besondere Alarmbereitschaft zu versetzen, zu denen auch ca. 6.200 Atomsprengköpfe gehören<ref>Breidenbach, Heinrich: Atomwaffen: No first use! PLAGE NEWS 1/22, S. 4</ref>. Die indirekte Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen wurde seitem mehrfach wiederholt. Im Sommer forderten radikale Nationalisten aus der russischen Militärführung in der Ukraine sogar ganz offen den Einsatz taktischer Atomwaffen, woraufhin USA und NATO Russland Konsequenzen für eine solche Aktion ankündigten. Eine besondere Dramatik ergibt sich aus dem Umstand, dass mit Russland die angreifende Nation einer der Garanten ist, die der Ukraine 1994 im Gegenzug für deren Verzicht auf ihr Atomwaffenarsenal Schutz versprachen<ref name="SRzG" />.<ref>Zu den Garantiestaaten für die territoriale Integrität der Ukraine gehörten 1994 auch die USA.</ref> Das Szenario eines Atomkriegs zwischen Russland und USA ist seit dem Invasionsbeginn näher als sonst jemals seit den 1970er Jahren<ref>Hudson, Kate: There is an increasing risk of nuclear war over Ukraine. Campaign for Nuclear Disarmament. E-Mail vom 24.02.2022</ref>. Eine weitere Bedrohung stellt die mögliche Interpretation einer grenzüberschreitenden, militärisch ausgelösten Atomkatastrophe in der Ukraine als NATO-Bündnisfall dar, der einzelnen Expert*innen denkbar erscheint, wenn z.B. die Bevölkerungen der NATO-Mitglieder Rumänien oder Polen von massiven radioaktiven Freisetzungen betroffen würden. Die Ausrufung des Bündnisfalles könnte im schlimmsten Fall bis zum Eintritt der NATO in den Krieg mit Russland führen<ref name="armywarcollege" />.<br />
<br />
So bleibt zum Abschluss nur festzuhalten, was eine Expert*innengruppe aus Atomindustrie, Forschung und Aufsichtsbehörden in einem wissenschaftlichen Journal zur Sicherheit von Atomkraftwerken in Kriegszeiten resümierte: "As things stand, that the attacking power does not target nuclear facilities is perhaps all we can hope for"<ref name="Polytechnique" />. AKW sind zu gefährlich, als dass sie noch gebaut, betrieben oder ihre Laufzeit verlängert werden sollte - nicht nur für aktive Kriegsparteien, sondern auch im Kontext sogenannter "hybrider Kriegsführung", z.B. Sabotage durch Spezialeinheiten.<br />
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=== Fußnoten ===<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Militarismus]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atomkraft_im_Krieg&diff=218612022-01:Atomkraft im Krieg2022-10-24T18:02:54Z<p>WikiSysop: Korrekturen</p>
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<div>== Atomkraft im Krieg ==<br />
'''fb''' "Atomkraftwerke sind Bomben, die zeitweise Strom erzeugen", stand auf einem Plakat, das 2002 bei Protesten gegen die Jahrestagung des Deutschen Atomforums in Stuttgart gezeigt wurde. Damit sollte vor allem auf die Unfallgefahr im "Normalbetrieb" hingewiesen werden. Dass jedes Atomkraftwerk (AKW) mit Reaktorkernladung Ziel oder Opfer eines Kollateralschadens in einer militärischen Auseinandersetzung sein kann, wurde seit dem ersten Tag von Putins Krieg gegen die Ukraine verdeutlicht: zunächst durch die Angriffe auf das AKW Tschernobyl in der Super-GAU-Sperrzone, wenige Tage später durch die Kämpfe um das AKW Saporischschja. Beide Anlagen erhielten Einschläge von Geschossen; es war Glück, dass kein kritischer Anlagenteil getroffen wurde. Seitdem schlitterte vor allem Saporischschja, das größte AKW in Europa, mehrfach knapp an einer Katastrophe vorbei. Berichte über Einschläge auf dem Gelände, die Zerstörung des Netzanschlusses und das Einsetzen der Notstromaggregate versetzten die Öffentlichkeit anfangs in Zittern, inzwischen, infolge ständiger Wiederholung, scheint eine Gewöhnung eingesetzt zu haben. Das Risiko hat sich dabei nicht verringert.<br />
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Dabei handelt es sich, weltweit betrachtet, in der Ukraine nicht um die ersten militärischen Schläge gegen Atomkraftwerke. Es gab bereits mindestens 13 solche Angriffe auf Reaktoren in Israel, Iran, Irak und Syrien - ausgeführt von Israel, Iran Irak, Großbritannien bzw. USA. Allerdings war keine dieser Anlagen zum Zeitpunkt der Angriffe in Betrieb. Es existiert kein spezifisches internationales Regelwerk, das den Umgang mit Atomanlagen im Krieg behandelt, aber eine Reihe Vorgaben in unterschiedlichen Verträgen. Hervorzuheben ist Teil III des Zusatzprotokolls I der Genfer Konventionen, der deutlich gegen Attacken auf Elektrizitätswerke im Krieg spricht. Russland zog sich 2019 von einzelnen Verpflichtungen aus diesem Protokoll zurück, was aber nicht als umfassenden Austritt aus dem Vertragswerk betrachtet wird<ref name="Wikipedia">Protocol I. Wikipedia. https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Protocol_I&oldid=1117909633 - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Die USA, Indien, Iran, Israel, Pakistan und Türkei ratifizierten das Protokoll nie<ref>Anzumerken ist außerdem, dass das Pentagon seinen Militärkommandant*innen im 2016er "Law of War Manual" die Entscheidung überlässt, ob sie AKW angreifen, wenn diese das "wichtig" finden (vgl. Sokolski (2022)).</ref>.<ref name="armywarcollege">Sokolski, Henry D.: Present Danger: Nuclear Power Plants in War. The US Army War College Quarterly: Parameters 52(4), 19.10.2022. https://press.armywarcollege.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=3178&context=parameters - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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In der Ukraine befinden sich 15 Reaktoren in Betrieb, vier weitere sind stillgelegt<ref name="Tabelle">Übersichtstabelle "Nuclear Power Stations Ukraine" von Jan Haverkamp, 24.02.2022</ref>. Reaktor 4 von Tschernobyl war 1986 explodiert und ist bis heute stark radioaktiv kontaminiert<ref name="ShortBriefing">Jan Haverkamp: Short Briefing: Russian war on Ukraine – nuclear energy risks. 24.02.2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Ukraine">Stender, Anna: Atomkraft in der Ukraine. .ausgestrahlt, 02.03.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/02/atomkraft-der-ukraine/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. AKW produzieren etwa die Hälfte des Stroms des Landes<ref name="BeyondNuclear">Gunter, Linda Pentz: Nuclear warfare without bombs. Ukraine’s reactors could be in the line of fire. Beyond Nuclear International, 30.01.2022. https://beyondnuclearinternational.org/2022/01/30/nuclear-warfare-without-bombs/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. In der Tschernobyl-Sperrzone befinden sich mehrere Zwischenlager für alle Arten Atommüll, zwei oberflächennahe Endlager und Konditionierungseinrichtungen. Eines der Zwischenlager enthält in einem Lagerbecken etwa 20.000 abgebrannte Brennelemente aus den drei 1986 nicht beschädigten, inzwischen stillgelegten, Tschernobyl-Reaktoren<ref name="ShortBriefing" />. Ein Zwischenlager unter freiem Himmel mit mehr als 3.000 abgebrannten Brennelementen liegt zusätzlich auf dem Gelände des AKW Saporischschja. Darüberhinaus existieren Zwischenlager für andere radioaktive Abfälle an verschiedenen weiteren Orten in der Ukraine, u.a. in Charkiw und Kiew. Außerdem befinden sich in der Ukraine radioaktive Absetzbecken mit kontaminierten Abfällen aus der Uranförderung und -aufbereitung. Darüberhinaus befinden sich Forschungsreaktoren in Kiew und Charkiw, sowie an letzterem Ort außerdem eine Neutronenquelle und eine Isotopenproduktionsanlage. Auf der seit 2014 durch Russland besetzten Krim existiert ein weiterer Forschungsreaktor und die kritische Anordnung "Sph IR-100". Auch gibt es viele Strahlenquellen in Zwischenlagern, Kohlekraftwerken und Kohlebergwerken in der seit 2014 besetzten Ostukraine.<ref name="Atommuellreport">Schönberger, Ursula: "Länderbericht Ukraine". atommüllreport, 25.05.2022. https://www.atommuellreport.de/themen/detail/atommuellreport-laenderbericht-ukraine.html - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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Dabei befinden sich die AKW in der Ukraine in einem schlechten Zustand: Jahrelang wurden nur die dringendsten Reparaturen vorgenommen, notwendige Sicherheitsnachrüstungen erfolgten kaum, trotzdem erlaubte die Atomaufsichtsbehörde immer weitere Laufzeitverlängerungen und Leistungserhöhungen der alternden Reaktoren. In den vergangenen zehn Jahren ereigneten sich mehrere schwerwiegende Unfälle und Sicherheitsprobleme, die teils zunächst vertuscht wurden. Die Reaktoren charakterisieren sich als höchst störanfällig. Problematisch ist außerdem der vor allem politisch motivierte Einsatz US-amerikanischer Brennelemente in ukrainischen Reaktoren, von denen keiner dafür ausgelegt ist. Daraus können sich zusätzliche Sicherheitsprobleme ergeben. Grundsätzlich ist die Atomindustrie der Ukraine von der Versorgung mit russischen Brennelementen abhängig.<ref name="Atommuellreport" /><br />
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Kein Reaktor ist gegen militärische Attacken geschützt. Eine Atomkatastrophe mit massiver Freisetzung ist durch derartige Angriffe bei allen aktiven kommerziellen Atomkraftwerken möglich.<ref name="ShortBriefing" /> Dabei können Atomanlagen Ziele von direkten Attacken, Opfer von Kollateralschäden beispielsweise durch Geschosse, die ihr eigentliches Ziel verfehlen oder auch Terrorziele werden<ref name="BeyondNuclear" />. Konkret kann es sich dabei insbesondere um den Einschlag von Explosivgeschossen in sicherheitskritische Anlagenteile oder Kernschmelze infolge der Trennung von Kühl- und Sicherheitssystemen von der Energieversorgung handeln. So können das Reaktor-Containment aufgeschlagen werden, abgebrannte Brennelemente durch Bombardierung beschädigt oder die Kühlwasserversorgung unterbrochen werden.<ref name="Polytechnique">Herviou, Karine; Meshkati, Najmedin; Ustohalova, Veronika; Gupta, Olivier: What are the risks of nuclear power plants in wartime? Polytechnique insights, 12.07.2022. https://www.polytechnique-insights.com/en/columns/geopolitics/how-to-protect-nuclear-power-plants-in-wartime/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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Schon vor der russischen Invasion kam es zu terroristischen bzw. sabotagebedingten Vorfällen, die sich auf Sicherheitssysteme der ukrainischen AKW auswirkten. 2015 führte beispielsweise die Sprengung von Hochspannungsmasten in der Krim-Region durch Separatist*innen zur Notabschaltung eines Reaktors wegen Netzinstabilität.<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" /> Auch bedrohte 2015 in der Ostukraine die Explosion von Munition in der Nähe eines Lagers für Strahlungsquellen deren Sicherheit. Aufgrund der absehbaren Bedrohungslage fand 2017 mit Unterstützung der USA eine Übung zum Schutz der kritischen Infrastruktur des AKW Saporischschja statt, nachdem sich die Ukraine schon 2014 mit der Bitte um Hilfe bei der Sicherung von Atomanlagen an NATO, EU und die USA gewandt hatte. Auch gab es Berichte von aus Kohlekraftwerken verschwundenen Strahlenquellen, die von Separatist*innen verkauft worden sein sollen.<ref name="Atommuellreport" /><br />
<br />
Gleich am ersten Tag der Invasion in der Ukraine besetzten die russischen Truppen das Gelände des 1986 havarierten AKW Tschernobyl<ref name="ZDF">Stillgelegtes Kernkraftwerk. Kiew: Russland hat Tschernobyl eingenommen. ZDF, 24.02.2022. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/tschernobyl-kernkraftwerk-krieg-russland-ukraine-100.html - gesichtet 24.10.2022</ref>. In den folgenden Tagen wurden Radioaktivitäts-Spikes von den Messsystemen zur Überwachung der Umweltradioaktivität in der Sperrzone festgestellt, die teils erheblich über den dort "normalen" Werten lagen. Dem russischen Anti-Atom-Experten Andrey Ozharovsky zufolge wurden diese vermutlich durch schwere Militärfahrzeuge, deren Manöver den verseuchten Boden aufgewirbelt hatten, verursacht<ref name="Ozharovsky">Ozharovsky, Andrey: Рост мощности дозы гамма излучения на площадке Чернобыльской АЭС. Facebook, 25.02.2022. https://www.facebook.com/andrey.ozharovsky/posts/4802038569873501 - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Am 9. März wurden die Atomanlagen in Tschernobyl von der externen Stromversorgung abgeschnitten und liefen mit Notstrom. Erst am 14. März konnte die Stromversorgung wiederhergestellt werden. Bei Plünderungen wurden im März außerdem technische Ausrüstung und wichtige Instrumente eines Labors zur Untersuchung der radiologischen Situation in der Tschernobyl-Sperrzone sowie das Frühwarnsystem für Störfälle und weitere Strahlenmesseinrichtungen zerstört.<ref name="Atommuellreport" /> Wegen des Ausfalls der Überwachungssysteme und der Plünderungen wird die Gefahr einer unkontrollierten Verbreitung von atomwaffenfähigem Material aus den Atomanlagen gesehen, da die vorgesehene Verfolgung solcher Materialien, z.B. durch die IAEA, und die Überwachung ihrer weiteren Verwendung kaum noch möglich ist<ref name="SRzG">Russlands Einmarsch in die Ukraine bedroht die Freiheit nachrückender Generationen weltweit. Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, 25.02.2022. https://generationengerechtigkeit.info/russlands-einmarsch-in-die-ukraine/ - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Tschernobyl gab es eine Reihe von Berichten über russische Soldaten mit Strahlenschäden. Diese könnten sie sich beim Ausheben von Schützengräben in verseuchtem Boden und Aufenthalt in der kontaminierten Sperrzone zugezogen haben<ref name="Atommuellreport" />. Erst am 21. März konnte nach ca. vier Wochen ein erster Schichtwechsel in Tschernobyl erfolgen. Die Besatzer*innen hatten die Rotation des Personals nicht erlaubt<ref name="Atommuellreport" />. Fehlende Schichtwechsel in Atomanlagen im Krieg bedeuten ein erhöhtes Risiko menschlichen Versagens<ref name="Polytechnique" />.<br />
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Aber auch andere Atomanlagen wurden bereits Opfer russischen Beschusses: Das Atomforschungsinstitut in Kiew wurde im März mehrfach Ziel russischer Angriffe: Am 6., 8. und 10./11. März schlugen Geschosse ein und verursachten erhebliche Schäden am Gebäude. Auch das Forschungszentrum in Charkiw wurde im März infolge von Bombardierung beschädigt und von der Stromversorgung abgeschnitten. Ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle wurde am 26. Februar in Charkiw getroffen und in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar war ein weiteres Lager in Kiew das Ziel von Granatenbeschuss.<ref name="Atommuellreport" /><br />
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Besonders dramatisch ist die Lage am AKW Saporischschja. Anfang März erfolgte erstmals in der Geschichte ein Waffeneinsatz an einem in Betrieb befindlichen kommerziellen Reaktor<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass">Stender, Anna: Atomares Pulverfass. .ausgestrahlt, 24.08.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/08/24/atomares-pulverfass/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Der bewaffnete Konflikt in einem Land mit massiv ausgebauter Atomindustrie stellt einen Präzendenzfall dar<ref name="Polytechnique" />. Ein Schulungsgebäude auf dem AKW-Gelände brannte ab. Im Anschluss bestand längere Zeit kein Zugang und nur eine beschränkte Fernüberwachung für IAEA-Kontrolleur*innen.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /> Ca. 500 russische Soldaten sollen die Atomanlage seit März als Stützpunkt nutzen sowie Waffen und Munition, u.a. Granatwerfer sowie Panzer- und Flugabwehrraketen, in den Gebäuden lagern<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><ref name="Polytechnique" />. Sofort nach der Besetzung brachte das russische Militär Panzer auf dem Gelände unter<ref name="Polytechnique" />. Der Standort wurde auch als Abschussbasis für Raketen und Artillerie genutzt<ref name="armywarcollege" />. Eine Explosion von Munition in der Nähe des AKW ereignete sich am 14. März<ref name="Atommuellreport" />. Seit August sollen Gebäude und Gelände mehrfach von Raketen getroffen worden sein<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" />. Fotos aus dem Sommer zeigten, dass u.a ein Transformator beschädigt wurde - ein kritisches System, das die kontinuierliche Versorgung von Kühl- und Sicherheitssystemen mit Strom sicherstellen soll<ref name="armywarcollege" />.<br />
<br />
Nach und nach wurden wegen der Gefahrenlage immer mehr Reaktoren heruntergefahren. Inzwischen (Stand: Oktober) sind alle Reaktoren abgeschaltet. Trotzdem bleibt die Gefahr einer Kernschmelze infolge eines Unfalls akut, da das Reaktorinventar und das Lager für abgebrannte Brennelemente selbst nach dem Herunterfahren noch viele Jahre einer intensiven Kühlung bedürfen. Hierfür ist das AKW auf eine externe Stromversorgung und funktionierende Kühl- sowie Sicherheitssysteme angewiesen. Wenn die Stromversorgung über das Netz ausfällt, kommen Dieselgeneratoren zum Einsatz, die allerdings eine auf einige Tage begrenzte Reichweite haben und danach von Treibstoff-Nachlieferungen abhängig sind.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
<br />
Das ukrainische AKW-Personal steht seit der Eroberung der Atomanlage unter russischer Aufsicht. Viele Menschen sind geflohen. Teile der Führungskräfte und Arbeiter*innenschaft wurden gekidnappt, gefoltert bzw. getötet<ref name="armywarcollege" />. Die verbleibenden Mitarbeiter*innen arbeiten unter Gewaltandrohungen durch die russischen Besatzer*innen. Sie stehen unter extremen psychischen Belastungen, was auch die Fehleranfälligkeit beim Umgang mit dieser Hochrisikotechnologie erhöht. Berichtet wurde von Kommunikationsproblemen der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde mit dem Personal am AKW Saporischschja aufgrund der Abschaltung des Mobilfunks und Blockierung des Internets durch die russischen Kräfte<ref name="Polytechnique" />. Darüberhinaus könnten die Besatzer*innen selbst die Sicherheit der Anlage gefährden, weil sie weniger spezifisches Know-How als die ukrainischen Mitarbeiter*innen haben. So könnten sie falsche Maßnahmen erzwingen, und reguläre Sicherheitsüberprüfungen einschränken bzw. verhindern. Auch besteht die Gefahr, dass kritische Geräte und Bauteile im Krieg nicht beschafft oder antransportiert werden können. Zudem ist das Krisenmanagement im Falle eines Unfalls voraussichtlich erschwert, weil Evakuierungen unter den Bedingungen von Besatzung und Krieg behindert würden und nötige Infrastruktur durch die Lage in Frontnähe womöglich nur eingeschränkt nutzbar wäre.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
<br />
Die Behörden der Ukraine, Polens, Rumäniens, Moldaus und Finnlands haben als Konsequenz aus der Sicherheitssituation am AKW Saporischschja für den Fall einer Atomkatastrophe Jodtabletten an die Bevölkerung verteilt<ref name="armywarcollege" />. Bei korrekter Dosierung und gutem Timing kann so zumindest das Schilddrüsenkrebsrisiko infolge eines Super-GAUs gesenkt werden.<br />
<br />
In einem im US Army War College-Journal veröffentlichten Papier mit Anregungen an das Pentagon stellt der Akademiker Henry D. Sokolski fest: "After what has unfolded at Zaporizhzhya, civilian nuclear plants must be viewed as prepositioned nuclear weapon"<ref name="armywarcollege" />. Trotzdem setzt die Ukraine weiter auf Atomkraft. Im Juni 2022 schloss der ukrainische AKW-Betreiber Energoatom mit dem US-amerikanischen Atomkonzern Westinghouse ein Abkommen über den Bau von vier neuen Reaktoren<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" />. Darüberhinaus wurden Absichtserklärungen zur Errichtung mehrerer sogenannter SMR (Small Modular Reactor) mit verschiedenen US-amerikanischen Firmen getroffen<ref name="Atommuellreport" />.<br />
<br />
Neben der Gefährdung der ukrainischen Atomanlagen im Krieg besteht außerdem ein steigendes Risiko für einen Einsatz von Atomwaffen durch die Russische Föderation. Schon am 27. Februar, wenige Tage nach dem Angriff auf die Ukraine, gab Putin den Befehl aus, die Abschreckungsstreitkräfte in besondere Alarmbereitschaft zu versetzen, zu denen auch ca. 6.200 Atomsprengköpfe gehören<ref>Breidenbach, Heinrich: Atomwaffen: No first use! PLAGE NEWS 1/22, S. 4</ref>. Die indirekte Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen wurde seitem mehrfach wiederholt. Im Sommer forderten radikale Nationalisten aus der russischen Militärführung in der Ukraine sogar ganz offen den Einsatz taktischer Atomwaffen, woraufhin USA und NATO Russland Konsequenzen für eine solche Aktion ankündigten. Eine besondere Dramatik ergibt sich aus dem Umstand, dass mit Russland die angreifende Nation einer der Garanten ist, die der Ukraine 1994 im Gegenzug für deren Verzicht auf ihr Atomwaffenarsenal Schutz versprachen<ref name="SRzG" />.<ref>Zu den Garantiestaaten für die territoriale Integrität der Ukraine gehörten 1994 auch die USA.</ref> Das Szenario eines Atomkriegs zwischen Russland und USA ist seit dem Invasionsbeginn näher als sonst jemals seit den 1970er Jahren<ref>Hudson, Kate: There is an increasing risk of nuclear war over Ukraine. Campaign for Nuclear Disarmament. E-Mail vom 24.02.2022</ref>. Eine weitere Bedrohung stellt die mögliche Interpretation einer grenzüberschreitenden, militärisch ausgelösten Atomkatastrophe in der Ukraine als NATO-Bündnisfall dar, der einzelnen Expert*innen denkbar erscheint, wenn z.B. die Bevölkerungen der NATO-Mitglieder Rumänien oder Polen von massiven radioaktiven Freisetzungen betroffen würden. Die Ausrufung des Bündnisfalles könnte im schlimmsten Fall bis zum Eintritt der NATO in den Krieg mit Russland führen<ref name="armywarcollege" />.<br />
<br />
So bleibt zum Abschluss nur festzuhalten, was eine Expert*innengruppe aus Atomindustrie, Forschung und Aufsichtsbehörden in einem wissenschaftlichen Journal zur Sicherheit von Atomkraftwerken in Kriegszeiten resümierte: "As things stand, that the attacking power does not target nuclear facilities is perhaps all we can hope for"<ref name="Polytechnique" />. AKW sind zu gefährlich, als dass sie noch gebaut, betrieben oder ihre Laufzeit verlängert werden sollte - nicht nur für aktive Kriegsparteien, sondern auch im Kontext sogenannter "hybrider Kriegsführung", bei der z.B. Sabotage durch Spezialeinheiten zum Einsatz kommen kann.<br />
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=== Fußnoten ===<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Militarismus]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atomkraft_im_Krieg&diff=218602022-01:Atomkraft im Krieg2022-10-24T17:16:02Z<p>WikiSysop: </p>
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<div>== Atomkraft im Krieg ==<br />
'''fb''' "Atomkraftwerke sind Bomben, die zeitweise Strom erzeugen", stand auf einem Plakat, das 2002 bei Protesten gegen die Jahrestagung des Deutschen Atomforums in Stuttgart gezeigt wurde. Damit sollte vor allem auf die Unfallgefahr im "Normalbetrieb" hingewiesen werden. Dass jedes Atomkraftwerk (AKW) mit Reaktorkernladung Ziel oder Opfer eines Kollateralschadens in einer militärischen Auseinandersetzung sein kann, wurde seit dem ersten Tag von Putins Krieg gegen die Ukraine verdeutlicht: zunächst durch die Angriffe auf das AKW Tschernobyl in der Super-GAU-Sperrzone, wenige Tage später durch die Kämpfe um das AKW Saporischschja. Beide Anlagen erhielten Einschläge von Geschossen, es war Glück, dass kein kritischer Anlagenteil getroffen wurde. Seitdem schlitterte vor allem Saporischschja, das größte AKW in Europa, mehrfach knapp an einer Katastrophe vorbei. Berichte über Einschläge auf dem Gelände, die Zerstörung des Netzanschlusses und das Einsetzen der Notstromaggregate versetzten die Öffentlichkeit anfangs in Zittern, inzwischen, nachdem sich diese Vorfälle ständig wiederholen, scheint eine Gewöhnung eingesetzt zu haben. Das Risiko hat sich dabei nicht verringert.<br />
<br />
Dabei handelt es sich, weltweit betrachtet, in der Ukraine nicht um die ersten militärischen Schläge gegen Atomkraftwerke. Es gab bereits mindestens 13 solche Angriffe auf Reaktoren in Israel, Iran, Irak und Syrien - ausgeführt von Israel, Iran Irak, Großbritannien bzw. USA. Allerdings war keine dieser Anlagen zum Zeitpunkt der Angriffe in Betrieb. Es existiert kein spezifisches internationales Regelwerk, das den Umgang mit Atomanlagen im Krieg behandelt, aber eine Reihe Vorgaben in unterschiedlichen Vertraegen. Hervorzuheben ist diesbezüglich Teil III des Zusatzprotokolls I der Genfer Konventionen, der deutlich gegen Attacken auf Elektrizitätswerke im Krieg steht. Russland zog sich 2019 von einzelnen Verpflichtungen aus diesem Protokoll zurück, was aber nicht als umfassenden Austritt aus dem Vertragswerk betrachtet wird<ref name="Wikipedia">Protocol I. Wikipedia. https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Protocol_I&oldid=1117909633 - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Die USA, Indien, Iran, Israel, Pakistan und Türkei ratifizierten es nie<ref>Anzumerken ist außerdem, dass das Pentagon seinen Militärkommandant*innen im 2016er "Law of War Manual" die Entscheidung überlässt, ob sie AKW angreifen, wenn diese das "wichtig" finden (vgl. Sokolski (2022)).</ref>.<ref name="armywarcollege">Sokolski, Henry D.: Present Danger: Nuclear Power Plants in War. The US Army War College Quarterly: Parameters 52(4), 19.10.2022. https://press.armywarcollege.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=3178&context=parameters - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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In der Ukraine befinden sich 15 Reaktoren in Betrieb, vier weitere sind stillgelegt<ref name="Tabelle">Übersichtstabelle "Nuclear Power Stations Ukraine" von Jan Haverkamp, 24.02.2022</ref>. Reaktor 4 von Tschernobyl war 1986 explodiert und ist bis heute stark radioaktiv kontaminiert<ref name="ShortBriefing">Jan Haverkamp: Short Briefing: Russian war on Ukraine – nuclear energy risks. 24.02.2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Ukraine">Stender, Anna: Atomkraft in der Ukraine. .ausgestrahlt, 02.03.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/02/atomkraft-der-ukraine/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Diese produzieren etwa die Hälfte des Stroms des Landes<ref name="BeyondNuclear">Gunter, Linda Pentz: Nuclear warfare without bombs. Ukraine’s reactors could be in the line of fire. Beyond Nuclear International, 30.01.2022. https://beyondnuclearinternational.org/2022/01/30/nuclear-warfare-without-bombs/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. In der Tschernobyl-Sperrzone befinden sich mehrere Zwischenlager für alle Arten Atommüll, zwei oberflächennahe Endlager und Konditionierungseinrichtungen. Eines dieser Zwischenlager enthält in einem Lagerbecken etwa 20.000 abgebrannte Brennelemente aus den drei 1986 nicht beschädigten, inzwischen stillgelegten Tschernobyl-Reaktoren<ref name="ShortBriefing" />. Ein Zwischenlager unter freiem Himmel mit mehr als 3.000 abgebrannten Brennelementen liegt zusätzlich auf dem Gelände des AKW Saporischschja. Darüberhinaus existieren Zwischenlager für andere radioaktive Abfälle an verschiedenen weiteren Orten in der Ukraine, u.a. in Charkiw und Kiew. Außerdem befinden sich in der Ukraine radioaktive Tailings Ponds (Absetzbecken) mit kontaminierten Abfällen aus der Uranförderung und -aufbereitung. Darüberhinaus befinden sich Forschungsreaktoren in Kiew und Charkiw, sowie an letzterem Ort außerdem eine Neutronenquelle und eine Isotopenproduktionsanlage. Auf der seit 2014 durch Russland besetzten Krim existiert ein weiterer Forschungsreaktor, und die kritisch Anordnung "Sph IR-100". Auch befinden sich viele Strahlenquellen in Zwischenlagern, Kohlekraftwerken und Kohlebergwerken in der seit 2014 besetzten Ostukraine.<ref name="Atommuellreport">Schönberger, Ursula: "Länderbericht Ukraine". atommüllreport, 25.05.2022. https://www.atommuellreport.de/themen/detail/atommuellreport-laenderbericht-ukraine.html - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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Dabei befinden sich die AKW in der Ukraine in einem schlechten Zustand: Jahrelang wurden nur die dringendsten Reparaturen vorgenommen, notwendige Sicherheitsnachrüstungen erfolgten kaum, trotzdem erlaubte die Atomaufsichtsbehörde immer weitere Laufzeitverlängerungen und Leistungserhöhungen der alternden Reaktoren. In den vergangenen zehn Jahren ereigneten sich mehrere schwerwiegende Unfälle und Sicherheitsprobleme, die teils zunächst vertuscht wurden. Die Reaktoren charakterisieren sich als höchst störanfällig. Problematisch ist außerdem der vor allem politisch motivierte Einsatz US-amerikanischer Brennelemente in ukrainischen Reaktoren, von denen keiner dafür ausgelegt ist. Dadurch können sich zusätzliche Sicherheitsprobleme ergeben. Grundsätzlich ist die Atomindustrie der Ukraine von der Versorgung mit russischen Brennelementen abhängig.<ref name="Atommuellreport" /><br />
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Kein Reaktor ist gegen militärische Attacken geschützt. Eine Atomkatastrophe mit massiver Freisetzung ist durch derartige Angriffe bei allen aktiven kommerziellen Atomkraftwerken möglich.<ref name="ShortBriefing" /> Dabei können Atomanlagen Ziele von direkten Attacken, Opfer von Kollateralschäden beispielsweise durch Geschosse, dir ihr eigentliches Ziel verfehlen oder auch Terrorziele werden<ref name="BeyondNuclear" />. Konkret kann es sich dabei insbesondere um den Einschlag von Explosivgeschossen in sicherheitskritische Anlagenteile, Kernschmelze infolge der Trennung von Kühl- und Sicherheitssystemen von der Energieversorgung handeln. So kann das Reaktor-Containment aufgeschlagen werden, abgebrannte Brennelemente durch Bombardierung beschädigt oder die Kühlwasserversorgung unterbrochen werden.<ref name="Polytechnique">Herviou, Karine; Meshkati, Najmedin; Ustohalova, Veronika; Gupta, Olivier: What are the risks of nuclear power plants in wartime? Polytechnique insights, 12.07.2022. https://www.polytechnique-insights.com/en/columns/geopolitics/how-to-protect-nuclear-power-plants-in-wartime/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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Schon vor der russischen Invasion kam es zu terroristischen bzw. sabotagebedingten Vorfällen, die sich auf Sicherheitssysteme der ukrainischen AKW auswirkten. 2015 führte beispielsweise die Sprengung von Hochspannungsmasten in der Krim-Region durch Separatist*innen zur Notabschaltung eines Reaktors wegen Netzinstabilität.<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" /> Auch bedrohte 2015 in der Ostukraine die Explosion von Munition in der Nähe eines Lagers für Strahlungsquellen deren Sicherheit. Aufgrund der absehbaren Bedrohungslage fand 2017 mit Unterstützung der USA eine Übung zum Schutz der kritischen Infrastruktur des AKW Saporischschja statt, nachdem schon 2014 die Ukraine sich mit der Bitte um Hilfe bei der Sicherung von Atomanlagen an NATO, EU und die USA gewandt hatte. Auch gab es Berichte von aus Kohlekraftwerken verschwundenen Strahlenquellen, die von Separatist*innen verkauft worden sein sollen.<ref name="Atommuellreport" /><br />
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Gleich am ersten Tag der Invasion in der Ukraine besetzten russische Truppen das Gelände des 1986 havarierten AKW Tschernobyl<ref name="ZDF">Stillgelegtes Kernkraftwerk. Kiew: Russland hat Tschernobyl eingenommen. ZDF, 24.02.2022. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/tschernobyl-kernkraftwerk-krieg-russland-ukraine-100.html - gesichtet 24.10.2022</ref>. In den folgenden Tagen wurden Radioaktivitäts-Spikes von den Messsystemen zur Überwachung der Umweltradioaktivität in der Sperrzone festgestellt, die teils erheblich über den dort "normalen" Werten lagen. Den russischen Anti-Atom-Experten Andrey Ozharovsky zufolge wurden diese vermutlich durch schwere Militärfahrzeuge, deren Manöver den verseuchten Boden aufgewirbelt hatten, verursacht<ref name="Ozharovsky">Ozharovsky, Andrey: Рост мощности дозы гамма излучения на площадке Чернобыльской АЭС. Facebook, 25.02.2022. https://www.facebook.com/andrey.ozharovsky/posts/4802038569873501 - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Am 9. März wurden die Atomanlagen in Tschernobyl von der externen Stromversorgung abgeschnitten und liefen mit Notstrom. Erst am 14. März konnte die Stromversorgung wiederhergestellt werden. Bei Plünderungen wurden im März außerdem technische Ausrüstung und wichtige Instrumente eines Labors zur Untersuchung der radiologischen Situation in der Tschernobyl-Sperrzone sowie das Frühwarnsystem für Störfälle und weitere Strahlenmesseinrichtungen zerstört.<ref name="Atommuellreport" /> Durch den Ausfall der Überwachungssysteme und die Plünderungen wirdfahr einer unkontrollierten Verbreitung von atomwaffenfähigem Material aus den Atomanlagen, da di gesehene Verfolgung und weitere Verwendung solcher Materialien z.B. durch die IAEA kaum noch möglich ist<ref name="SRzG">Russlands Einmarsch in die Ukraine bedroht die Freiheit nachrückender Generationen weltweit. Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, 25.02.2022. https://generationengerechtigkeit.info/russlands-einmarsch-in-die-ukraine/ - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Tschernobyl gab es eine Reihe von Berichten über russische Soldaten mit Strahlenschäden. Diese könnten sie sich beim Ausheben von Schützengräben in verseuchtem Boden und Aufenthalt in der kontaminierten Sperrzone zugezogen haben<ref name="Atommuellreport" />. Erst am 21. März konnte nach ca. vier Wochen ein erster Schichtwechsel in Tschernobyl erfolgen. Die Besatzer*innen hatten die Rotation des Personals nicht erlaubt<ref name="Atommuellreport" />. Fehlende Schichtwechsel in Atomanlagen im Krieg bedeuten ein erhöhtes Risiko menschlichen Versagens<ref name="Polytechnique" />.<br />
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Aber auch andere Atomanlagen wurden bereits Opfer russischen Beschusses: Das Atomforschungsinstitut in Kiew wurde im März mehrfach Ziel russischer Angriffe: Am 6., 8. und 10./11. März schlugen Geschosse ein und verursachten erhebliche Schäden am Gebäude. Auch das Forschungszentrum in Charkiw wurde im März infolge von Bombardierung beschädigt und von der Stromversorgung abgeschnitten. Ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle wurde am 26. Februar in Charkiw getroffen und in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar war ein weiteres Lager in Kiew das Ziel von Granatenbeschuss.<ref name="Atommuellreport" /><br />
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Besonders dramatisch ist die Lage am AKW Saporischschja. Anfang März erfolgte erstmals in der Geschichte ein Waffeneinsatz an einem in Betrieb befindlichen kommerziellen Reaktor<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass">Stender, Anna: Atomares Pulverfass. .ausgestrahlt, 24.08.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/08/24/atomares-pulverfass/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Der bewaffnete Konflikt in einem Land mit massiv ausgebauter Atomindustrie stellt einen Präzendenzfall dar<ref name="Polytechnique" />. Ein Schulungsgebäude auf dem AKW-Gelände brannte ab. Im Anschluss bestand längere Zeit kein Zugang und nur eine beschränkte Fernüberwachung für IAEA-Kontrolleur*innen.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /> Ca. 500 rissische Soldaten sollen die Atomanlage seit März als Stützpunkt nutzen sowie Waffen und Munition, u.a. Granatwerfer sowie Panzer- und Flugabwehrraketen, in den Gebäuden lagern<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><ref name="Polytechnique" />. Sofort nach der Besetzung brachte das russische Militär Panzer auf dem Gelände unter<ref name="Polytechnique" />. Der Standort wurde auch als Abschussbasis für Raketen und Artillerie genutzt<ref name="armywarcollege" />. Eine Explosion von Munition in der Nähe des AKW ereignete sich am 14. März<ref name="Atommuellreport" />. Seit August sollen Gebäude und Gelände mehrfach von Raketen getroffen worden sein<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" />. Fotos aus dem Sommer zeigten, dass u.a ein Transformator beschädigt wurde - ein kritisches System, das die kontinuierliche Versorgung von Kühl- und Sicherheitssystemen mit Strom sicherstellen soll<ref name="armywarcollege" />.<br />
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Nach und nach wurden wegen der Gefahrenlage immer mehr Reaktoren heruntergefahren. Inzwischen (Stand: Oktober) sind alle Reaktoren abgeschaltet. Trotzdem bleibt die Gefahr einer Kernschmelze infolge eines Unfalls akut, da das Reaktorinventar und das Lager für abgebrannte Brennelemente selbst nach dem Herunterfahren viele Jahre noch einer intensiven Kühlung bedürfen. Hierfür ist das AKW auf eine externe Stromversorgung und funktionierende Kühl- sowie Sicherheitssysteme angewiesen. Wenn die Stromversorgung über das Netz ausfällt, kommen Dieselgeneratoren zum Einsatz, die allerdings eine auf einige Tage begrenzte Reichweite haben und danach von Treibstoff-Nachlieferungen abhängig sind.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
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Das ukrainische AKW-Personal steht seit der Eroberung der Atomanlage unter russischer Aufsicht. Viele Menschen sind geflohen. Teile der Führungskräfte und Arbeiter*innenschaft wurden gekidnappt, gefoltert bzw. getötet<ref name="armywarcollege" />. Die verbleibenden Mitarbeiter*innen arbeiten unter Gewaltandrohungen durch die russischen Besatzer*innen. Sie stehen so unter extremen psychischen Belastungen, was auch die Fehleranfälligkeit beim Umgang mit dieser Hochrisikotechnologie erhöht. Berichtet wurde bereits von Kommunikationsproblemen der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde mit dem Personal am AKW Saporischschja aufgrund der Abschaltung des Mobilfunkes und Blockierung des Internets durch die russischen Kräfte<ref name="Polytechnique" />. Darüberhinaus könnten die Besatzer*innen selbst die Sicherheit der Anlage gefährden, weil sie weniger spezifisches Know-How als die ukrainischen Mitarbeiter*innen haben. So könnten sie falsche Maßnahmen erzwingen, und reguläre Sicherheitsüberprüfungen einschränken oder verhindern. Auch besteht die Gefahr, dass kritische Geräte und Bauteile im Krieg nicht beschafft oder antransportiert werden können. Auch das Krisenmanagement im Falle eines Unfalls ist voraussichtlich erschwert, weil Evakuierungen unter den Bedingungen von Besatzung und Krieg behindert würden und nötige Infrastruktur durch die Lage in Frontnähe womöglich nur eingeschränkt nutzbar wäre.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
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Die Behörden der Ukraine, Polens, Rumäniens, Moldaus und Finnlands haben als Konsequenz aus der Sicherheitssituation am AKW Saporischschja für den Fall einer Atomkatastrophe Jodtabletten an die Bevölkerung verteilt<ref name="armywarcollege" />. Bei korrekter Dosierung und gutem Timing kann so zumindest das Schilddrüsenkrebsrisiko infolge eines Super-GAUs gesenkt werden.<br />
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In einem im US Army War College-Journal veröffentlichten Papier mit Anregungen an das Pentagon stellt der Akademiker Henry D. Sokolski fest: "After what has unfolded at Zaporizhzhya, civilian nuclear plants must be viewed as prepositioned nuclear weapon"<ref name="armywarcollege" />. Trotzdem setzt die Ukraine weiter auf Atomkraft. Im Juni 2022 schloss der ukrainische AKW-Betreiber Energoatom mit dem US-amerikanischen Atomkonzern Westinghouse ein Abkommen über den Bau von vier Reaktoren<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" />. Darüberhinaus wurden Absichtserklärungen zur Errichtung mehrerer sogenannter SMR (Small Modular Reactor) mit verschiedenen US-amerikanischen Firmen getroffen<ref name="Atommuellreport" />.<br />
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Neben der Gefährdung der ukrainischen Atomanlagen im Krieg besteht außerdem ein steigendes Risiko für einen Einsatz von Atomwaffen durch die Russische Föderation. Schon am 27. Februar, weniger Tage nach dem Angriff auf die Ukraine, gab Putin den Befehl aus, die Abschreckungsstreitkräfte in besondere Alarmbereitschaft zu versetzen, zu denen auch ca. 6.200 Atomsprengköpfe gehören<ref>Breidenbach, Heinrich: Atomwaffen: No first use! PLAGE NEWS 1/22, S. 4</ref>. Die indirekte Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen wurde seitem mehrfach wiederholt. Im Sommer forderten radikale Nationalisten aus der Militärführung Russlands sogar ganz offen den Einsatz taktischer Atomwaffen in der Ukraine, woraufhin USA und NATO Russland Konsequenzen für eine solche Aktion ankündigten. Eine besondere Dramatik ergibt sich aus dem Umstand, dass die angreifende Nation mit Russland einer der Garanten ist, die der Ukraine 1994 im Gegenzug für deren Verzicht auf ihr Atomwaffenarsenal Schutz versprach<ref name="SRzG" />.<ref>Zu den Garantiestaaten für die territoriale Integrität der Ukraine gehörten 1994 auch die USA.</ref> Das Szenario eines Atomkriegs zwischen Russland und USA ist seit dem Invasionsbeginn näher als sonst jemals seit den 1970er Jahren<ref>Hudson, Kate: There is an increasing risk of nuclear war over Ukraine. Campaign for Nuclear Disarmament. E-Mail vom 24.02.2022</ref>. Eine weitere Bedrohung stellt die mögliche Interpretation einer grenzüberschreitenden, militärisch ausgelösten Atomkatastrophe in der Ukraine als NATO-Bündnisfall dar, der von einzelnen Expert*innen denkbar erscheint, wenn z.B. die Bevölkerungen der NATO-Mitglieder Rumänien oder Polen von massiven radioaktiven Freisetzungen betroffen würden. Die Ausrufung des Bündnisfalles könnte im schlimmsten Fall bis zum Eintritt der NATO in den Krieg mit Russland führen<ref name="armywarcollege" />.<br />
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So bleibt zum Abschluss nur festzuhalten, was eine Expert*innengruppe aus Atomindustrie, Forschung und Aufsichtsbehörden in einem wissenschaftlichen Journal zur Sicherheit von Atomkraftwerken in Kriegszeiten resümierten: "As things stand, that the attacking power does not target nuclear facilities is perhaps all we can hope for"<ref name="Polytechnique" />. AKW sind zu gefährlich, als dass sie noch gebaut, betrieben oder ihre Laufzeit verlängert werden sollte - nicht nur für aktive Kriegsparteien, sondern auch im Kontext sogenannter "hybrider Kriegsführung", bei der z.B. Sabotage durch Spezialeinheiten zum Einsatz kommen kann.<br />
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=== Fußnoten ===<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Militarismus]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atomkraft_im_Krieg&diff=218592022-01:Atomkraft im Krieg2022-10-24T17:15:12Z<p>WikiSysop: </p>
<hr />
<div>== Atomkraft im Krieg ==<br />
'''fb''' "Atomkraftwerke sind Bomben, die zeitweise Strom erzeugen", stand auf einem Plakat, das 2002 bei Protesten gegen die Jahrestagung des Deutschen Atomforums in Stuttgart gezeigt wurde. Damit sollte vor allem auf die Unfallgefahr im "Normalbetrieb" hingewiesen werden. Dass jedes Atomkraftwerk (AKW) mit Reaktorkernladung Ziel oder Opfer eines Kollateralschadens in einer militärischen Auseinandersetzung sein kann, wurde seit dem ersten Tag von Putins Krieg gegen die Ukraine verdeutlicht: zunächst durch die Angriffe auf das AKW Tschernobyl in der Super-GAU-Sperrzone, wenige Tage später durch die Kämpfe um das AKW Saporischschja. Beide Anlagen erhielten Einschläge von Geschossen, es war Glück, dass kein kritischer Anlagenteil getroffen wurde. Seitdem schlitterte vor allem Saporischschja, das größte AKW in Europa, mehrfach knapp an einer Katastrophe vorbei. Berichte über Einschläge auf dem Gelände, die Zerstörung des Netzanschlusses und das Einsetzen der Notstromaggregate versetzten die Öffentlichkeit anfangs in Zittern, inzwischen, nachdem sich diese Vorfälle ständig wiederholen, scheint eine Gewöhnung eingesetzt zu haben. Das Risiko hat sich dabei nicht verringert.<br />
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Dabei handelt es sich, weltweit betrachtet, in der Ukraine nicht um die ersten militärischen Schläge gegen Atomkraftwerke. Es gab bereits mindestens 13 solche Angriffe auf Reaktoren in Israel, Iran, Irak und Syrien - ausgeführt von Israel, Iran Irak, Großbritannien bzw. USA. Allerdings war keine dieser Anlagen zum Zeitpunkt der Angriffe in Betrieb. Es existiert kein spezifisches internationales Regelwerk, das den Umgang mit Atomanlagen im Krieg behandelt, aber eine Reihe Vorgaben in unterschiedlichen Vertraegen. Hervorzuheben ist diesbezüglich Teil III des Zusatzprotokolls I der Genfer Konventionen, der deutlich gegen Attacken auf Elektrizitätswerke im Krieg steht. Russland zog sich 2019 von einzelnen Verpflichtungen aus diesem Protokoll zurück, was aber nicht als umfassenden Austritt aus dem Vertragswerk betrachtet wird<ref name="Wikipedia">Protocol I. Wikipedia. https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Protocol_I&oldid=1117909633 - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Die USA, Indien, Iran, Israel, Pakistan und Türkei ratifizierten es nie<ref>Anzumerken ist außerdem, dass das Pentagon seinen Militärkommandant*innen im 2016er "Law of War Manual" die Entscheidung überlässt, ob sie AKW angreifen, wenn diese das "wichtig" finden (vgl. Sokolski (2022)).</ref>.<ref name="armywarcollege">Sokolski, Henry D.: Present Danger: Nuclear Power Plants in War. The US Army War College Quarterly: Parameters 52(4), 19.10.2022. https://press.armywarcollege.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=3178&context=parameters - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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In der Ukraine befinden sich 15 Reaktoren in Betrieb, vier weitere sind stillgelegt<ref name="Tabelle">Übersichtstabelle "Nuclear Power Stations Ukraine" von Jan Haverkamp, 24.02.2022</ref>. Reaktor 4 von Tschernobyl war 1986 explodiert und ist bis heute stark radioaktiv kontaminiert<ref name="ShortBriefing">Jan Haverkamp: Short Briefing: Russian war on Ukraine – nuclear energy risks. 24.02.2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Ukraine">Stender, Anna: Atomkraft in der Ukraine. .ausgestrahlt, 02.03.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/02/atomkraft-der-ukraine/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Diese produzieren etwa die Hälfte des Stroms des Landes<ref name="BeyondNuclear">Gunter, Linda Pentz: Nuclear warfare without bombs. Ukraine’s reactors could be in the line of fire. Beyond Nuclear International, 30.01.2022. https://beyondnuclearinternational.org/2022/01/30/nuclear-warfare-without-bombs/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. In der Tschernobyl-Sperrzone befinden sich mehrere Zwischenlager für alle Arten Atommüll, zwei oberflächennahe Endlager und Konditionierungseinrichtungen. Eines dieser Zwischenlager enthält in einem Lagerbecken etwa 20.000 abgebrannte Brennelemente aus den drei 1986 nicht beschädigten, inzwischen stillgelegten Tschernobyl-Reaktoren<ref name="ShortBriefing" />. Ein Zwischenlager unter freiem Himmel mit mehr als 3.000 abgebrannten Brennelementen liegt zusätzlich auf dem Gelände des AKW Saporischschja. Darüberhinaus existieren Zwischenlager für andere radioaktive Abfälle an verschiedenen weiteren Orten in der Ukraine, u.a. in Charkiw und Kiew. Außerdem befinden sich in der Ukraine radioaktive Tailings Ponds (Absetzbecken) mit kontaminierten Abfällen aus der Uranförderung und -aufbereitung. Darüberhinaus befinden sich Forschungsreaktoren in Kiew und Charkiw, sowie an letzterem Ort außerdem eine Neutronenquelle und eine Isotopenproduktionsanlage. Auf der seit 2014 durch Russland besetzten Krim existiert ein weiterer Forschungsreaktor, und die kritisch Anordnung "Sph IR-100". Auch befinden sich viele Strahlenquellen in Zwischenlagern, Kohlekraftwerken und Kohlebergwerken in der seit 2014 besetzten Ostukraine.<ref name="Atommuellreport" /><br />
<br />
Dabei befinden sich die AKW in der Ukraine in einem schlechten Zustand: Jahrelang wurden nur die dringendsten Reparaturen vorgenommen, notwendige Sicherheitsnachrüstungen erfolgten kaum, trotzdem erlaubte die Atomaufsichtsbehörde immer weitere Laufzeitverlängerungen und Leistungserhöhungen der alternden Reaktoren. In den vergangenen zehn Jahren ereigneten sich mehrere schwerwiegende Unfälle und Sicherheitsprobleme, die teils zunächst vertuscht wurden. Die Reaktoren charakterisieren sich als höchst störanfällig. Problematisch ist außerdem der vor allem politisch motivierte Einsatz US-amerikanischer Brennelemente in ukrainischen Reaktoren, von denen keiner dafür ausgelegt ist. Dadurch können sich zusätzliche Sicherheitsprobleme ergeben. Grundsätzlich ist die Atomindustrie der Ukraine von der Versorgung mit russischen Brennelementen abhängig.<ref name="Atommuellreport">Schönberger, Ursula: "Länderbericht Ukraine". atommüllreport, 25.05.2022. https://www.atommuellreport.de/themen/detail/atommuellreport-laenderbericht-ukraine.html - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
<br />
Kein Reaktor ist gegen militärische Attacken geschützt. Eine Atomkatastrophe mit massiver Freisetzung ist durch derartige Angriffe bei allen aktiven kommerziellen Atomkraftwerken möglich.<ref name="ShortBriefing" /> Dabei können Atomanlagen Ziele von direkten Attacken, Opfer von Kollateralschäden beispielsweise durch Geschosse, dir ihr eigentliches Ziel verfehlen oder auch Terrorziele werden<ref name="BeyondNuclear" />. Konkret kann es sich dabei insbesondere um den Einschlag von Explosivgeschossen in sicherheitskritische Anlagenteile, Kernschmelze infolge der Trennung von Kühl- und Sicherheitssystemen von der Energieversorgung handeln. So kann das Reaktor-Containment aufgeschlagen werden, abgebrannte Brennelemente durch Bombardierung beschädigt oder die Kühlwasserversorgung unterbrochen werden.<ref name="Polytechnique">Herviou, Karine; Meshkati, Najmedin; Ustohalova, Veronika; Gupta, Olivier: What are the risks of nuclear power plants in wartime? Polytechnique insights, 12.07.2022. https://www.polytechnique-insights.com/en/columns/geopolitics/how-to-protect-nuclear-power-plants-in-wartime/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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Schon vor der russischen Invasion kam es zu terroristischen bzw. sabotagebedingten Vorfällen, die sich auf Sicherheitssysteme der ukrainischen AKW auswirkten. 2015 führte beispielsweise die Sprengung von Hochspannungsmasten in der Krim-Region durch Separatist*innen zur Notabschaltung eines Reaktors wegen Netzinstabilität.<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" /> Auch bedrohte 2015 in der Ostukraine die Explosion von Munition in der Nähe eines Lagers für Strahlungsquellen deren Sicherheit. Aufgrund der absehbaren Bedrohungslage fand 2017 mit Unterstützung der USA eine Übung zum Schutz der kritischen Infrastruktur des AKW Saporischschja statt, nachdem schon 2014 die Ukraine sich mit der Bitte um Hilfe bei der Sicherung von Atomanlagen an NATO, EU und die USA gewandt hatte. Auch gab es Berichte von aus Kohlekraftwerken verschwundenen Strahlenquellen, die von Separatist*innen verkauft worden sein sollen.<ref name="Atommuellreport" /><br />
<br />
Gleich am ersten Tag der Invasion in der Ukraine besetzten russische Truppen das Gelände des 1986 havarierten AKW Tschernobyl<ref name="ZDF">Stillgelegtes Kernkraftwerk. Kiew: Russland hat Tschernobyl eingenommen. ZDF, 24.02.2022. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/tschernobyl-kernkraftwerk-krieg-russland-ukraine-100.html - gesichtet 24.10.2022</ref>. In den folgenden Tagen wurden Radioaktivitäts-Spikes von den Messsystemen zur Überwachung der Umweltradioaktivität in der Sperrzone festgestellt, die teils erheblich über den dort "normalen" Werten lagen. Den russischen Anti-Atom-Experten Andrey Ozharovsky zufolge wurden diese vermutlich durch schwere Militärfahrzeuge, deren Manöver den verseuchten Boden aufgewirbelt hatten, verursacht<ref name="Ozharovsky">Ozharovsky, Andrey: Рост мощности дозы гамма излучения на площадке Чернобыльской АЭС. Facebook, 25.02.2022. https://www.facebook.com/andrey.ozharovsky/posts/4802038569873501 - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Am 9. März wurden die Atomanlagen in Tschernobyl von der externen Stromversorgung abgeschnitten und liefen mit Notstrom. Erst am 14. März konnte die Stromversorgung wiederhergestellt werden. Bei Plünderungen wurden im März außerdem technische Ausrüstung und wichtige Instrumente eines Labors zur Untersuchung der radiologischen Situation in der Tschernobyl-Sperrzone sowie das Frühwarnsystem für Störfälle und weitere Strahlenmesseinrichtungen zerstört.<ref name="Atommuellreport" /> Durch den Ausfall der Überwachungssysteme und die Plünderungen wirdfahr einer unkontrollierten Verbreitung von atomwaffenfähigem Material aus den Atomanlagen, da di gesehene Verfolgung und weitere Verwendung solcher Materialien z.B. durch die IAEA kaum noch möglich ist<ref name="SRzG">Russlands Einmarsch in die Ukraine bedroht die Freiheit nachrückender Generationen weltweit. Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, 25.02.2022. https://generationengerechtigkeit.info/russlands-einmarsch-in-die-ukraine/ - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Tschernobyl gab es eine Reihe von Berichten über russische Soldaten mit Strahlenschäden. Diese könnten sie sich beim Ausheben von Schützengräben in verseuchtem Boden und Aufenthalt in der kontaminierten Sperrzone zugezogen haben<ref name="Atommuellreport" />. Erst am 21. März konnte nach ca. vier Wochen ein erster Schichtwechsel in Tschernobyl erfolgen. Die Besatzer*innen hatten die Rotation des Personals nicht erlaubt<ref name="Atommuellreport" />. Fehlende Schichtwechsel in Atomanlagen im Krieg bedeuten ein erhöhtes Risiko menschlichen Versagens<ref name="Polytechnique" />.<br />
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Aber auch andere Atomanlagen wurden bereits Opfer russischen Beschusses: Das Atomforschungsinstitut in Kiew wurde im März mehrfach Ziel russischer Angriffe: Am 6., 8. und 10./11. März schlugen Geschosse ein und verursachten erhebliche Schäden am Gebäude. Auch das Forschungszentrum in Charkiw wurde im März infolge von Bombardierung beschädigt und von der Stromversorgung abgeschnitten. Ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle wurde am 26. Februar in Charkiw getroffen und in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar war ein weiteres Lager in Kiew das Ziel von Granatenbeschuss.<ref name="Atommuellreport" /><br />
<br />
Besonders dramatisch ist die Lage am AKW Saporischschja. Anfang März erfolgte erstmals in der Geschichte ein Waffeneinsatz an einem in Betrieb befindlichen kommerziellen Reaktor<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass">Stender, Anna: Atomares Pulverfass. .ausgestrahlt, 24.08.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/08/24/atomares-pulverfass/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Der bewaffnete Konflikt in einem Land mit massiv ausgebauter Atomindustrie stellt einen Präzendenzfall dar<ref name="Polytechnique" />. Ein Schulungsgebäude auf dem AKW-Gelände brannte ab. Im Anschluss bestand längere Zeit kein Zugang und nur eine beschränkte Fernüberwachung für IAEA-Kontrolleur*innen.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /> Ca. 500 rissische Soldaten sollen die Atomanlage seit März als Stützpunkt nutzen sowie Waffen und Munition, u.a. Granatwerfer sowie Panzer- und Flugabwehrraketen, in den Gebäuden lagern<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><ref name="Polytechnique" />. Sofort nach der Besetzung brachte das russische Militär Panzer auf dem Gelände unter<ref name="Polytechnique" />. Der Standort wurde auch als Abschussbasis für Raketen und Artillerie genutzt<ref name="armywarcollege" />. Eine Explosion von Munition in der Nähe des AKW ereignete sich am 14. März<ref name="Atommuellreport" />. Seit August sollen Gebäude und Gelände mehrfach von Raketen getroffen worden sein<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" />. Fotos aus dem Sommer zeigten, dass u.a ein Transformator beschädigt wurde - ein kritisches System, das die kontinuierliche Versorgung von Kühl- und Sicherheitssystemen mit Strom sicherstellen soll<ref name="armywarcollege" />.<br />
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Nach und nach wurden wegen der Gefahrenlage immer mehr Reaktoren heruntergefahren. Inzwischen (Stand: Oktober) sind alle Reaktoren abgeschaltet. Trotzdem bleibt die Gefahr einer Kernschmelze infolge eines Unfalls akut, da das Reaktorinventar und das Lager für abgebrannte Brennelemente selbst nach dem Herunterfahren viele Jahre noch einer intensiven Kühlung bedürfen. Hierfür ist das AKW auf eine externe Stromversorgung und funktionierende Kühl- sowie Sicherheitssysteme angewiesen. Wenn die Stromversorgung über das Netz ausfällt, kommen Dieselgeneratoren zum Einsatz, die allerdings eine auf einige Tage begrenzte Reichweite haben und danach von Treibstoff-Nachlieferungen abhängig sind.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
<br />
Das ukrainische AKW-Personal steht seit der Eroberung der Atomanlage unter russischer Aufsicht. Viele Menschen sind geflohen. Teile der Führungskräfte und Arbeiter*innenschaft wurden gekidnappt, gefoltert bzw. getötet<ref name="armywarcollege" />. Die verbleibenden Mitarbeiter*innen arbeiten unter Gewaltandrohungen durch die russischen Besatzer*innen. Sie stehen so unter extremen psychischen Belastungen, was auch die Fehleranfälligkeit beim Umgang mit dieser Hochrisikotechnologie erhöht. Berichtet wurde bereits von Kommunikationsproblemen der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde mit dem Personal am AKW Saporischschja aufgrund der Abschaltung des Mobilfunkes und Blockierung des Internets durch die russischen Kräfte<ref name="Polytechnique" />. Darüberhinaus könnten die Besatzer*innen selbst die Sicherheit der Anlage gefährden, weil sie weniger spezifisches Know-How als die ukrainischen Mitarbeiter*innen haben. So könnten sie falsche Maßnahmen erzwingen, und reguläre Sicherheitsüberprüfungen einschränken oder verhindern. Auch besteht die Gefahr, dass kritische Geräte und Bauteile im Krieg nicht beschafft oder antransportiert werden können. Auch das Krisenmanagement im Falle eines Unfalls ist voraussichtlich erschwert, weil Evakuierungen unter den Bedingungen von Besatzung und Krieg behindert würden und nötige Infrastruktur durch die Lage in Frontnähe womöglich nur eingeschränkt nutzbar wäre.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
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Die Behörden der Ukraine, Polens, Rumäniens, Moldaus und Finnlands haben als Konsequenz aus der Sicherheitssituation am AKW Saporischschja für den Fall einer Atomkatastrophe Jodtabletten an die Bevölkerung verteilt<ref name="armywarcollege" />. Bei korrekter Dosierung und gutem Timing kann so zumindest das Schilddrüsenkrebsrisiko infolge eines Super-GAUs gesenkt werden.<br />
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In einem im US Army War College-Journal veröffentlichten Papier mit Anregungen an das Pentagon stellt der Akademiker Henry D. Sokolski fest: "After what has unfolded at Zaporizhzhya, civilian nuclear plants must be viewed as prepositioned nuclear weapon"<ref name="armywarcollege" />. Trotzdem setzt die Ukraine weiter auf Atomkraft. Im Juni 2022 schloss der ukrainische AKW-Betreiber Energoatom mit dem US-amerikanischen Atomkonzern Westinghouse ein Abkommen über den Bau von vier Reaktoren<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" />. Darüberhinaus wurden Absichtserklärungen zur Errichtung mehrerer sogenannter SMR (Small Modular Reactor) mit verschiedenen US-amerikanischen Firmen getroffen<ref name="Atommuellreport" />.<br />
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Neben der Gefährdung der ukrainischen Atomanlagen im Krieg besteht außerdem ein steigendes Risiko für einen Einsatz von Atomwaffen durch die Russische Föderation. Schon am 27. Februar, weniger Tage nach dem Angriff auf die Ukraine, gab Putin den Befehl aus, die Abschreckungsstreitkräfte in besondere Alarmbereitschaft zu versetzen, zu denen auch ca. 6.200 Atomsprengköpfe gehören<ref>Breidenbach, Heinrich: Atomwaffen: No first use! PLAGE NEWS 1/22, S. 4</ref>. Die indirekte Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen wurde seitem mehrfach wiederholt. Im Sommer forderten radikale Nationalisten aus der Militärführung Russlands sogar ganz offen den Einsatz taktischer Atomwaffen in der Ukraine, woraufhin USA und NATO Russland Konsequenzen für eine solche Aktion ankündigten. Eine besondere Dramatik ergibt sich aus dem Umstand, dass die angreifende Nation mit Russland einer der Garanten ist, die der Ukraine 1994 im Gegenzug für deren Verzicht auf ihr Atomwaffenarsenal Schutz versprach<ref name="SRzG" />.<ref>Zu den Garantiestaaten für die territoriale Integrität der Ukraine gehörten 1994 auch die USA.</ref> Das Szenario eines Atomkriegs zwischen Russland und USA ist seit dem Invasionsbeginn näher als sonst jemals seit den 1970er Jahren<ref>Hudson, Kate: There is an increasing risk of nuclear war over Ukraine. Campaign for Nuclear Disarmament. E-Mail vom 24.02.2022</ref>. Eine weitere Bedrohung stellt die mögliche Interpretation einer grenzüberschreitenden, militärisch ausgelösten Atomkatastrophe in der Ukraine als NATO-Bündnisfall dar, der von einzelnen Expert*innen denkbar erscheint, wenn z.B. die Bevölkerungen der NATO-Mitglieder Rumänien oder Polen von massiven radioaktiven Freisetzungen betroffen würden. Die Ausrufung des Bündnisfalles könnte im schlimmsten Fall bis zum Eintritt der NATO in den Krieg mit Russland führen<ref name="armywarcollege" />.<br />
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So bleibt zum Abschluss nur festzuhalten, was eine Expert*innengruppe aus Atomindustrie, Forschung und Aufsichtsbehörden in einem wissenschaftlichen Journal zur Sicherheit von Atomkraftwerken in Kriegszeiten resümierten: "As things stand, that the attacking power does not target nuclear facilities is perhaps all we can hope for"<ref name="Polytechnique" />. AKW sind zu gefährlich, als dass sie noch gebaut, betrieben oder ihre Laufzeit verlängert werden sollte - nicht nur für aktive Kriegsparteien, sondern auch im Kontext sogenannter "hybrider Kriegsführung", bei der z.B. Sabotage durch Spezialeinheiten zum Einsatz kommen kann.<br />
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=== Fußnoten ===<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Militarismus]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atomkraft_im_Krieg&diff=218582022-01:Atomkraft im Krieg2022-10-24T17:10:23Z<p>WikiSysop: Fußnoten eingebunden</p>
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<div>== Atomkraft im Krieg ==<br />
'''fb''' "Atomkraftwerke sind Bomben, die zeitweise Strom erzeugen", stand auf einem Plakat, das 2002 bei Protesten gegen die Jahrestagung des Deutschen Atomforums in Stuttgart gezeigt wurde. Damit sollte vor allem auf die Unfallgefahr im "Normalbetrieb" hingewiesen werden. Dass jedes Atomkraftwerk (AKW) mit Reaktorkernladung Ziel oder Opfer eines Kollateralschadens in einer militärischen Auseinandersetzung sein kann, wurde seit dem ersten Tag von Putins Krieg gegen die Ukraine verdeutlicht: zunächst durch die Angriffe auf das AKW Tschernobyl in der Super-GAU-Sperrzone, wenige Tage später durch die Kämpfe um das AKW Saporischschja. Beide Anlagen erhielten Einschläge von Geschossen, es war Glück, dass kein kritischer Anlagenteil getroffen wurde. Seitdem schlitterte vor allem Saporischschja, das größte AKW in Europa, mehrfach knapp an einer Katastrophe vorbei. Berichte über Einschläge auf dem Gelände, die Zerstörung des Netzanschlusses und das Einsetzen der Notstromaggregate versetzten die Öffentlichkeit anfangs in Zittern, inzwischen, nachdem sich diese Vorfälle ständig wiederholen, scheint eine Gewöhnung eingesetzt zu haben. Das Risiko hat sich dabei nicht verringert.<br />
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Dabei handelt es sich, weltweit betrachtet, in der Ukraine nicht um die ersten militärischen Schläge gegen Atomkraftwerke. Es gab bereits mindestens 13 solche Angriffe auf Reaktoren in Israel, Iran, Irak und Syrien - ausgeführt von Israel, Iran Irak, Großbritannien bzw. USA. Allerdings war keine dieser Anlagen zum Zeitpunkt der Angriffe in Betrieb. Es existiert kein spezifisches internationales Regelwerk, das den Umgang mit Atomanlagen im Krieg behandelt, aber eine Reihe Vorgaben in unterschiedlichen Vertraegen. Hervorzuheben ist diesbezüglich Teil III des Zusatzprotokolls I der Genfer Konventionen, der deutlich gegen Attacken auf Elektrizitätswerke im Krieg steht. Russland zog sich 2019 von einzelnen Verpflichtungen aus diesem Protokoll zurück, was aber nicht als umfassenden Austritt aus dem Vertragswerk betrachtet wird<ref name="Wikipedia">Protocol I. Wikipedia. https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Protocol_I&oldid=1117909633 - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Die USA, Indien, Iran, Israel, Pakistan und Türkei ratifizierten es nie<ref>Anzumerken ist außerdem, dass das Pentagon seinen Militärkommandant*innen im 2016er "Law of War Manual" die Entscheidung überlässt, ob sie AKW angreifen, wenn diese das "wichtig" finden (vgl. Sokolski (2022)).</ref>.<ref name="armywarcollege">Sokolski, Henry D.: Present Danger: Nuclear Power Plants in War. The US Army War College Quarterly: Parameters 52(4), 19.10.2022. https://press.armywarcollege.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=3178&context=parameters - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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In der Ukraine befinden sich 15 Reaktoren in Betrieb, vier weitere sind stillgelegt<ref name="Tabelle">Übersichtstabelle "Nuclear Power Stations Ukraine" von Jan Haverkamp, 24.02.2022</ref>. Reaktor 4 von Tschernobyl war 1986 explodiert und ist bis heute stark radioaktiv kontaminiert<ref name="ShortBriefing">Jan Haverkamp: Short Briefing: Russian war on Ukraine – nuclear energy risks. 24.02.2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Ukraine">Stender, Anna: Atomkraft in der Ukraine. .ausgestrahlt, 02.03.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/02/atomkraft-der-ukraine/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Diese produzieren etwa die Hälfte des Stroms des Landes<ref name="BeyondNuclear">Gunter, Linda Pentz: Nuclear warfare without bombs. Ukraine’s reactors could be in the line of fire. Beyond Nuclear International, 30.01.2022. https://beyondnuclearinternational.org/2022/01/30/nuclear-warfare-without-bombs/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. In der Tschernobyl-Sperrzone befinden sich mehrere Zwischenlager für alle Arten Atommüll, zwei oberflächennahe Endlager und Konditionierungseinrichtungen. Eines dieser Zwischenlager enthält in einem Lagerbecken etwa 20.000 abgebrannte Brennelemente aus den drei 1986 nicht beschädigten, inzwischen stillgelegten Tschernobyl-Reaktoren<ref name="ShortBriefing" />. Ein Zwischenlager unter freiem Himmel mit mehr als 3.000 abgebrannten Brennelementen liegt zusätzlich auf dem Gelände des AKW Saporischschja. Darüberhinaus existieren Zwischenlager für andere radioaktive Abfälle an verschiedenen weiteren Orten in der Ukraine, u.a. in Charkiw und Kiew. Außerdem befinden sich in der Ukraine radioaktive Tailings Ponds (Absetzbecken) mit kontaminierten Abfällen aus der Uranförderung und -aufbereitung. Darüberhinaus befinden sich Forschungsreaktoren in Kiew und Charkiw, sowie an letzterem Ort außerdem eine Neutronenquelle und eine Isotopenproduktionsanlage. Auf der seit 2014 durch Russland besetzten Krim existiert ein weiterer Forschungsreaktor, und die kritisch Anordnung "Sph IR-100". Auch befinden sich viele Strahlenquellen in Zwischenlagern, Kohlekraftwerken und Kohlebergwerken in der seit 2014 besetzten Ostukraine.<br />
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Dabei befinden sich die AKW in der Ukraine in einem schlechten Zustand: Jahrelang wurden nur die dringendsten Reparaturen vorgenommen, notwendige Sicherheitsnachrüstungen erfolgten kaum, trotzdem erlaubte die Atomaufsichtsbehörde immer weitere Laufzeitverlängerungen und Leistungserhöhungen der alternden Reaktoren. In den vergangenen zehn Jahren ereigneten sich mehrere schwerwiegende Unfälle und Sicherheitsprobleme, die teils zunächst vertuscht wurden. Die Reaktoren charakterisieren sich als höchst störanfällig. Problematisch ist außerdem der vor allem politisch motivierte Einsatz US-amerikanischer Brennelemente in ukrainischen Reaktoren, von denen keiner dafür ausgelegt ist. Dadurch können sich zusätzliche Sicherheitsprobleme ergeben. Grundsätzlich ist die Atomindustrie der Ukraine von der Versorgung mit russischen Brennelementen abhängig.<ref name="Atommuellreport">Schönberger, Ursula: "Länderbericht Ukraine". atommüllreport, 25.05.2022. https://www.atommuellreport.de/themen/detail/atommuellreport-laenderbericht-ukraine.html - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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Kein Reaktor ist gegen militärische Attacken geschützt. Eine Atomkatastrophe mit massiver Freisetzung ist durch derartige Angriffe bei allen aktiven kommerziellen Atomkraftwerken möglich.<ref name="ShortBriefing" /> Dabei können Atomanlagen Ziele von direkten Attacken, Opfer von Kollateralschäden beispielsweise durch Geschosse, dir ihr eigentliches Ziel verfehlen oder auch Terrorziele werden<ref name="BeyondNuclear" />. Konkret kann es sich dabei insbesondere um den Einschlag von Explosivgeschossen in sicherheitskritische Anlagenteile, Kernschmelze infolge der Trennung von Kühl- und Sicherheitssystemen von der Energieversorgung handeln. So kann das Reaktor-Containment aufgeschlagen werden, abgebrannte Brennelemente durch Bombardierung beschädigt oder die Kühlwasserversorgung unterbrochen werden.<ref name="Polytechnique">Herviou, Karine; Meshkati, Najmedin; Ustohalova, Veronika; Gupta, Olivier: What are the risks of nuclear power plants in wartime? Polytechnique insights, 12.07.2022. https://www.polytechnique-insights.com/en/columns/geopolitics/how-to-protect-nuclear-power-plants-in-wartime/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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Schon vor der russischen Invasion kam es zu terroristischen bzw. sabotagebedingten Vorfällen, die sich auf Sicherheitssysteme der ukrainischen AKW auswirkten. 2015 führte beispielsweise die Sprengung von Hochspannungsmasten in der Krim-Region durch Separatist*innen zur Notabschaltung eines Reaktors wegen Netzinstabilität.<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" /> Auch bedrohte 2015 in der Ostukraine die Explosion von Munition in der Nähe eines Lagers für Strahlungsquellen deren Sicherheit. Aufgrund der absehbaren Bedrohungslage fand 2017 mit Unterstützung der USA eine Übung zum Schutz der kritischen Infrastruktur des AKW Saporischschja statt, nachdem schon 2014 die Ukraine sich mit der Bitte um Hilfe bei der Sicherung von Atomanlagen an NATO, EU und die USA gewandt hatte. Auch gab es Berichte von aus Kohlekraftwerken verschwundenen Strahlenquellen, die von Separatist*innen verkauft worden sein sollen.<ref name="Atommuellreport" /><br />
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Gleich am ersten Tag der Invasion in der Ukraine besetzten russische Truppen das Gelände des 1986 havarierten AKW Tschernobyl<ref name="ZDF">Stillgelegtes Kernkraftwerk. Kiew: Russland hat Tschernobyl eingenommen. ZDF, 24.02.2022. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/tschernobyl-kernkraftwerk-krieg-russland-ukraine-100.html - gesichtet 24.10.2022</ref>. In den folgenden Tagen wurden Radioaktivitäts-Spikes von den Messsystemen zur Überwachung der Umweltradioaktivität in der Sperrzone festgestellt, die teils erheblich über den dort "normalen" Werten lagen. Den russischen Anti-Atom-Experten Andrey Ozharovsky zufolge wurden diese vermutlich durch schwere Militärfahrzeuge, deren Manöver den verseuchten Boden aufgewirbelt hatten, verursacht<ref name="Ozharovsky">Ozharovsky, Andrey: Рост мощности дозы гамма излучения на площадке Чернобыльской АЭС. Facebook, 25.02.2022. https://www.facebook.com/andrey.ozharovsky/posts/4802038569873501 - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Am 9. März wurden die Atomanlagen in Tschernobyl von der externen Stromversorgung abgeschnitten und liefen mit Notstrom. Erst am 14. März konnte die Stromversorgung wiederhergestellt werden. Bei Plünderungen wurden im März außerdem technische Ausrüstung und wichtige Instrumente eines Labors zur Untersuchung der radiologischen Situation in der Tschernobyl-Sperrzone sowie das Frühwarnsystem für Störfälle und weitere Strahlenmesseinrichtungen zerstört.<ref name="Atommuellreport" /> Durch den Ausfall der Überwachungssysteme und die Plünderungen wirdfahr einer unkontrollierten Verbreitung von atomwaffenfähigem Material aus den Atomanlagen, da di gesehene Verfolgung und weitere Verwendung solcher Materialien z.B. durch die IAEA kaum noch möglich ist<ref name="SRzG">Russlands Einmarsch in die Ukraine bedroht die Freiheit nachrückender Generationen weltweit. Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, 25.02.2022. https://generationengerechtigkeit.info/russlands-einmarsch-in-die-ukraine/ - gesichtet 24. Oktober 2022</ref>. Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Tschernobyl gab es eine Reihe von Berichten über russische Soldaten mit Strahlenschäden. Diese könnten sie sich beim Ausheben von Schützengräben in verseuchtem Boden und Aufenthalt in der kontaminierten Sperrzone zugezogen haben<ref name="Atommuellreport" />. Erst am 21. März konnte nach ca. vier Wochen ein erster Schichtwechsel in Tschernobyl erfolgen. Die Besatzer*innen hatten die Rotation des Personals nicht erlaubt<ref name="Atommuellreport" />. Fehlende Schichtwechsel in Atomanlagen im Krieg bedeuten ein erhöhtes Risiko menschlichen Versagens<ref name="Polytechnique" />.<br />
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Aber auch andere Atomanlagen wurden bereits Opfer russischen Beschusses: Das Atomforschungsinstitut in Kiew wurde im März mehrfach Ziel russischer Angriffe: Am 6., 8. und 10./11. März schlugen Geschosse ein und verursachten erhebliche Schäden am Gebäude. Auch das Forschungszentrum in Charkiw wurde im März infolge von Bombardierung beschädigt und von der Stromversorgung abgeschnitten. Ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle wurde am 26. Februar in Charkiw getroffen und in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar war ein weiteres Lager in Kiew das Ziel von Granatenbeschuss.<ref name="Atommuellreport" /><br />
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Besonders dramatisch ist die Lage am AKW Saporischschja. Anfang März erfolgte erstmals in der Geschichte ein Waffeneinsatz an einem in Betrieb befindlichen kommerziellen Reaktor<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass">Stender, Anna: Atomares Pulverfass. .ausgestrahlt, 24.08.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/08/24/atomares-pulverfass/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>. Der bewaffnete Konflikt in einem Land mit massiv ausgebauter Atomindustrie stellt einen Präzendenzfall dar<ref name="Polytechnique" />. Ein Schulungsgebäude auf dem AKW-Gelände brannte ab. Im Anschluss bestand längere Zeit kein Zugang und nur eine beschränkte Fernüberwachung für IAEA-Kontrolleur*innen.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /> Ca. 500 rissische Soldaten sollen die Atomanlage seit März als Stützpunkt nutzen sowie Waffen und Munition, u.a. Granatwerfer sowie Panzer- und Flugabwehrraketen, in den Gebäuden lagern<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><ref name="Polytechnique" />. Sofort nach der Besetzung brachte das russische Militär Panzer auf dem Gelände unter<ref name="Polytechnique" />. Der Standort wurde auch als Abschussbasis für Raketen und Artillerie genutzt<ref name="armywarcollege" />. Eine Explosion von Munition in der Nähe des AKW ereignete sich am 14. März<ref name="Atommuellreport" />. Seit August sollen Gebäude und Gelände mehrfach von Raketen getroffen worden sein<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" />. Fotos aus dem Sommer zeigten, dass u.a ein Transformator beschädigt wurde - ein kritisches System, das die kontinuierliche Versorgung von Kühl- und Sicherheitssystemen mit Strom sicherstellen soll<ref name="armywarcollege" />.<br />
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Nach und nach wurden wegen der Gefahrenlage immer mehr Reaktoren heruntergefahren. Inzwischen (Stand: Oktober) sind alle Reaktoren abgeschaltet. Trotzdem bleibt die Gefahr einer Kernschmelze infolge eines Unfalls akut, da das Reaktorinventar und das Lager für abgebrannte Brennelemente selbst nach dem Herunterfahren viele Jahre noch einer intensiven Kühlung bedürfen. Hierfür ist das AKW auf eine externe Stromversorgung und funktionierende Kühl- sowie Sicherheitssysteme angewiesen. Wenn die Stromversorgung über das Netz ausfällt, kommen Dieselgeneratoren zum Einsatz, die allerdings eine auf einige Tage begrenzte Reichweite haben und danach von Treibstoff-Nachlieferungen abhängig sind.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
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Das ukrainische AKW-Personal steht seit der Eroberung der Atomanlage unter russischer Aufsicht. Viele Menschen sind geflohen. Teile der Führungskräfte und Arbeiter*innenschaft wurden gekidnappt, gefoltert bzw. getötet<ref name="armywarcollege" />. Die verbleibenden Mitarbeiter*innen arbeiten unter Gewaltandrohungen durch die russischen Besatzer*innen. Sie stehen so unter extremen psychischen Belastungen, was auch die Fehleranfälligkeit beim Umgang mit dieser Hochrisikotechnologie erhöht. Berichtet wurde bereits von Kommunikationsproblemen der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde mit dem Personal am AKW Saporischschja aufgrund der Abschaltung des Mobilfunkes und Blockierung des Internets durch die russischen Kräfte<ref name="Polytechnique" />. Darüberhinaus könnten die Besatzer*innen selbst die Sicherheit der Anlage gefährden, weil sie weniger spezifisches Know-How als die ukrainischen Mitarbeiter*innen haben. So könnten sie falsche Maßnahmen erzwingen, und reguläre Sicherheitsüberprüfungen einschränken oder verhindern. Auch besteht die Gefahr, dass kritische Geräte und Bauteile im Krieg nicht beschafft oder antransportiert werden können. Auch das Krisenmanagement im Falle eines Unfalls ist voraussichtlich erschwert, weil Evakuierungen unter den Bedingungen von Besatzung und Krieg behindert würden und nötige Infrastruktur durch die Lage in Frontnähe womöglich nur eingeschränkt nutzbar wäre.<ref name="ausgestrahlt_Pulverfass" /><br />
<br />
Die Behörden der Ukraine, Polens, Rumäniens, Moldaus und Finnlands haben als Konsequenz aus der Sicherheitssituation am AKW Saporischschja für den Fall einer Atomkatastrophe Jodtabletten an die Bevölkerung verteilt<ref name="armywarcollege" />. Bei korrekter Dosierung und gutem Timing kann so zumindest das Schilddrüsenkrebsrisiko infolge eines Super-GAUs gesenkt werden.<br />
<br />
In einem im US Army War College-Journal veröffentlichten Papier mit Anregungen an das Pentagon stellt der Akademiker Henry D. Sokolski fest: "After what has unfolded at Zaporizhzhya, civilian nuclear plants must be viewed as prepositioned nuclear weapon"<ref name="armywarcollege" />. Trotzdem setzt die Ukraine weiter auf Atomkraft. Im Juni 2022 schloss der ukrainische AKW-Betreiber Energoatom mit dem US-amerikanischen Atomkonzern Westinghouse ein Abkommen über den Bau von vier Reaktoren<ref name="ausgestrahlt_Ukraine" />. Darüberhinaus wurden Absichtserklärungen zur Errichtung mehrerer sogenannter SMR (Small Modular Reactor) mit verschiedenen US-amerikanischen Firmen getroffen<ref name="Atommuellreport" />.<br />
<br />
Neben der Gefährdung der ukrainischen Atomanlagen im Krieg besteht außerdem ein steigendes Risiko für einen Einsatz von Atomwaffen durch die Russische Föderation. Schon am 27. Februar, weniger Tage nach dem Angriff auf die Ukraine, gab Putin den Befehl aus, die Abschreckungsstreitkräfte in besondere Alarmbereitschaft zu versetzen, zu denen auch ca. 6.200 Atomsprengköpfe gehören<ref>Breidenbach, Heinrich: Atomwaffen: No first use! PLAGE NEWS 1/22, S. 4</ref>. Die indirekte Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen wurde seitem mehrfach wiederholt. Im Sommer forderten radikale Nationalisten aus der Militärführung Russlands sogar ganz offen den Einsatz taktischer Atomwaffen in der Ukraine, woraufhin USA und NATO Russland Konsequenzen für eine solche Aktion ankündigten. Eine besondere Dramatik ergibt sich aus dem Umstand, dass die angreifende Nation mit Russland einer der Garanten ist, die der Ukraine 1994 im Gegenzug für deren Verzicht auf ihr Atomwaffenarsenal Schutz versprach<ref name="SRzG" />.<ref>Zu den Garantiestaaten für die territoriale Integrität der Ukraine gehörten 1994 auch die USA.</ref> Das Szenario eines Atomkriegs zwischen Russland und USA ist seit dem Invasionsbeginn näher als sonst jemals seit den 1970er Jahren<ref>Hudson, Kate: There is an increasing risk of nuclear war over Ukraine. Campaign for Nuclear Disarmament. E-Mail vom 24.02.2022</ref>. Eine weitere Bedrohung stellt die mögliche Interpretation einer grenzüberschreitenden, militärisch ausgelösten Atomkatastrophe in der Ukraine als NATO-Bündnisfall dar, der von einzelnen Expert*innen denkbar erscheint, wenn z.B. die Bevölkerungen der NATO-Mitglieder Rumänien oder Polen von massiven radioaktiven Freisetzungen betroffen würden. Die Ausrufung des Bündnisfalles könnte im schlimmsten Fall bis zum Eintritt der NATO in den Krieg mit Russland führen<ref name="armywarcollege" />.<br />
<br />
So bleibt zum Abschluss nur festzuhalten, was eine Expert*innengruppe aus Atomindustrie, Forschung und Aufsichtsbehörden in einem wissenschaftlichen Journal zur Sicherheit von Atomkraftwerken in Kriegszeiten resümierten: "As things stand, that the attacking power does not target nuclear facilities is perhaps all we can hope for"<ref name="Polytechnique" />. AKW sind zu gefährlich, als dass sie noch gebaut, betrieben oder ihre Laufzeit verlängert werden sollte - nicht nur für aktive Kriegsparteien, sondern auch im Kontext sogenannter "hybrider Kriegsführung", bei der z.B. Sabotage durch Spezialeinheiten zum Einsatz kommen kann.<br />
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=== Fußnoten ===<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
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<div>== Atomkraft im Krieg ==<br />
'''fb''' "Atomkraftwerke sind Bomben, die zeitweise Strom erzeugen", stand auf einem Plakat, das 2002 bei Protesten gegen die Jahrestagung des Deutschen Atomforums in Stuttgart gezeigt wurde. Damit sollte vor allem auf die Unfallgefahr im "Normalbetrieb" hingewiesen werden. Dass jedes Atomkraftwerk (AKW) mit Reaktorkernladung Ziel oder Opfer eines Kollateralschadens in einer militärischen Auseinandersetzung sein kann, wurde seit dem ersten Tag von Putins Krieg gegen die Ukraine verdeutlicht: zunächst durch die Angriffe auf das AKW Tschernobyl in der Super-GAU-Sperrzone, wenige Tage später durch die Kämpfe um das AKW Saporischschja. Beide Anlagen erhielten Einschläge von Geschossen, es war Glück, dass kein kritischer Anlagenteil getroffen wurde. Seitdem schlitterte vor allem Saporischschja, das größte AKW in Europa, mehrfach knapp an einer Katastrophe vorbei. Berichte über Einschläge auf dem Gelände, die Zerstörung des Netzanschlusses und das Einsetzen der Notstromaggregate versetzten die Öffentlichkeit anfangs in Zittern, inzwischen, nachdem sich diese Vorfälle ständig wiederholen, scheint eine Gewöhnung eingesetzt zu haben. Das Risiko hat sich dabei nicht verringert.<br />
<br />
Dabei handelt es sich, weltweit betrachtet, in der Ukraine nicht um die ersten militärischen Schläge gegen Atomkraftwerke. Es gab bereits mindestens 13 solche Angriffe auf Reaktoren in Israel, Iran, Irak und Syrien - ausgeführt von Israel, Iran Irak, Großbritannien bzw. USA. Allerdings war keine dieser Anlagen zum Zeitpunkt der Angriffe in Betrieb. Es existiert kein spezifisches internationales Regelwerk, das den Umgang mit Atomanlagen im Krieg behandelt, aber eine Reihe Vorgaben in unterschiedlichen Vertraegen. Hervorzuheben ist diesbezüglich Teil III des Zusatzprotokolls I der Genfer Konventionen, der deutlich gegen Attacken auf Elektrizitätswerke im Krieg steht. Russland zog sich 2019 von einzelnen Verpflichtungen aus diesem Protokoll zurück, was aber nicht als umfassenden Austritt aus dem Vertragswerk betrachtet wird[I]. Die USA, Indien, Iran, Israel, Pakistan und Türkei ratifizierten es nie[D].<ref name="armywarcollege">Sokolski, Henry D: Present Danger: Nuclear Power Plants in War. The US Army War College Quarterly: Parameters 52(4), 19.10.2022. https://press.armywarcollege.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=3178&context=parameters - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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In der Ukraine befinden sich 15 Reaktoren in Betrieb, vier weitere sind stillgelegt[Z][A]. Reaktor 4 von Tschernobyl war 1986 explodiert und ist bis heute stark radioaktiv kontaminiert[C][E]. Diese produzieren etwa die Hälfte des Stroms des Landes[B]. In der Tschernobyl-Sperrzone befinden sich mehrere Zwischenlager für alle Arten Atommüll, zwei oberflächennahe Endlager und Konditionierungseinrichtungen[A]. Eines dieser Zwischenlager enthält in einem Lagerbecken etwa 20.000 abgebrannte Brennelemente aus den drei 1986 nicht beschädigten, inzwischen stillgelegten Tschernobyl-Reaktoren[C][A]. Ein Zwischenlager unter freiem Himmel mit mehr als 3.000 abgebrannten Brennelementen liegt zusätzlich auf dem Gelände des AKW Saporischschja[A]. Darüberhinaus existieren Zwischenlager für andere radioaktive Abfälle an verschiedenen weiteren Orten in der Ukraine, u.a. in Charkiw und Kiew[A]. Außerdem befinden sich in der Ukraine radioaktive Tailings Ponds (Absetzbecken) mit kontaminierten Abfällen aus der Uranförderung und -aufbereitung[A]. Darüberhinaus befinden sich Forschungsreaktoren in Kiew und Charkiw, sowie an letzterem Ort außerdem eine Neutronenquelle und eine Isotopenproduktionsanlage. Auf der seit 2014 durch Russland besetzten Krim existiert ein weiterer Forschungsreaktor, und die kritisch Anordnung "Sph IR-100"[A]. Auch befinden sich viele Strahlenquellen in Zwischenlagern, Kohlekraftwerken und Kohlebergwerken in der seit 2014 besetzten Ostukraine[A].<br />
Dabei befinden sich die AKW in der Ukraine in einem schlechten Zustand: Jahrelang wurden nur die dringendsten Reparaturen vorgenommen, notwendige Sicherheitsnachrüstungen erfolgten kaum, trotzdem erlaubte die Atomaufsichtsbehörde immer weitere Laufzeitverlängerungen und Leistungserhöhungen der alternden Reaktoren. In den vergangenen zehn Jahren ereigneten sich mehrere schwerwiegende Unfälle und Sicherheitsprobleme, die teils zunächst vertuscht wurden. Die Reaktoren charakterisieren sich als höchst störanfällig. Problematisch ist außerdem der vor allem politisch motivierte Einsatz US-amerikanischer Brennelemente in ukrainischen Reaktoren, von denen keiner dafür ausgelegt ist. Dadurch können sich zusätzliche Sicherheitsprobleme ergeben. Grundsätzlich ist die Atomindustrie der Ukraine von der Versorgung mit russischen Brennelementen abhängig.[A]<br />
Kein Reaktor ist gegen militärische Attacken geschützt. Eine Atomkatastrophe mit massiver Freisetzung ist durch derartige Angriffe bei allen aktiven kommerziellen Atomkraftwerken möglich.[C] Dabei können Atomanlagen Ziele von direkten Attacken, Opfer von Kollateralschäden beispielsweise durch Geschosse, dir ihr eigentliches Ziel verfehlen oder auch Terrorziele werden[B]. Konkret kann es sich dabei insbesondere um den Einschlag von Explosivgeschossen in sicherheitskritische Anlagenteile, Kernschmelze infolge der Trennung von Kühl- und Sicherheitssystemen von der Energieversorgung handeln. So kann das Reaktor-Containment aufgeschlagen werden, abgebrannte Brennelemente durch Bombardierung beschädigt oder die Kühlwasserversorgung unterbrochen werden.[X]<br />
Schon vor der russischen Invasion kam es zu terroristischen bzw. sabotagebedingten Vorfällen, die sich auf Sicherheitssysteme der ukrainischen AKW auswirkten. 2015 führte beispielsweise die Sprengung von Hochspannungsmasten in der Krim-Region durch Separatist*innen zur Notabschaltung eines Reaktors wegen Netzinstabilität.[E] Auch bedrohte 2015 in der Ostukraine die Explosion von Munition in der Nähe eines Lagers für Strahlungsquellen deren Sicherheit. Aufgrund der absehbaren Bedrohungslage fand 2017 mit Unterstützung der USA eine Übung zum Schutz der kritischen Infrastruktur des AKW Saporischschja statt, nachdem schon 2014 die Ukraine sich mit der Bitte um Hilfe bei der Sicherung von Atomanlagen an NATO, EU und die USA gewandt hatte.[A] Auch gab es Berichte von aus Kohlekraftwerken verschwundenen Strahlenquellen, die von Separatist*innen verkauft worden sein sollen[A].<br />
Gleich am ersten Tag der Invasion in der Ukraine besetzten russische Truppen das Gelände des 1986 havarierten AKW Tschernobyl[F]. In den folgenden Tagen wurden Radioaktivitäts-Spikes von den Messsystemen zur Überwachung der Umweltradioaktivität in der Sperrzone festgestellt, die teils erheblich über den dort "normalen" Werten lagen. Den russischen Anti-Atom-Experten Andrey Ozharovsky zufolge wurden diese vermutlich durch schwere Militärfahrzeuge, deren Manöver den verseuchten Boden aufgewirbelt hatten, verursacht[G]. Am 9. März wurden die Atomanlagen in Tschernobyl von der externen Stromversorgung abgeschnitten und liefen mit Notstrom. Erst am 14. März konnte die Stromversorgung wiederhergestellt werden. Bei Plünderungen wurden im März außerdem technische Ausrüstung und wichtige Instrumente eines Labors zur Untersuchung der radiologischen Situation in der Tschernobyl-Sperrzone sowie das Frühwarnsystem für Störfälle und weitere Strahlenmesseinrichtungen zerstört.[A] Durch den Ausfall der Überwachungssysteme und die Plünderungen wirdfahr einer unkontrollierten Verbreitung von atomwaffenfähigem Material aus den Atomanlagen, da di gesehene Verfolgung und weitere Verwendung solcher Materialien z.B. durch die IAEA kaum noch möglich ist[H]. Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Tschernobyl gab es eine Reihe von Berichten über russische Soldaten mit Strahlenschäden. Diese könnten sie sich beim Ausheben von Schützengräben in verseuchtem Boden und Aufenthalt in der kontaminierten Sperrzone zugezogen haben[A]. Erst am 21. März konnte nach ca. vier Wochen ein erster Schichtwechsel in Tschernobyl erfolgen. Die Besatzer*innen hatten die Rotation des Personals nicht erlaubt[A]. Fehlende Schichtwechsel in Atomanlagen im Krieg bedeuten ein erhöhtes Risiko menschlichen Versagens[X].<br />
Aber auch andere Atomanlagen wurden bereits Opfer russischen Beschusses: Das Atomforschungsinstitut in Kiew wurde im März mehrfach Ziel russischer Angriffe: Am 6., 8. und 10./11. März schlugen Geschosse ein und verursachten erhebliche Schäden am Gebäude. Auch das Forschungszentrum in Charkiw wurde im März infolge von Bombardierung beschädigt und von der Stromversorgung abgeschnitten. Ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle wurde am 26. Februar in Charkiw getroffen und in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar war ein weiteres Lager in Kiew das Ziel von Granatenbeschuss.[A]<br />
Besonders dramatisch ist die Lage am AKW Saporischschja. Anfang März erfolgte erstmals in der Geschichte ein Waffeneinsatz an einem in Betrieb befindlichen kommerziellen Reaktor[J]. Der bewaffnete Konflikt in einem Land mit massiv ausgebauter Atomindustrie stellt einen Präzendenzfall dar[X]. Ein Schulungsgebäude auf dem AKW-Gelände brannte ab. Im Anschluss bestand längere Zeit kein Zugang und nur eine beschränkte Fernüberwachung für IAEA-Kontrolleur*innen.[J] Ca. 500 rissische Soldaten sollen die Atomanlage seit März als Stützpunkt nutzen sowie Waffen und Munition, u.a. Granatwerfer sowie Panzer- und Flugabwehrraketen, in den Gebäuden lagern[J][X]. Sofort nach der Besetzung brachte das russische Militär Panzer auf dem Gelände unter[X]. Der Standort wurde auch als Abschussbasis für Raketen und Artillerie genutzt<ref name="armywarcollege" />. Eine Explosion von Munition in der Nähe des AKW ereignete sich am 14. März[A]. Seit August sollen Gebäude und Gelände mehrfach von Raketen getroffen worden sein[J]. Fotos aus dem Sommer zeigten, dass u.a ein Transformator beschädigt wurde - ein kritisches System, das die kontinuierliche Versorgung von Kühl- und Sicherheitssystemen mit Strom sicherstellen soll[Y].<br />
Nach und nach wurden wegen der Gefahrenlage immer mehr Reaktoren heruntergefahren[J]. Inzwischen (Stand: Oktober) sind alle Reaktoren abgeschaltet. Trotzdem bleibt die Gefahr einer Kernschmelze infolge eines Unfalls akut, da das Reaktorinventar und das Lager für abgebrannte Brennelemente selbst nach dem Herunterfahren viele Jahre noch einer intensiven Kühlung bedürfen. Hierfür ist das AKW auf eine externe Stromversorgung und funktionierende Kühl- sowie Sicherheitssysteme angewiesen. Wenn die Stromversorgung über das Netz ausfällt, kommen Dieselgeneratoren zum Einsatz, die allerdings eine auf einige Tage begrenzte Reichweite haben und danach von Treibstoff-Nachlieferungen abhängig sind.[J]<br />
Das ukrainische AKW-Personal steht seit der Eroberung der Atomanlage unter russischer Aufsicht. Viele Menschen sind geflohen.[J] Teile der Führungskräfte und Arbeiter*innenschaft wurden gekidnappt, gefoltert bzw. getötet[Y]. Die verbleibenden Mitarbeiter*innen arbeiten unter Gewaltandrohungen durch die russischen Besatzer*innen. Sie stehen so unter extremen psychischen Belastungen, was auch die Fehleranfälligkeit beim Umgang mit dieser Hochrisikotechnologie erhöht.[J] Berichtet wurde bereits von Kommunikationsproblemen der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde mit dem Personal am AKW Saporischschja aufgrund der Abschaltung des Mobilfunkes und Blockierung des Internets durch die russischen Kräfte[X]. Darüberhinaus könnten die Besatzer*innen selbst die Sicherheit der Anlage gefährden, weil sie weniger spezifisches Know-How als die ukrainischen Mitarbeiter*innen haben. So könnten sie falsche Maßnahmen erzwingen, und reguläre Sicherheitsüberprüfungen einschränken oder verhindern. Auch besteht die Gefahr, dass kritische Geräte und Bauteile im Krieg nicht beschafft oder antransportiert werden können.[J] Auch das Krisenmanagement im Falle eines Unfalls ist voraussichtlich erschwert, weil Evakuierungen unter den Bedingungen von Besatzung und Krieg behindert würden und nötige Infrastruktur durch die Lage in Frontnähe womöglich nur eingeschränkt nutzbar wäre[J].<br />
Die Behörden der Ukraine, Polens, Rumäniens, Moldaus und Finnlands haben als Konsequenz aus der Sicherheitssituation am AKW Saporischschja für den Fall einer Atomkatastrophe Jodtabletten an die Bevölkerung verteilt[Y]. Bei korrekter Dosierung und gutem Timing kann so zumindest das Schilddrüsenkrebsrisiko infolge eines Super-GAUs gesenkt werden.<br />
In einem im US Army War College-Journal veröffentlichten Papier mit Anregungen an das Pentagon stellt der Akademiker Henry D. Sokolski fest: "After what has unfolded at Zaporizhzhya, civilian nuclear plants must be viewed as prepositioned nuclear weapon"[Y]. Trotzdem setzt die Ukraine weiter auf Atomkraft. Im Juni 2022 schloss der ukrainische AKW-Betreiber Energoatom mit dem US-amerikanischen Atomkonzern Westinghouse ein Abkommen über den Bau von vier Reaktoren[E]. Darüberhinaus wurden Absichtserklärungen zur Errichtung mehrerer sogenannter SMR (Small Modular Reactor) mit verschiedenen US-amerikanischen Firmen getroffen[A].<br />
Neben der Gefährdung der ukrainischen Atomanlagen im Krieg besteht außerdem ein steigendes Risiko für einen Einsatz von Atomwaffen durch die Russische Föderation. Schon am 27. Februar, weniger Tage nach dem Angriff auf die Ukraine, gab Putin den Befehl aus, die Abschreckungsstreitkräfte in besondere Alarmbereitschaft zu versetzen, zu denen auch ca. 6.200 Atomsprengköpfe gehören[K]. Die indirekte Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen wurde seitem mehrfach wiederholt. Im Sommer forderten radikale Nationalisten aus der Militärführung Russlands sogar ganz offen den Einsatz taktischer Atomwaffen in der Ukraine, woraufhin USA und NATO Russland Konsequenzen für eine solche Aktion ankündigten. Eine besondere Dramatik ergibt sich aus dem Umstand, dass die angreifende Nation mit Russland einer der Garanten ist, die der Ukraine 1994 im Gegenzug für deren Verzicht auf ihr Atomwaffenarsenal Schutz versprach[H].[M] Das Szenario eines Atomkriegs zwischen Russland und USA ist seit dem Invasionsbeginn näher als sonst jemals seit den 1970er Jahren[L]. Eine weitere Bedrohung stellt die mögliche Interpretation einer grenzüberschreitenden, militärisch ausgelösten Atomkatastrophe in der Ukraine als NATO-Bündnisfall dar, der von einzelnen Expert*innen denkbar erscheint, wenn z.B. die Bevölkerungen der NATO-Mitglieder Rumänien oder Polen von massiven radioaktiven Freisetzungen betroffen würden. Die Ausrufung des Bündnisfalles könnte im schlimmsten Fall bis zum Eintritt der NATO in den Krieg mit Russland führen[Y].<br />
So bleibt zum Abschluss nur festzuhalten, was eine Expert*innengruppe aus Atomindustrie, Forschung und Aufsichtsbehörden in einem wissenschaftlichen Journal zur Sicherheit von Atomkraftwerken in Kriegszeiten resümierten: "As things stand, that the attacking power does not target nuclear facilities is perhaps all we can hope for"[X]. AKW sind zu gefährlich, als dass sie noch gebaut, betrieben oder ihre Laufzeit verlängert werden sollte - nicht nur für aktive Kriegsparteien, sondern auch im Kontext sogenannter "hybrider Kriegsführung", bei der z.B. Sabotage durch Spezialeinheiten zum Einsatz kommen kann.<br />
Fußnoten<br />
X - Herviou, Karine; Meshkati, Najmedin; Ustohalova, Veronika; Gupta, Olivier: What are the risks of nuclear power plants in wartime? Polytechnique insights, 12.07.2022. https://www.polytechnique-insights.com/en/columns/geopolitics/how-to-protect-nuclear-power-plants-in-wartime/ - gesichtet 23. Oktober 2022<br />
Z - Übersichtstabelle "Nuclear Power Stations Ukraine" von Jan Haverkamp, 24.02.2022<br />
A - Schönberger, Ursula: "Länderbericht Ukraine". atommüllreport, 25.05.2022. https://www.atommuellreport.de/themen/detail/atommuellreport-laenderbericht-ukraine.html - gesichtet 23. Oktober 2022<br />
B - Gunter, Linda Pentz: Nuclear warfare without bombs. Ukraine’s reactors could be in the line of fire. Beyond Nuclear International, 30.01.2022. https://beyondnuclearinternational.org/2022/01/30/nuclear-warfare-without-bombs/ - gesichtet 23. Oktober 2022<br />
C - Jan Haverkamp: Short Briefing: Russian war on Ukraine – nuclear energy risks. 24.02.2022<br />
D - Anzumerken ist außerdem, dass das Pentagon seinen Militärkommandant*innen im 2016er "Law of War Manual" die Entscheidung überlässt, ob sie AKW angreifen, wenn diese das "wichtig" finden[Y].<br />
E - Stender, Anna: Atomkraft in der Ukraine. .ausgestrahlt, 02.03.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/02/atomkraft-der-ukraine/ - gesichtet 23. Oktober 2022<br />
F - Stillgelegtes Kernkraftwerk. Kiew: Russland hat Tschernobyl eingenommen. ZDF, 24.02.2022. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/tschernobyl-kernkraftwerk-krieg-russland-ukraine-100.html - gesichtet 24.10.2022<br />
G - Ozharovsky, Andrey: Рост мощности дозы гамма излучения на площадке Чернобыльской АЭС. Facebook, 25.02.2022. https://www.facebook.com/andrey.ozharovsky/posts/4802038569873501 - gesichtet 23. Oktober 2022<br />
H - Russlands Einmarsch in die Ukraine bedroht die Freiheit nachrückender Generationen weltweit. Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, 25.02.2022. https://generationengerechtigkeit.info/russlands-einmarsch-in-die-ukraine/ - gesichtet 24. Oktober 2022<br />
I - Protocol I. Wikipedia. https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Protocol_I&oldid=1117909633 - gesichtet 24. Oktober 2022<br />
J - Stender, Anna: Atomares Pulverfass. .ausgestrahlt, 24.08.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/08/24/atomares-pulverfass/ - gesichtet 23. Oktober 2022<br />
K - Breidenbach, Heinrich: Atomwaffen: No first use! PLAGE NEWS 1/22, S. 4<br />
L - Hudson, Kate: There is an increasing risk of nuclear war over Ukraine. Campaign for Nuclear Disarmament. E-Mail vom 24.02.2022<br />
M - Zu den Garantiestaaten für die territoriale Integrität der Ukraine gehörten 1994 auch die USA.<br />
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<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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<hr />
<div>== Atomkraft im Krieg ==<br />
'''fb''' "Atomkraftwerke sind Bomben, die zeitweise Strom erzeugen", stand auf einem Plakat, das 2002 bei Protesten gegen die Jahrestagung des Deutschen Atomforums in Stuttgart gezeigt wurde. Damit sollte vor allem auf die Unfallgefahr im "Normalbetrieb" hingewiesen werden. Dass jedes Atomkraftwerk (AKW) mit Reaktorkernladung Ziel oder Opfer eines Kollateralschadens in einer militärischen Auseinandersetzung sein kann, wurde seit dem ersten Tag von Putins Krieg gegen die Ukraine verdeutlicht: zunächst durch die Angriffe auf das AKW Tschernobyl in der Super-GAU-Sperrzone, wenige Tage später durch die Kämpfe um das AKW Saporischschja. Beide Anlagen erhielten Einschläge von Geschossen, es war Glück, dass kein kritischer Anlagenteil getroffen wurde. Seitdem schlitterte vor allem Saporischschja, das größte AKW in Europa, mehrfach knapp an einer Katastrophe vorbei. Berichte über Einschläge auf dem Gelände, die Zerstörung des Netzanschlusses und das Einsetzen der Notstromaggregate versetzten die Öffentlichkeit anfangs in Zittern, inzwischen, nachdem sich diese Vorfälle ständig wiederholen, scheint eine Gewöhnung eingesetzt zu haben. Das Risiko hat sich dabei nicht verringert.<br />
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Dabei handelt es sich, weltweit betrachtet, in der Ukraine nicht um die ersten militärischen Schläge gegen Atomkraftwerke. Es gab bereits mindestens 13 solche Angriffe auf Reaktoren in Israel, Iran, Irak und Syrien - ausgeführt von Israel, Iran Irak, Großbritannien bzw. USA. Allerdings war keine dieser Anlagen zum Zeitpunkt der Angriffe in Betrieb. Es existiert kein spezifisches internationales Regelwerk, das den Umgang mit Atomanlagen im Krieg behandelt, aber eine Reihe Vorgaben in unterschiedlichen Vertraegen. Hervorzuheben ist diesbezüglich Teil III des Zusatzprotokolls I der Genfer Konventionen, der deutlich gegen Attacken auf Elektrizitätswerke im Krieg steht. Russland zog sich 2019 von einzelnen Verpflichtungen aus diesem Protokoll zurück, was aber nicht als umfassenden Austritt aus dem Vertragswerk betrachtet wird[I]. Die USA, Indien, Iran, Israel, Pakistan und Türkei ratifizierten es nie[D].<ref name="armywarcollege">Sokolski, Henry D: Present Danger: Nuclear Power Plants in War. The US Army War College Quarterly: Parameters 52(4), 19.10.2022. https://press.armywarcollege.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=3178&context=parameters - gesichtet 23. Oktober 2022</ref><br />
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In der Ukraine befinden sich 15 Reaktoren in Betrieb, vier weitere sind stillgelegt[Z][A]. Reaktor 4 von Tschernobyl war 1986 explodiert und ist bis heute stark radioaktiv kontaminiert[C][E]. Diese produzieren etwa die Hälfte des Stroms des Landes[B]. In der Tschernobyl-Sperrzone befinden sich mehrere Zwischenlager für alle Arten Atommüll, zwei oberflächennahe Endlager und Konditionierungseinrichtungen[A]. Eines dieser Zwischenlager enthält in einem Lagerbecken etwa 20.000 abgebrannte Brennelemente aus den drei 1986 nicht beschädigten, inzwischen stillgelegten Tschernobyl-Reaktoren[C][A]. Ein Zwischenlager unter freiem Himmel mit mehr als 3.000 abgebrannten Brennelementen liegt zusätzlich auf dem Gelände des AKW Saporischschja[A]. Darüberhinaus existieren Zwischenlager für andere radioaktive Abfälle an verschiedenen weiteren Orten in der Ukraine, u.a. in Charkiw und Kiew[A]. Außerdem befinden sich in der Ukraine radioaktive Tailings Ponds (Absetzbecken) mit kontaminierten Abfällen aus der Uranförderung und -aufbereitung[A]. Darüberhinaus befinden sich Forschungsreaktoren in Kiew und Charkiw, sowie an letzterem Ort außerdem eine Neutronenquelle und eine Isotopenproduktionsanlage. Auf der seit 2014 durch Russland besetzten Krim existiert ein weiterer Forschungsreaktor, und die kritisch Anordnung "Sph IR-100"[A]. Auch befinden sich viele Strahlenquellen in Zwischenlagern, Kohlekraftwerken und Kohlebergwerken in der seit 2014 besetzten Ostukraine[A].<br />
Dabei befinden sich die AKW in der Ukraine in einem schlechten Zustand: Jahrelang wurden nur die dringendsten Reparaturen vorgenommen, notwendige Sicherheitsnachrüstungen erfolgten kaum, trotzdem erlaubte die Atomaufsichtsbehörde immer weitere Laufzeitverlängerungen und Leistungserhöhungen der alternden Reaktoren. In den vergangenen zehn Jahren ereigneten sich mehrere schwerwiegende Unfälle und Sicherheitsprobleme, die teils zunächst vertuscht wurden. Die Reaktoren charakterisieren sich als höchst störanfällig. Problematisch ist außerdem der vor allem politisch motivierte Einsatz US-amerikanischer Brennelemente in ukrainischen Reaktoren, von denen keiner dafür ausgelegt ist. Dadurch können sich zusätzliche Sicherheitsprobleme ergeben. Grundsätzlich ist die Atomindustrie der Ukraine von der Versorgung mit russischen Brennelementen abhängig.[A]<br />
Kein Reaktor ist gegen militärische Attacken geschützt. Eine Atomkatastrophe mit massiver Freisetzung ist durch derartige Angriffe bei allen aktiven kommerziellen Atomkraftwerken möglich.[C] Dabei können Atomanlagen Ziele von direkten Attacken, Opfer von Kollateralschäden beispielsweise durch Geschosse, dir ihr eigentliches Ziel verfehlen oder auch Terrorziele werden[B]. Konkret kann es sich dabei insbesondere um den Einschlag von Explosivgeschossen in sicherheitskritische Anlagenteile, Kernschmelze infolge der Trennung von Kühl- und Sicherheitssystemen von der Energieversorgung handeln. So kann das Reaktor-Containment aufgeschlagen werden, abgebrannte Brennelemente durch Bombardierung beschädigt oder die Kühlwasserversorgung unterbrochen werden.[X]<br />
Schon vor der russischen Invasion kam es zu terroristischen bzw. sabotagebedingten Vorfällen, die sich auf Sicherheitssysteme der ukrainischen AKW auswirkten. 2015 führte beispielsweise die Sprengung von Hochspannungsmasten in der Krim-Region durch Separatist*innen zur Notabschaltung eines Reaktors wegen Netzinstabilität.[E] Auch bedrohte 2015 in der Ostukraine die Explosion von Munition in der Nähe eines Lagers für Strahlungsquellen deren Sicherheit. Aufgrund der absehbaren Bedrohungslage fand 2017 mit Unterstützung der USA eine Übung zum Schutz der kritischen Infrastruktur des AKW Saporischschja statt, nachdem schon 2014 die Ukraine sich mit der Bitte um Hilfe bei der Sicherung von Atomanlagen an NATO, EU und die USA gewandt hatte.[A] Auch gab es Berichte von aus Kohlekraftwerken verschwundenen Strahlenquellen, die von Separatist*innen verkauft worden sein sollen[A].<br />
Gleich am ersten Tag der Invasion in der Ukraine besetzten russische Truppen das Gelände des 1986 havarierten AKW Tschernobyl[F]. In den folgenden Tagen wurden Radioaktivitäts-Spikes von den Messsystemen zur Überwachung der Umweltradioaktivität in der Sperrzone festgestellt, die teils erheblich über den dort "normalen" Werten lagen. Den russischen Anti-Atom-Experten Andrey Ozharovsky zufolge wurden diese vermutlich durch schwere Militärfahrzeuge, deren Manöver den verseuchten Boden aufgewirbelt hatten, verursacht[G]. Am 9. März wurden die Atomanlagen in Tschernobyl von der externen Stromversorgung abgeschnitten und liefen mit Notstrom. Erst am 14. März konnte die Stromversorgung wiederhergestellt werden. Bei Plünderungen wurden im März außerdem technische Ausrüstung und wichtige Instrumente eines Labors zur Untersuchung der radiologischen Situation in der Tschernobyl-Sperrzone sowie das Frühwarnsystem für Störfälle und weitere Strahlenmesseinrichtungen zerstört.[A] Durch den Ausfall der Überwachungssysteme und die Plünderungen wirdfahr einer unkontrollierten Verbreitung von atomwaffenfähigem Material aus den Atomanlagen, da di gesehene Verfolgung und weitere Verwendung solcher Materialien z.B. durch die IAEA kaum noch möglich ist[H]. Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Tschernobyl gab es eine Reihe von Berichten über russische Soldaten mit Strahlenschäden. Diese könnten sie sich beim Ausheben von Schützengräben in verseuchtem Boden und Aufenthalt in der kontaminierten Sperrzone zugezogen haben[A]. Erst am 21. März konnte nach ca. vier Wochen ein erster Schichtwechsel in Tschernobyl erfolgen. Die Besatzer*innen hatten die Rotation des Personals nicht erlaubt[A]. Fehlende Schichtwechsel in Atomanlagen im Krieg bedeuten ein erhöhtes Risiko menschlichen Versagens[X].<br />
Aber auch andere Atomanlagen wurden bereits Opfer russischen Beschusses: Das Atomforschungsinstitut in Kiew wurde im März mehrfach Ziel russischer Angriffe: Am 6., 8. und 10./11. März schlugen Geschosse ein und verursachten erhebliche Schäden am Gebäude. Auch das Forschungszentrum in Charkiw wurde im März infolge von Bombardierung beschädigt und von der Stromversorgung abgeschnitten. Ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle wurde am 26. Februar in Charkiw getroffen und in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar war ein weiteres Lager in Kiew das Ziel von Granatenbeschuss.[A]<br />
Besonders dramatisch ist die Lage am AKW Saporischschja. Anfang März erfolgte erstmals in der Geschichte ein Waffeneinsatz an einem in Betrieb befindlichen kommerziellen Reaktor[J]. Der bewaffnete Konflikt in einem Land mit massiv ausgebauter Atomindustrie stellt einen Präzendenzfall dar[X]. Ein Schulungsgebäude auf dem AKW-Gelände brannte ab. Im Anschluss bestand längere Zeit kein Zugang und nur eine beschränkte Fernüberwachung für IAEA-Kontrolleur*innen.[J] Ca. 500 rissische Soldaten sollen die Atomanlage seit März als Stützpunkt nutzen sowie Waffen und Munition, u.a. Granatwerfer sowie Panzer- und Flugabwehrraketen, in den Gebäuden lagern[J][X]. Sofort nach der Besetzung brachte das russische Militär Panzer auf dem Gelände unter[X]. Der Standort wurde auch als Abschussbasis für Raketen und Artillerie genutzt<ref name="armywarcollege" />. Eine Explosion von Munition in der Nähe des AKW ereignete sich am 14. März[A]. Seit August sollen Gebäude und Gelände mehrfach von Raketen getroffen worden sein[J]. Fotos aus dem Sommer zeigten, dass u.a ein Transformator beschädigt wurde - ein kritisches System, das die kontinuierliche Versorgung von Kühl- und Sicherheitssystemen mit Strom sicherstellen soll[Y].<br />
Nach und nach wurden wegen der Gefahrenlage immer mehr Reaktoren heruntergefahren[J]. Inzwischen (Stand: Oktober) sind alle Reaktoren abgeschaltet. Trotzdem bleibt die Gefahr einer Kernschmelze infolge eines Unfalls akut, da das Reaktorinventar und das Lager für abgebrannte Brennelemente selbst nach dem Herunterfahren viele Jahre noch einer intensiven Kühlung bedürfen. Hierfür ist das AKW auf eine externe Stromversorgung und funktionierende Kühl- sowie Sicherheitssysteme angewiesen. Wenn die Stromversorgung über das Netz ausfällt, kommen Dieselgeneratoren zum Einsatz, die allerdings eine auf einige Tage begrenzte Reichweite haben und danach von Treibstoff-Nachlieferungen abhängig sind.[J]<br />
Das ukrainische AKW-Personal steht seit der Eroberung der Atomanlage unter russischer Aufsicht. Viele Menschen sind geflohen.[J] Teile der Führungskräfte und Arbeiter*innenschaft wurden gekidnappt, gefoltert bzw. getötet[Y]. Die verbleibenden Mitarbeiter*innen arbeiten unter Gewaltandrohungen durch die russischen Besatzer*innen. Sie stehen so unter extremen psychischen Belastungen, was auch die Fehleranfälligkeit beim Umgang mit dieser Hochrisikotechnologie erhöht.[J] Berichtet wurde bereits von Kommunikationsproblemen der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde mit dem Personal am AKW Saporischschja aufgrund der Abschaltung des Mobilfunkes und Blockierung des Internets durch die russischen Kräfte[X]. Darüberhinaus könnten die Besatzer*innen selbst die Sicherheit der Anlage gefährden, weil sie weniger spezifisches Know-How als die ukrainischen Mitarbeiter*innen haben. So könnten sie falsche Maßnahmen erzwingen, und reguläre Sicherheitsüberprüfungen einschränken oder verhindern. Auch besteht die Gefahr, dass kritische Geräte und Bauteile im Krieg nicht beschafft oder antransportiert werden können.[J] Auch das Krisenmanagement im Falle eines Unfalls ist voraussichtlich erschwert, weil Evakuierungen unter den Bedingungen von Besatzung und Krieg behindert würden und nötige Infrastruktur durch die Lage in Frontnähe womöglich nur eingeschränkt nutzbar wäre[J].<br />
Die Behörden der Ukraine, Polens, Rumäniens, Moldaus und Finnlands haben als Konsequenz aus der Sicherheitssituation am AKW Saporischschja für den Fall einer Atomkatastrophe Jodtabletten an die Bevölkerung verteilt[Y]. Bei korrekter Dosierung und gutem Timing kann so zumindest das Schilddrüsenkrebsrisiko infolge eines Super-GAUs gesenkt werden.<br />
In einem im US Army War College-Journal veröffentlichten Papier mit Anregungen an das Pentagon stellt der Akademiker Henry D. Sokolski fest: "After what has unfolded at Zaporizhzhya, civilian nuclear plants must be viewed as prepositioned nuclear weapon"[Y]. Trotzdem setzt die Ukraine weiter auf Atomkraft. Im Juni 2022 schloss der ukrainische AKW-Betreiber Energoatom mit dem US-amerikanischen Atomkonzern Westinghouse ein Abkommen über den Bau von vier Reaktoren[E]. Darüberhinaus wurden Absichtserklärungen zur Errichtung mehrerer sogenannter SMR (Small Modular Reactor) mit verschiedenen US-amerikanischen Firmen getroffen[A].<br />
Neben der Gefährdung der ukrainischen Atomanlagen im Krieg besteht außerdem ein steigendes Risiko für einen Einsatz von Atomwaffen durch die Russische Föderation. Schon am 27. Februar, weniger Tage nach dem Angriff auf die Ukraine, gab Putin den Befehl aus, die Abschreckungsstreitkräfte in besondere Alarmbereitschaft zu versetzen, zu denen auch ca. 6.200 Atomsprengköpfe gehören[K]. Die indirekte Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen wurde seitem mehrfach wiederholt. Im Sommer forderten radikale Nationalisten aus der Militärführung Russlands sogar ganz offen den Einsatz taktischer Atomwaffen in der Ukraine, woraufhin USA und NATO Russland Konsequenzen für eine solche Aktion ankündigten. Eine besondere Dramatik ergibt sich aus dem Umstand, dass die angreifende Nation mit Russland einer der Garanten ist, die der Ukraine 1994 im Gegenzug für deren Verzicht auf ihr Atomwaffenarsenal Schutz versprach[H].[M] Das Szenario eines Atomkriegs zwischen Russland und USA ist seit dem Invasionsbeginn näher als sonst jemals seit den 1970er Jahren[L]. Eine weitere Bedrohung stellt die mögliche Interpretation einer grenzüberschreitenden, militärisch ausgelösten Atomkatastrophe in der Ukraine als NATO-Bündnisfall dar, der von einzelnen Expert*innen denkbar erscheint, wenn z.B. die Bevölkerungen der NATO-Mitglieder Rumänien oder Polen von massiven radioaktiven Freisetzungen betroffen würden. Die Ausrufung des Bündnisfalles könnte im schlimmsten Fall bis zum Eintritt der NATO in den Krieg mit Russland führen[Y].<br />
So bleibt zum Abschluss nur festzuhalten, was eine Expert*innengruppe aus Atomindustrie, Forschung und Aufsichtsbehörden in einem wissenschaftlichen Journal zur Sicherheit von Atomkraftwerken in Kriegszeiten resümierten: "As things stand, that the attacking power does not target nuclear facilities is perhaps all we can hope for"[X]. AKW sind zu gefährlich, als dass sie noch gebaut, betrieben oder ihre Laufzeit verlängert werden sollte - nicht nur für aktive Kriegsparteien, sondern auch im Kontext sogenannter "hybrider Kriegsführung", bei der z.B. Sabotage durch Spezialeinheiten zum Einsatz kommen kann.<br />
Fußnoten<br />
X - Herviou, Karine; Meshkati, Najmedin; Ustohalova, Veronika; Gupta, Olivier: What are the risks of nuclear power plants in wartime? Polytechnique insights, 12.07.2022. https://www.polytechnique-insights.com/en/columns/geopolitics/how-to-protect-nuclear-power-plants-in-wartime/ - gesichtet 23. Oktober 2022<br />
Z - Übersichtstabelle "Nuclear Power Stations Ukraine" von Jan Haverkamp, 24.02.2022<br />
A - Schönberger, Ursula: "Länderbericht Ukraine". atommüllreport, 25.05.2022. https://www.atommuellreport.de/themen/detail/atommuellreport-laenderbericht-ukraine.html - gesichtet 23. Oktober 2022<br />
B - Gunter, Linda Pentz: Nuclear warfare without bombs. Ukraine’s reactors could be in the line of fire. Beyond Nuclear International, 30.01.2022. https://beyondnuclearinternational.org/2022/01/30/nuclear-warfare-without-bombs/ - gesichtet 23. Oktober 2022<br />
C - Jan Haverkamp: Short Briefing: Russian war on Ukraine – nuclear energy risks. 24.02.2022<br />
D - Anzumerken ist außerdem, dass das Pentagon seinen Militärkommandant*innen im 2016er "Law of War Manual" die Entscheidung überlässt, ob sie AKW angreifen, wenn diese das "wichtig" finden[Y].<br />
E - Stender, Anna: Atomkraft in der Ukraine. .ausgestrahlt, 02.03.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/02/atomkraft-der-ukraine/ - gesichtet 23. Oktober 2022<br />
F - Stillgelegtes Kernkraftwerk. Kiew: Russland hat Tschernobyl eingenommen. ZDF, 24.02.2022. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/tschernobyl-kernkraftwerk-krieg-russland-ukraine-100.html - gesichtet 24.10.2022<br />
G - Ozharovsky, Andrey: Рост мощности дозы гамма излучения на площадке Чернобыльской АЭС. Facebook, 25.02.2022. https://www.facebook.com/andrey.ozharovsky/posts/4802038569873501 - gesichtet 23. Oktober 2022<br />
H - Russlands Einmarsch in die Ukraine bedroht die Freiheit nachrückender Generationen weltweit. Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, 25.02.2022. https://generationengerechtigkeit.info/russlands-einmarsch-in-die-ukraine/ - gesichtet 24. Oktober 2022<br />
I - Protocol I. Wikipedia. https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Protocol_I&oldid=1117909633 - gesichtet 24. Oktober 2022<br />
J - Stender, Anna: Atomares Pulverfass. .ausgestrahlt, 24.08.2022. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/08/24/atomares-pulverfass/ - gesichtet 23. Oktober 2022<br />
K - Breidenbach, Heinrich: Atomwaffen: No first use! PLAGE NEWS 1/22, S. 4<br />
L - Hudson, Kate: There is an increasing risk of nuclear war over Ukraine. Campaign for Nuclear Disarmament. E-Mail vom 24.02.2022<br />
M - Zu den Garantiestaaten für die territoriale Integrität der Ukraine gehörten 1994 auch die USA.</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atom(ausstiegs)politiken_in_EU_und_USA&diff=218552022-01:Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA2022-10-23T10:37:30Z<p>WikiSysop: Diskurs um Laufzeitverlängerungen in der BRD</p>
<hr />
<div>== Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA ==<br />
'''fb''' Zum Stichtag 1. Juli 2021 stellte die Europäische Union mit 106 in Betrieb befindlichen Reaktoren die weltgrößte Flotte installierter Atomkraftwerksleistung bereit, nur knapp gefolgt von den USA mit 93 Reaktoren. Auf der Ebene der Staaten standen die USA auf Rangplatz 1, gefolgt von Frankreich mit 56 Reaktoren und China mit 53 Reaktoren. Der Anteil von Atomenergie am Strommix machte in den USA 19,7%, in der EU 24,8% aus. 2020 wurde in der Europäischen Union von Regenerativen Energien (ohne Berücksichtigung der Wasserkraft) zum ersten Mal mehr Elektrizität erzeugt als durch Kernspaltung. Atomkraft ist offenbar sowohl in der EU als auch in den USA eine bedeutende Energiequelle (Schneider et al. 2021: 302, 354, 394).<br />
<br />
Den entscheidenden Anteil am Primärenergieverbrauch (also nicht nur Strom) bilden jedoch in beiden Regionen fossile Energieträger. Diese dominieren den Bruttoinlandsenergieverbrauch mit 69,3% in der EU (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2019), während sie in den USA (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2020) sogar 79% ausmachten (EIA 2021; eurostat 2021a).<br />
<br />
=== Status und Perspektiven der Atomkraftnutzung ===<br />
In der Europäischen Union ist die Atomkraft hochgradig umstritten: 13 Mitgliedsstaaten betreiben Atomkraftwerke (AKW), von denen vier einen Atomausstieg beschlossen haben (Belgien, BRD, Spanien, Schweden); 14 Mitgliedsstaaten besitzen keine in Betrieb befindlichen Atomreaktoren, von denen einer (Polen) derzeit versucht ein umfangreiches Atomprogramm umzusetzen (.ausgestrahlt 2019: 24; eurostat 2021b). Drei Reaktoren wurden 2020 stillgelegt (Fessenheim-1+2, Ringhals-1), während sich vier solche im Bau befanden (Olkiluoto-3, Flamanville-3, Mochovce-3+4) – allerdings mit massiven Verspätungen von einem Jahrzehnt und länger sowie mit Kostenexplosionen bis zum 6fachen der ursprünglichen Kalkulationen (Neubauer 2008; Schneider et al. 2021: 75, 77–80, 84, 93, 355). Viele EU-Staaten werden letztlich das Kapitel der Atomstromproduktion aufgrund der zunehmenden Überalterung der Reaktorflotte (durchschnittlich 35,9 Jahre in der EU) und der wirtschaftlichen Unrentabilität neuer Atomkraftwerke in den nächsten Jahrzehnten schließen (Schneider u. a. 2021: 354 ff.).<br />
<br />
Unklar ist bei dieser Einschätzung, die auf der Situation vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine basiert, die Auswirkungen der aktuellen Energiekrise. Diese hat zwar verdeutlicht, wie katastrophal auch in Hinsicht auf die Energieversorgungssicherheit der immer noch hohe Anteil fossiler Energieträger bei der Stromerzeugung ist, allerdings auch Kurzschlussreaktionen und aggressiven pro- nuklearen Lobbyismus verursacht. Derzeit diskutieren verschiedene europäische Regierungen über Laufzeitverlängerungen für von Stilllegungen betroffene alte AKW (Belgien<ref name="jungeWelt_Belgien">https://www.jungewelt.de/artikel/435405.nuklearenergie-aus-f%C3%BCr-schrottmeiler.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref>, BRD), die Aufgabe des Atomausstiegs oder den Neubau von Reaktoren (Bulgarien<ref name="Euraktiv_Bulgarien">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/bulgarien-will-den-bau-eines-neuen-atomreaktors-vorantreiben/ -gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Frankreich<ref name="FrankreichAtomkraft">https://de.investing.com/analysis/frankreich-vereinfacht-bau-von-atomkraftwerken-200476765 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_Frankreich">https://www.euractiv.de/section/energie/news/atomkraft-renaissance-in-frankreich-wirkt-gesetzt-aber-edf-wankt/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Niederlande<ref name="Euraktiv_Niederlande">https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/erstes-kraftwerk-seit-50-jahren-niederlande-kehren-zum-atomstrom-zurueck/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Tschechien<ref name="TschechienSMR">https://www.meinbezirk.at/gmuend/c-lokales/tschechien-baut-neues-mini-atomkraftwerk-in-grenznaehe_a5621755 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Blackout_Temelin">https://blackout-news.de/aktuelles/erstes-europaeisches-mini-akw-wird-in-suedboehmen-gebaut/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_SMR">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/osteuropaeische-laender-wollen-modulare-atomreaktoren-aus-den-usa/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>). Dabei ist die Abhängigkeit von russischen Energiequellen auch in der europäischen Atomindustrie groß: Russland ist der größte Uranexporteur in die EU<ref>Diese russische Uranabhängigkeit betrifft auch die deutsche Atomindustrie: Beispielsweise bezog der Betreiber PreussenElektra u.a. für das nun von einer Laufzeitverlängerung betroffene AKW Isar/Ohu seit Jahren vor allem Brennstoff aus Russland und Kasachstan. Vgl. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/10/russische-atom-diplomatie-gef%C3%A4hrdet-sicherheit-europas/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref> und mindestens 18 Reaktoren in fünf Mitgliedsstaaten sind auf dessen Brennelemente angewiesen<ref name="AtommuellreportRussland">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/die-bedeutung-der-russischen-atomindustrie-fuer-europa.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Russland">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/10/russische-atom-diplomatie-gef%C3%A4hrdet-sicherheit-europas/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Der Neubau von Atomanlagen ist weiterhin mit großen zeitlichen (Bauzeitüberziehungen) und finanziellen (Preissteigerungen) Problemen konfrontiert und daher unter rationalen Gesichtspunkten keine Option. Infolge der Invasion in der Ukraine ist im Mai nun auch das russische AKW-Neubauprojekt Hanhikivi in Pyhäjoki im Norden Finnlands gescheitert<ref name="Euractiv_Hanhikivi">https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/finnisches-unternehmen-kuendigt-rosatom-vertrag-ueber-kernkraftwerkslieferung/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, für das bereits Naturschutzgebiete verwüstet worden waren<ref name="grbl_Pyhaejoki">https://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2016-01:Mit_Taser_und_Tr%C3%A4nengas_f%C3%BCr_das_finnisch-russische_AKW - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>. Nur Atombombenstaaten haben aufgrund militärischer Interessen eine klare Motivation, die Atomindustrie weiter mit Milliardenbeträgen zu subventionieren<ref name="Atommuellreport_Taxonomie">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/eu-taxonomie-finanzspritze-fuer-die-desastroese-atompolitik-frankreichs.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Auch der Weiterbetrieb alter AKW ist kaum eine Hilfe in der Energiekrise: In der BRD kann Atomstrom nur einen winzigen Anteil der einzusparenden Gaskraftwerkskapazitäten ersetzen. Ein wesentlicher Teil von deren Produktion ist Heizwärme, die von den AKW nicht verfügbar ist. Diese könnten auch kaum zur Kostensenkung bei der Stromerzeugung beitragen. Absurderweise wird nunmehr für den deutschen AKW-Betrieb mit der französischen Atomstrommisere argumentiert, weil das hochgradig von AKW abhängige Land in diesem Jahr zeitweise mehr als die Hälfte seiner Anlagen wegen verschiedenster Probleme nicht nutzen konnte und fast jeden Tag auf Stromimporte aus der BRD in der Größenordnung der Kapazitäten vierer Großkraftwerke angewiesen war<ref name="Atommuellreport_Taxonomie" /><ref name="AtommuellreportLauftzeitverlaengerung">https://atommuellreport.de/themen/detail/laufzeitverlaengerung-sinnlos-gefaehrlich-und-teuer.html - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="FranzoesischeEnergiekrise">https://web.de/magazine/politik/auswirkungen-franzoesische-energiekrise-deutschland-37340700 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Die Auseinandersetzungen um die Zukunft der Atomkraftnutzung in Europa spiegelten sich in den letzten Jahren in den Kämpfen um die Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie wider. Verschiedene EU- und nationale Organisationen ebenso wie Expert*innengruppen veröffentlichten Analysen zu diesem Vorhaben. Die meisten kamen zu dem Schluss, dass es keinesfalls zulässig wäre, Atomkraft als nachhaltige Energiequelle zu behandeln. Trotzdem behauptete das ''Joint Research Centre'', das an mehreren Atomprojekten beteiligt ist, Atomkraft sei nicht schädlicher als andere bereits als nachhaltig eingestufte Energieträger. Viele Länder übten Druck auf die Europäische Kommission sowohl für als auch gegen die Aufnahme der Atomenergie in die EU-Taxonomie aus (Pistner/Englert 2021; Schneider et al. 2021: 38–41). Nach mehrfachen Verzögerungen verkündete die Kommission im Februar 2022, Atomkraft solle zukünftig als nachhaltige Energiequelle gelten. Im Juli stimmte auch das EU-Parlament knapp der Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie zu. Inzwischen haben mehrere EU-Staaten und Organisationen Klagen vor dem EU-Gerichtshof dagegen eingereicht <ref name"NAU_Taxonomie">https://www.nau.ch/ort/basel/klage-gegen-grunes-eu-label-fur-atomenergie-eingereicht-66291417 - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Taxonomie">https://www.ausgestrahlt.de/themen/europa-und-atom/eu-taxonomie/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_YelloDeal">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/01/05/eu-taxonomie-analysiert-yellow-deal-statt-klimaschutz/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="dont-nuke-taxonomy">https://dont-nuke-the-taxonomy.eu/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref><ref name="Stern_Taxonomie">https://www.stern.de/news/oesterreich-klagt-wegen-einstufung-von-atomkraft-als-nachhaltig-vor-eugh-32794520.html - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Krone_Taxonomie">https://www.kronehit.at/news/gruenes-label-fuer-atomkraft-2/ - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Tagesschau_Klagen">https://www.tagesschau.de/ausland/oesterreich-klage-taxonomie-atomkraft-101.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref><ref name="Oekonews_Greenpeace">https://www.oekonews.at/?mdoc_id=1175330 - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="heise_Klagen">https://www.heise.de/tp/features/Umweltschuetzer-planen-Gemeinschaftsklage-gegen-EU-Taxonomie-7269696.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Auch in den Vereinigten Staaten konnte ein Rückgang der Nutzung der Atomenergie in den vergangenen Jahren festgestellt werden. 2021 wurden zwei Reaktoren stillgelegt, einer in Iowa (Duane Arnold-1) und ein weiterer im Bundesstaat New York (Indian Point-2). Fast alle Atomreaktoren in den USA haben inzwischen ein Alter zwischen 31 und 40 Jahren (46 Reaktoren) oder 41 und 50 Jahren (41 Reaktoren) erreicht, während lediglich einer jünger als 10 Jahre ist. Die übliche erlaubte Betriebszeit eines Atomkraftwerks liegt bei Inbetriebnahme in den USA bei 40 Jahren. Diese wurde für 85 der derzeit betriebenen Anlagen bereits um 20 Jahre verlängert. Eine NRC<ref>NRC: Nuclear Regulatory Commission; eine für die Atomsicherheit zuständige US-Bundesbehörde</ref>-Richtlinie aus dem Jahr 2017 ermöglicht eine weitere Laufzeitverlängerung um zusätzliche 20 Jahre, so dass Reaktoren bis zu 80 Jahre in Betrieb bleiben könnten. 6 Anlagen erhielten eine entsprechende Genehmigung bereits (Schneider et al. 2021: 147, 149–150).<br />
<br />
Die Biden-Regierung will die Treibhausgasemissionen der USA durch die Unterstützung der Atomkraft reduzieren, insbesondere mithilfe des ''Zero-emission Nuclear Power Production Credit Act'', der dem Kongress im Juni 2021 vorgelegt wurde. Dies könnte zu einer Steuergutschrift in Höhe von 15 Dollar/MWh führen, die helfen könnte, abgewrackte Atomkraftwerke vor der Stilllegung zu bewahren (WNISR 2021: 148). Zwei Reaktoren befinden sich in den Vereinigten Staaten immer noch im Bau und leiden unter mehr als vervierfachten Herstellungskosten: die Reaktoren 3 und 4 des AKW Vogtle im Bundesstaat Georgia (WNISR 2021: 147, 155 f.). Zusammengefasst befindet sich die US-amerikanische Atomenergienutzung also in einem Prozess der Schrumpfung, weil Reaktoren stillgelegt werden mussten; andererseits versucht die Biden-Regierung, diesen zu stoppen, indem sie neue Maßnahmen und finanzielle Unterstützung bereitstellt (Congress 2021; Schneider et al. 2021: 147–148, 155–161).<br />
<br />
=== Fazit ===<br />
Es können eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den Energiepolitiken der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika festgestellt werden: Beide wollen ihre Energiesysteme transformieren, um Treibhausgase in Richtung null zu reduzieren. Beide sind gegenwärtig stark von fossilen Energieträgern abhängig und beide betreiben die gewaltigsten atomaren Reaktorflotten der Welt, erfahren aber eine kontinuierliche Schrumpfung der Atomindustrie. Unterschiede können einerseits hinsichtlich der Konkretheit und Ambitionen in der Klimapolitik gesehen werden<ref>Siehe dazu den Originalartikel, auf dem dieser atomkraftbezogene Auszug basiert und den der Autor im Originalbeitrag verantwortet hat: https://medium.com/unceurope/energy-transformation-nuclear-and-fossil-phase-out-policies-in-eu-and-us-be5c02e2d566</ref>, in der die Europäische Union im Augenblick größere Ziele angehen will. Der Hauptunterschied zwischen den Herangehensweisen in der Atompolitik in der EU und den USA besteht darin, dass die Europäische Union große Uneinigkeit in Hinblick auf die Zukunft der Atomtechnologie aufweist, während in den Vereinigten Staaten für diese Industrie weit mehr möglich ist, da Atomausstiegspolitiken wie in einigen EU-Staaten fehlen. Dementsprechend werden Stilllegungen von Reaktoren in den USA normalerweise durch deren Unwirtschaftlichkeit verursacht, manchmal in Verbindung mit den Auswirkungen von Protesten. In der EU sind die Atompolitiken der Mitgliedsstaaten ziemlich entgegengesetzt, aber solange keine massive staatliche Subventionierung der Atomenergie bereitgestellt wird, wird ihre Verwendung insgesamt - gleichfalls aus wirtschaftlichen Gründen - zurückgehen. Dieser Prozess wird in einigen Ländern abgekürzt durch explizite Ausstiegspolitiken.<br />
<br />
=== Diskurs um Laufzeitverlängerungen in der BRD ===<br />
Direkt am Tag des Beginns der russischen Invasion in der Ukraine forderte der CDU-Politiker Günther Oettinger eine Laufzeitverlängerung für die noch in Betrieb befindlichen deutschen AKW. Er behauptete, durch deren Weiterbetrieb ließe sich die Abhängigkeit von russischen Gasimporten limitieren.<ref name="StN_Oettinger">https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.abhaengigkeit-von-russischem-gas-oettinger-will-kernkraftwerke-laenger-am-netz-lassen.e2617c40-b4c0-43dd-8457-bdb63e503221.html - gesichtet 22. Oktober 2022</ref> Argumentiert wird, auch von anderen konservativen und liberalen Politiker*innen sowie ideologisch nahestehende Wirtschaftswissenschaftler*innen, vor allem mit einer Verringerung der Rohstoffabhängigkeit von Russland - gemeint ist die Substitution von Erdgas durch Uran in der Energieversorgung<ref name="ausgestrahlt_Versorgungssicherheit">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/02/versorgungssicherheit-kriegszeiten-besser-ohne-atomkraft/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
<br />
=== Literatur ===<br />
* .ausgestrahlt (2019): „Atomkraft auf der Kippe“. .ausgestrahlt-Magazin. Hamburg S. 1–24.<br />
* Congress (2021): „H.R.4024 - Zero-Emission Nuclear Power Production Credit Act of 2021“. congress.gov. U.S. Congress.<br />
* EIA (2021): „Consumption and production“. Energy Information Administration. U.S. Energy Information Administration Abgerufen am 26.11.2021 von https://www.eia.gov/energyexplained/us-energy-facts/.<br />
* eurostat (2021a): „Energy Statistics - an overview“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 26.11.2021 von https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Energy_statistics_-_an_overview#Final_energy_consumption.<br />
* eurostat (2021b): „Nuclear energy statistics“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 25.11.2021 von http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Nuclear_energy_statistics.<br />
* Neubauer, Lundquist (2008): „Erster EPR in Frankreich wird um ein Fünftel teurer als geplant“. Verivox Abgerufen am 25.11.2021 von https://www.verivox.de/strom/nachrichten/erster-epr-in-frankreich-wird-um-ein-fuenftel-teurer-als-geplant-38450/.<br />
* Pistner, Christoph; Englert, Matthias (2021): Nuclear Power and the „do no significant harm“ criteria of the EU Taxonomy. ( Nr. 4/2021) (Oeko-Institut Working Paper).<br />
* Schneider, Mycle; Froggatt, Antony; Hazemann, Julie; u. a. (2021): The World Nuclear Industry Status Report 2021. Paris.<br />
<br />
<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atom(ausstiegs)politiken_in_EU_und_USA&diff=218542022-01:Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA2022-10-23T10:13:34Z<p>WikiSysop: </p>
<hr />
<div>== Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA ==<br />
'''fb''' Zum Stichtag 1. Juli 2021 stellte die Europäische Union mit 106 in Betrieb befindlichen Reaktoren die weltgrößte Flotte installierter Atomkraftwerksleistung bereit, nur knapp gefolgt von den USA mit 93 Reaktoren. Auf der Ebene der Staaten standen die USA auf Rangplatz 1, gefolgt von Frankreich mit 56 Reaktoren und China mit 53 Reaktoren. Der Anteil von Atomenergie am Strommix machte in den USA 19,7%, in der EU 24,8% aus. 2020 wurde in der Europäischen Union von Regenerativen Energien (ohne Berücksichtigung der Wasserkraft) zum ersten Mal mehr Elektrizität erzeugt als durch Kernspaltung. Atomkraft ist offenbar sowohl in der EU als auch in den USA eine bedeutende Energiequelle (Schneider et al. 2021: 302, 354, 394).<br />
<br />
Den entscheidenden Anteil am Primärenergieverbrauch (also nicht nur Strom) bilden jedoch in beiden Regionen fossile Energieträger. Diese dominieren den Bruttoinlandsenergieverbrauch mit 69,3% in der EU (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2019), während sie in den USA (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2020) sogar 79% ausmachten (EIA 2021; eurostat 2021a).<br />
<br />
=== Status und Perspektiven der Atomkraftnutzung ===<br />
In der Europäischen Union ist die Atomkraft hochgradig umstritten: 13 Mitgliedsstaaten betreiben Atomkraftwerke (AKW), von denen vier einen Atomausstieg beschlossen haben (Belgien, BRD, Spanien, Schweden); 14 Mitgliedsstaaten besitzen keine in Betrieb befindlichen Atomreaktoren, von denen einer (Polen) derzeit versucht ein umfangreiches Atomprogramm umzusetzen (.ausgestrahlt 2019: 24; eurostat 2021b). Drei Reaktoren wurden 2020 stillgelegt (Fessenheim-1+2, Ringhals-1), während sich vier solche im Bau befanden (Olkiluoto-3, Flamanville-3, Mochovce-3+4) – allerdings mit massiven Verspätungen von einem Jahrzehnt und länger sowie mit Kostenexplosionen bis zum 6fachen der ursprünglichen Kalkulationen (Neubauer 2008; Schneider et al. 2021: 75, 77–80, 84, 93, 355). Viele EU-Staaten werden letztlich das Kapitel der Atomstromproduktion aufgrund der zunehmenden Überalterung der Reaktorflotte (durchschnittlich 35,9 Jahre in der EU) und der wirtschaftlichen Unrentabilität neuer Atomkraftwerke in den nächsten Jahrzehnten schließen (Schneider u. a. 2021: 354 ff.).<br />
<br />
Unklar ist bei dieser Einschätzung, die auf der Situation vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine basiert, die Auswirkungen der aktuellen Energiekrise. Diese hat zwar verdeutlicht, wie katastrophal auch in Hinsicht auf die Energieversorgungssicherheit der immer noch hohe Anteil fossiler Energieträger bei der Stromerzeugung ist, allerdings auch Kurzschlussreaktionen und aggressiven pro- nuklearen Lobbyismus verursacht. Derzeit diskutieren verschiedene europäische Regierungen über Laufzeitverlängerungen für von Stilllegungen betroffene alte AKW (Belgien<ref name="jungeWelt_Belgien">https://www.jungewelt.de/artikel/435405.nuklearenergie-aus-f%C3%BCr-schrottmeiler.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref>, BRD), die Aufgabe des Atomausstiegs oder den Neubau von Reaktoren (Bulgarien<ref name="Euraktiv_Bulgarien">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/bulgarien-will-den-bau-eines-neuen-atomreaktors-vorantreiben/ -gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Frankreich<ref name="FrankreichAtomkraft">https://de.investing.com/analysis/frankreich-vereinfacht-bau-von-atomkraftwerken-200476765 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_Frankreich">https://www.euractiv.de/section/energie/news/atomkraft-renaissance-in-frankreich-wirkt-gesetzt-aber-edf-wankt/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Niederlande<ref name="Euraktiv_Niederlande">https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/erstes-kraftwerk-seit-50-jahren-niederlande-kehren-zum-atomstrom-zurueck/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Tschechien<ref name="TschechienSMR">https://www.meinbezirk.at/gmuend/c-lokales/tschechien-baut-neues-mini-atomkraftwerk-in-grenznaehe_a5621755 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Blackout_Temelin">https://blackout-news.de/aktuelles/erstes-europaeisches-mini-akw-wird-in-suedboehmen-gebaut/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_SMR">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/osteuropaeische-laender-wollen-modulare-atomreaktoren-aus-den-usa/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>). Dabei ist die Abhängigkeit von russischen Energiequellen auch in der europäischen Atomindustrie groß: Russland ist der größte Uranexporteur in die EU<ref>Diese russische Uranabhängigkeit betrifft auch die deutsche Atomindustrie: Beispielsweise bezog der Betreiber PreussenElektra u.a. für das nun von einer Laufzeitverlängerung betroffene AKW Isar/Ohu seit Jahren vor allem Brennstoff aus Russland und Kasachstan. Vgl. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/10/russische-atom-diplomatie-gef%C3%A4hrdet-sicherheit-europas/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref> und mindestens 18 Reaktoren in fünf Mitgliedsstaaten sind auf dessen Brennelemente angewiesen<ref name="AtommuellreportRussland">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/die-bedeutung-der-russischen-atomindustrie-fuer-europa.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Russland">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/10/russische-atom-diplomatie-gef%C3%A4hrdet-sicherheit-europas/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Der Neubau von Atomanlagen ist weiterhin mit großen zeitlichen (Bauzeitüberziehungen) und finanziellen (Preissteigerungen) Problemen konfrontiert und daher unter rationalen Gesichtspunkten keine Option. Infolge der Invasion in der Ukraine ist im Mai nun auch das russische AKW-Neubauprojekt Hanhikivi in Pyhäjoki im Norden Finnlands gescheitert<ref name="Euractiv_Hanhikivi">https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/finnisches-unternehmen-kuendigt-rosatom-vertrag-ueber-kernkraftwerkslieferung/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, für das bereits Naturschutzgebiete verwüstet worden waren<ref name="grbl_Pyhaejoki">https://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2016-01:Mit_Taser_und_Tr%C3%A4nengas_f%C3%BCr_das_finnisch-russische_AKW - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>. Nur Atombombenstaaten haben aufgrund militärischer Interessen eine klare Motivation, die Atomindustrie weiter mit Milliardenbeträgen zu subventionieren<ref name="Atommuellreport_Taxonomie">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/eu-taxonomie-finanzspritze-fuer-die-desastroese-atompolitik-frankreichs.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Auch der Weiterbetrieb alter AKW ist kaum eine Hilfe in der Energiekrise: In der BRD kann Atomstrom nur einen winzigen Anteil der einzusparenden Gaskraftwerkskapazitäten ersetzen. Ein wesentlicher Teil von deren Produktion ist Heizwärme, die von den AKW nicht verfügbar ist. Diese könnten auch kaum zur Kostensenkung bei der Stromerzeugung beitragen. Absurderweise wird nunmehr für den deutschen AKW-Betrieb mit der französischen Atomstrommisere argumentiert, weil das hochgradig von AKW abhängige Land in diesem Jahr zeitweise mehr als die Hälfte seiner Anlagen wegen verschiedenster Probleme nicht nutzen konnte und fast jeden Tag auf Stromimporte aus der BRD in der Größenordnung der Kapazitäten vierer Großkraftwerke angewiesen war<ref name="Atommuellreport_Taxonomie" /><ref name="AtommuellreportLauftzeitverlaengerung">https://atommuellreport.de/themen/detail/laufzeitverlaengerung-sinnlos-gefaehrlich-und-teuer.html - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="FranzoesischeEnergiekrise">https://web.de/magazine/politik/auswirkungen-franzoesische-energiekrise-deutschland-37340700 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Die Auseinandersetzungen um die Zukunft der Atomkraftnutzung in Europa spiegelten sich in den letzten Jahren in den Kämpfen um die Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie wider. Verschiedene EU- und nationale Organisationen ebenso wie Expert*innengruppen veröffentlichten Analysen zu diesem Vorhaben. Die meisten kamen zu dem Schluss, dass es keinesfalls zulässig wäre, Atomkraft als nachhaltige Energiequelle zu behandeln. Trotzdem behauptete das ''Joint Research Centre'', das an mehreren Atomprojekten beteiligt ist, Atomkraft sei nicht schädlicher als andere bereits als nachhaltig eingestufte Energieträger. Viele Länder übten Druck auf die Europäische Kommission sowohl für als auch gegen die Aufnahme der Atomenergie in die EU-Taxonomie aus (Pistner/Englert 2021; Schneider et al. 2021: 38–41). Nach mehrfachen Verzögerungen verkündete die Kommission im Februar 2022, Atomkraft solle zukünftig als nachhaltige Energiequelle gelten. Im Juli stimmte auch das EU-Parlament knapp der Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie zu. Inzwischen haben mehrere EU-Staaten und Organisationen Klagen vor dem EU-Gerichtshof dagegen eingereicht <ref name"NAU_Taxonomie">https://www.nau.ch/ort/basel/klage-gegen-grunes-eu-label-fur-atomenergie-eingereicht-66291417 - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Taxonomie">https://www.ausgestrahlt.de/themen/europa-und-atom/eu-taxonomie/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_YelloDeal">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/01/05/eu-taxonomie-analysiert-yellow-deal-statt-klimaschutz/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="dont-nuke-taxonomy">https://dont-nuke-the-taxonomy.eu/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref><ref name="Stern_Taxonomie">https://www.stern.de/news/oesterreich-klagt-wegen-einstufung-von-atomkraft-als-nachhaltig-vor-eugh-32794520.html - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Krone_Taxonomie">https://www.kronehit.at/news/gruenes-label-fuer-atomkraft-2/ - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Tagesschau_Klagen">https://www.tagesschau.de/ausland/oesterreich-klage-taxonomie-atomkraft-101.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref><ref name="Oekonews_Greenpeace">https://www.oekonews.at/?mdoc_id=1175330 - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="heise_Klagen">https://www.heise.de/tp/features/Umweltschuetzer-planen-Gemeinschaftsklage-gegen-EU-Taxonomie-7269696.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Auch in den Vereinigten Staaten konnte ein Rückgang der Nutzung der Atomenergie in den vergangenen Jahren festgestellt werden. 2021 wurden zwei Reaktoren stillgelegt, einer in Iowa (Duane Arnold-1) und ein weiterer im Bundesstaat New York (Indian Point-2). Fast alle Atomreaktoren in den USA haben inzwischen ein Alter zwischen 31 und 40 Jahren (46 Reaktoren) oder 41 und 50 Jahren (41 Reaktoren) erreicht, während lediglich einer jünger als 10 Jahre ist. Die übliche erlaubte Betriebszeit eines Atomkraftwerks liegt bei Inbetriebnahme in den USA bei 40 Jahren. Diese wurde für 85 der derzeit betriebenen Anlagen bereits um 20 Jahre verlängert. Eine NRC<ref>NRC: Nuclear Regulatory Commission; eine für die Atomsicherheit zuständige US-Bundesbehörde</ref>-Richtlinie aus dem Jahr 2017 ermöglicht eine weitere Laufzeitverlängerung um zusätzliche 20 Jahre, so dass Reaktoren bis zu 80 Jahre in Betrieb bleiben könnten. 6 Anlagen erhielten eine entsprechende Genehmigung bereits (Schneider et al. 2021: 147, 149–150).<br />
<br />
Die Biden-Regierung will die Treibhausgasemissionen der USA durch die Unterstützung der Atomkraft reduzieren, insbesondere mithilfe des ''Zero-emission Nuclear Power Production Credit Act'', der dem Kongress im Juni 2021 vorgelegt wurde. Dies könnte zu einer Steuergutschrift in Höhe von 15 Dollar/MWh führen, die helfen könnte, abgewrackte Atomkraftwerke vor der Stilllegung zu bewahren (WNISR 2021: 148). Zwei Reaktoren befinden sich in den Vereinigten Staaten immer noch im Bau und leiden unter mehr als vervierfachten Herstellungskosten: die Reaktoren 3 und 4 des AKW Vogtle im Bundesstaat Georgia (WNISR 2021: 147, 155 f.). Zusammengefasst befindet sich die US-amerikanische Atomenergienutzung also in einem Prozess der Schrumpfung, weil Reaktoren stillgelegt werden mussten; andererseits versucht die Biden-Regierung, diesen zu stoppen, indem sie neue Maßnahmen und finanzielle Unterstützung bereitstellt (Congress 2021; Schneider et al. 2021: 147–148, 155–161).<br />
<br />
=== Fazit ===<br />
Es können eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den Energiepolitiken der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika festgestellt werden: Beide wollen ihre Energiesysteme transformieren, um Treibhausgase in Richtung null zu reduzieren. Beide sind gegenwärtig stark von fossilen Energieträgern abhängig und beide betreiben die gewaltigsten atomaren Reaktorflotten der Welt, erfahren aber eine kontinuierliche Schrumpfung der Atomindustrie. Unterschiede können einerseits hinsichtlich der Konkretheit und Ambitionen in der Klimapolitik gesehen werden<ref>Siehe dazu den Originalartikel, auf dem dieser atomkraftbezogene Auszug basiert und den der Autor im Originalbeitrag verantwortet hat: https://medium.com/unceurope/energy-transformation-nuclear-and-fossil-phase-out-policies-in-eu-and-us-be5c02e2d566</ref>, in der die Europäische Union im Augenblick größere Ziele angehen will. Der Hauptunterschied zwischen den Herangehensweisen in der Atompolitik in der EU und den USA besteht darin, dass die Europäische Union große Uneinigkeit in Hinblick auf die Zukunft der Atomtechnologie aufweist, während in den Vereinigten Staaten für diese Industrie weit mehr möglich ist, da Atomausstiegspolitiken wie in einigen EU-Staaten fehlen. Dementsprechend werden Stilllegungen von Reaktoren in den USA normalerweise durch deren Unwirtschaftlichkeit verursacht, manchmal in Verbindung mit den Auswirkungen von Protesten. In der EU sind die Atompolitiken der Mitgliedsstaaten ziemlich entgegengesetzt, aber solange keine massive staatliche Subventionierung der Atomenergie bereitgestellt wird, wird ihre Verwendung insgesamt - gleichfalls aus wirtschaftlichen Gründen - zurückgehen. Dieser Prozess wird in einigen Ländern abgekürzt durch explizite Ausstiegspolitiken.<br />
<br />
=== Diskurs um Laufzeitverlängerungen in der BRD ===<br />
Direkt am Tag des Beginns der russischen Invasion in der Ukraine forderte der CDU-Politiker Günther Oettinger eine Laufzeitverlängerung für die noch in Betrieb befindlichen deutschen AKW. Er behauptete, durch deren Weiterbetrieb ließe sich die Abhängigkeit von russischen Gasimporten limitieren.<ref name="StN_Oettinger">https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.abhaengigkeit-von-russischem-gas-oettinger-will-kernkraftwerke-laenger-am-netz-lassen.e2617c40-b4c0-43dd-8457-bdb63e503221.html - gesichtet 22. Oktober 2022</ref><br />
<br />
<br />
=== Literatur ===<br />
* .ausgestrahlt (2019): „Atomkraft auf der Kippe“. .ausgestrahlt-Magazin. Hamburg S. 1–24.<br />
* Congress (2021): „H.R.4024 - Zero-Emission Nuclear Power Production Credit Act of 2021“. congress.gov. U.S. Congress.<br />
* EIA (2021): „Consumption and production“. Energy Information Administration. U.S. Energy Information Administration Abgerufen am 26.11.2021 von https://www.eia.gov/energyexplained/us-energy-facts/.<br />
* eurostat (2021a): „Energy Statistics - an overview“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 26.11.2021 von https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Energy_statistics_-_an_overview#Final_energy_consumption.<br />
* eurostat (2021b): „Nuclear energy statistics“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 25.11.2021 von http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Nuclear_energy_statistics.<br />
* Neubauer, Lundquist (2008): „Erster EPR in Frankreich wird um ein Fünftel teurer als geplant“. Verivox Abgerufen am 25.11.2021 von https://www.verivox.de/strom/nachrichten/erster-epr-in-frankreich-wird-um-ein-fuenftel-teurer-als-geplant-38450/.<br />
* Pistner, Christoph; Englert, Matthias (2021): Nuclear Power and the „do no significant harm“ criteria of the EU Taxonomy. ( Nr. 4/2021) (Oeko-Institut Working Paper).<br />
* Schneider, Mycle; Froggatt, Antony; Hazemann, Julie; u. a. (2021): The World Nuclear Industry Status Report 2021. Paris.<br />
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<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atom(ausstiegs)politiken_in_EU_und_USA&diff=218532022-01:Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA2022-10-23T10:12:17Z<p>WikiSysop: Uranabhängigkeit BRD</p>
<hr />
<div>== Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA ==<br />
'''fb''' Zum Stichtag 1. Juli 2021 stellte die Europäische Union mit 106 in Betrieb befindlichen Reaktoren die weltgrößte Flotte installierter Atomkraftwerksleistung bereit, nur knapp gefolgt von den USA mit 93 Reaktoren. Auf der Ebene der Staaten standen die USA auf Rangplatz 1, gefolgt von Frankreich mit 56 Reaktoren und China mit 53 Reaktoren. Der Anteil von Atomenergie am Strommix machte in den USA 19,7%, in der EU 24,8% aus. 2020 wurde in der Europäischen Union von Regenerativen Energien (ohne Berücksichtigung der Wasserkraft) zum ersten Mal mehr Elektrizität erzeugt als durch Kernspaltung. Atomkraft ist offenbar sowohl in der EU als auch in den USA eine bedeutende Energiequelle (Schneider et al. 2021: 302, 354, 394).<br />
<br />
Den entscheidenden Anteil am Primärenergieverbrauch (also nicht nur Strom) bilden jedoch in beiden Regionen fossile Energieträger. Diese dominieren den Bruttoinlandsenergieverbrauch mit 69,3% in der EU (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2019), während sie in den USA (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2020) sogar 79% ausmachten (EIA 2021; eurostat 2021a).<br />
<br />
=== Status und Perspektiven der Atomkraftnutzung ===<br />
In der Europäischen Union ist die Atomkraft hochgradig umstritten: 13 Mitgliedsstaaten betreiben Atomkraftwerke (AKW), von denen vier einen Atomausstieg beschlossen haben (Belgien, BRD, Spanien, Schweden); 14 Mitgliedsstaaten besitzen keine in Betrieb befindlichen Atomreaktoren, von denen einer (Polen) derzeit versucht ein umfangreiches Atomprogramm umzusetzen (.ausgestrahlt 2019: 24; eurostat 2021b). Drei Reaktoren wurden 2020 stillgelegt (Fessenheim-1+2, Ringhals-1), während sich vier solche im Bau befanden (Olkiluoto-3, Flamanville-3, Mochovce-3+4) – allerdings mit massiven Verspätungen von einem Jahrzehnt und länger sowie mit Kostenexplosionen bis zum 6fachen der ursprünglichen Kalkulationen (Neubauer 2008; Schneider et al. 2021: 75, 77–80, 84, 93, 355). Viele EU-Staaten werden letztlich das Kapitel der Atomstromproduktion aufgrund der zunehmenden Überalterung der Reaktorflotte (durchschnittlich 35,9 Jahre in der EU) und der wirtschaftlichen Unrentabilität neuer Atomkraftwerke in den nächsten Jahrzehnten schließen (Schneider u. a. 2021: 354 ff.).<br />
<br />
Unklar ist bei dieser Einschätzung, die auf der Situation vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine basiert, die Auswirkungen der aktuellen Energiekrise. Diese hat zwar verdeutlicht, wie katastrophal auch in Hinsicht auf die Energieversorgungssicherheit der immer noch hohe Anteil fossiler Energieträger bei der Stromerzeugung ist, allerdings auch Kurzschlussreaktionen und aggressiven pro- nuklearen Lobbyismus verursacht. Derzeit diskutieren verschiedene europäische Regierungen über Laufzeitverlängerungen für von Stilllegungen betroffene alte AKW (Belgien<ref name="jungeWelt_Belgien">https://www.jungewelt.de/artikel/435405.nuklearenergie-aus-f%C3%BCr-schrottmeiler.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref>, BRD), die Aufgabe des Atomausstiegs oder den Neubau von Reaktoren (Bulgarien<ref name="Euraktiv_Bulgarien">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/bulgarien-will-den-bau-eines-neuen-atomreaktors-vorantreiben/ -gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Frankreich<ref name="FrankreichAtomkraft">https://de.investing.com/analysis/frankreich-vereinfacht-bau-von-atomkraftwerken-200476765 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_Frankreich">https://www.euractiv.de/section/energie/news/atomkraft-renaissance-in-frankreich-wirkt-gesetzt-aber-edf-wankt/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Niederlande<ref name="Euraktiv_Niederlande">https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/erstes-kraftwerk-seit-50-jahren-niederlande-kehren-zum-atomstrom-zurueck/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Tschechien<ref name="TschechienSMR">https://www.meinbezirk.at/gmuend/c-lokales/tschechien-baut-neues-mini-atomkraftwerk-in-grenznaehe_a5621755 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Blackout_Temelin">https://blackout-news.de/aktuelles/erstes-europaeisches-mini-akw-wird-in-suedboehmen-gebaut/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_SMR">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/osteuropaeische-laender-wollen-modulare-atomreaktoren-aus-den-usa/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>). Dabei ist die Abhängigkeit von russischen Energiequellen auch in der europäischen Atomindustrie groß: Russland ist der größte Uranexporteur in die EU<ref>Diese russische Uranabhängigkeit betrifft auch die deutsche Atomindustrie: Beispielsweise bezog der Betreiber PreussenElektra u.a. für das nun von einer Laufzeitverlängerung betroffene AKW Isar seit Jahren vor allem Brennstoff aus Russland und Kasachstan. Vgl. https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/10/russische-atom-diplomatie-gef%C3%A4hrdet-sicherheit-europas/ - gesichtet 23. Oktober 2022</ref> und mindestens 18 Reaktoren in fünf Mitgliedsstaaten sind auf dessen Brennelemente angewiesen<ref name="AtommuellreportRussland">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/die-bedeutung-der-russischen-atomindustrie-fuer-europa.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Russland">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/10/russische-atom-diplomatie-gef%C3%A4hrdet-sicherheit-europas/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Der Neubau von Atomanlagen ist weiterhin mit großen zeitlichen (Bauzeitüberziehungen) und finanziellen (Preissteigerungen) Problemen konfrontiert und daher unter rationalen Gesichtspunkten keine Option. Infolge der Invasion in der Ukraine ist im Mai nun auch das russische AKW-Neubauprojekt Hanhikivi in Pyhäjoki im Norden Finnlands gescheitert<ref name="Euractiv_Hanhikivi">https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/finnisches-unternehmen-kuendigt-rosatom-vertrag-ueber-kernkraftwerkslieferung/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, für das bereits Naturschutzgebiete verwüstet worden waren<ref name="grbl_Pyhaejoki">https://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2016-01:Mit_Taser_und_Tr%C3%A4nengas_f%C3%BCr_das_finnisch-russische_AKW - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>. Nur Atombombenstaaten haben aufgrund militärischer Interessen eine klare Motivation, die Atomindustrie weiter mit Milliardenbeträgen zu subventionieren<ref name="Atommuellreport_Taxonomie">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/eu-taxonomie-finanzspritze-fuer-die-desastroese-atompolitik-frankreichs.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Auch der Weiterbetrieb alter AKW ist kaum eine Hilfe in der Energiekrise: In der BRD kann Atomstrom nur einen winzigen Anteil der einzusparenden Gaskraftwerkskapazitäten ersetzen. Ein wesentlicher Teil von deren Produktion ist Heizwärme, die von den AKW nicht verfügbar ist. Diese könnten auch kaum zur Kostensenkung bei der Stromerzeugung beitragen. Absurderweise wird nunmehr für den deutschen AKW-Betrieb mit der französischen Atomstrommisere argumentiert, weil das hochgradig von AKW abhängige Land in diesem Jahr zeitweise mehr als die Hälfte seiner Anlagen wegen verschiedenster Probleme nicht nutzen konnte und fast jeden Tag auf Stromimporte aus der BRD in der Größenordnung der Kapazitäten vierer Großkraftwerke angewiesen war<ref name="Atommuellreport_Taxonomie" /><ref name="AtommuellreportLauftzeitverlaengerung">https://atommuellreport.de/themen/detail/laufzeitverlaengerung-sinnlos-gefaehrlich-und-teuer.html - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="FranzoesischeEnergiekrise">https://web.de/magazine/politik/auswirkungen-franzoesische-energiekrise-deutschland-37340700 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Die Auseinandersetzungen um die Zukunft der Atomkraftnutzung in Europa spiegelten sich in den letzten Jahren in den Kämpfen um die Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie wider. Verschiedene EU- und nationale Organisationen ebenso wie Expert*innengruppen veröffentlichten Analysen zu diesem Vorhaben. Die meisten kamen zu dem Schluss, dass es keinesfalls zulässig wäre, Atomkraft als nachhaltige Energiequelle zu behandeln. Trotzdem behauptete das ''Joint Research Centre'', das an mehreren Atomprojekten beteiligt ist, Atomkraft sei nicht schädlicher als andere bereits als nachhaltig eingestufte Energieträger. Viele Länder übten Druck auf die Europäische Kommission sowohl für als auch gegen die Aufnahme der Atomenergie in die EU-Taxonomie aus (Pistner/Englert 2021; Schneider et al. 2021: 38–41). Nach mehrfachen Verzögerungen verkündete die Kommission im Februar 2022, Atomkraft solle zukünftig als nachhaltige Energiequelle gelten. Im Juli stimmte auch das EU-Parlament knapp der Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie zu. Inzwischen haben mehrere EU-Staaten und Organisationen Klagen vor dem EU-Gerichtshof dagegen eingereicht <ref name"NAU_Taxonomie">https://www.nau.ch/ort/basel/klage-gegen-grunes-eu-label-fur-atomenergie-eingereicht-66291417 - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Taxonomie">https://www.ausgestrahlt.de/themen/europa-und-atom/eu-taxonomie/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_YelloDeal">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/01/05/eu-taxonomie-analysiert-yellow-deal-statt-klimaschutz/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="dont-nuke-taxonomy">https://dont-nuke-the-taxonomy.eu/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref><ref name="Stern_Taxonomie">https://www.stern.de/news/oesterreich-klagt-wegen-einstufung-von-atomkraft-als-nachhaltig-vor-eugh-32794520.html - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Krone_Taxonomie">https://www.kronehit.at/news/gruenes-label-fuer-atomkraft-2/ - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Tagesschau_Klagen">https://www.tagesschau.de/ausland/oesterreich-klage-taxonomie-atomkraft-101.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref><ref name="Oekonews_Greenpeace">https://www.oekonews.at/?mdoc_id=1175330 - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="heise_Klagen">https://www.heise.de/tp/features/Umweltschuetzer-planen-Gemeinschaftsklage-gegen-EU-Taxonomie-7269696.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Auch in den Vereinigten Staaten konnte ein Rückgang der Nutzung der Atomenergie in den vergangenen Jahren festgestellt werden. 2021 wurden zwei Reaktoren stillgelegt, einer in Iowa (Duane Arnold-1) und ein weiterer im Bundesstaat New York (Indian Point-2). Fast alle Atomreaktoren in den USA haben inzwischen ein Alter zwischen 31 und 40 Jahren (46 Reaktoren) oder 41 und 50 Jahren (41 Reaktoren) erreicht, während lediglich einer jünger als 10 Jahre ist. Die übliche erlaubte Betriebszeit eines Atomkraftwerks liegt bei Inbetriebnahme in den USA bei 40 Jahren. Diese wurde für 85 der derzeit betriebenen Anlagen bereits um 20 Jahre verlängert. Eine NRC<ref>NRC: Nuclear Regulatory Commission; eine für die Atomsicherheit zuständige US-Bundesbehörde</ref>-Richtlinie aus dem Jahr 2017 ermöglicht eine weitere Laufzeitverlängerung um zusätzliche 20 Jahre, so dass Reaktoren bis zu 80 Jahre in Betrieb bleiben könnten. 6 Anlagen erhielten eine entsprechende Genehmigung bereits (Schneider et al. 2021: 147, 149–150).<br />
<br />
Die Biden-Regierung will die Treibhausgasemissionen der USA durch die Unterstützung der Atomkraft reduzieren, insbesondere mithilfe des ''Zero-emission Nuclear Power Production Credit Act'', der dem Kongress im Juni 2021 vorgelegt wurde. Dies könnte zu einer Steuergutschrift in Höhe von 15 Dollar/MWh führen, die helfen könnte, abgewrackte Atomkraftwerke vor der Stilllegung zu bewahren (WNISR 2021: 148). Zwei Reaktoren befinden sich in den Vereinigten Staaten immer noch im Bau und leiden unter mehr als vervierfachten Herstellungskosten: die Reaktoren 3 und 4 des AKW Vogtle im Bundesstaat Georgia (WNISR 2021: 147, 155 f.). Zusammengefasst befindet sich die US-amerikanische Atomenergienutzung also in einem Prozess der Schrumpfung, weil Reaktoren stillgelegt werden mussten; andererseits versucht die Biden-Regierung, diesen zu stoppen, indem sie neue Maßnahmen und finanzielle Unterstützung bereitstellt (Congress 2021; Schneider et al. 2021: 147–148, 155–161).<br />
<br />
=== Fazit ===<br />
Es können eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den Energiepolitiken der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika festgestellt werden: Beide wollen ihre Energiesysteme transformieren, um Treibhausgase in Richtung null zu reduzieren. Beide sind gegenwärtig stark von fossilen Energieträgern abhängig und beide betreiben die gewaltigsten atomaren Reaktorflotten der Welt, erfahren aber eine kontinuierliche Schrumpfung der Atomindustrie. Unterschiede können einerseits hinsichtlich der Konkretheit und Ambitionen in der Klimapolitik gesehen werden<ref>Siehe dazu den Originalartikel, auf dem dieser atomkraftbezogene Auszug basiert und den der Autor im Originalbeitrag verantwortet hat: https://medium.com/unceurope/energy-transformation-nuclear-and-fossil-phase-out-policies-in-eu-and-us-be5c02e2d566</ref>, in der die Europäische Union im Augenblick größere Ziele angehen will. Der Hauptunterschied zwischen den Herangehensweisen in der Atompolitik in der EU und den USA besteht darin, dass die Europäische Union große Uneinigkeit in Hinblick auf die Zukunft der Atomtechnologie aufweist, während in den Vereinigten Staaten für diese Industrie weit mehr möglich ist, da Atomausstiegspolitiken wie in einigen EU-Staaten fehlen. Dementsprechend werden Stilllegungen von Reaktoren in den USA normalerweise durch deren Unwirtschaftlichkeit verursacht, manchmal in Verbindung mit den Auswirkungen von Protesten. In der EU sind die Atompolitiken der Mitgliedsstaaten ziemlich entgegengesetzt, aber solange keine massive staatliche Subventionierung der Atomenergie bereitgestellt wird, wird ihre Verwendung insgesamt - gleichfalls aus wirtschaftlichen Gründen - zurückgehen. Dieser Prozess wird in einigen Ländern abgekürzt durch explizite Ausstiegspolitiken.<br />
<br />
=== Diskurs um Laufzeitverlängerungen in der BRD ===<br />
Direkt am Tag des Beginns der russischen Invasion in der Ukraine forderte der CDU-Politiker Günther Oettinger eine Laufzeitverlängerung für die noch in Betrieb befindlichen deutschen AKW. Er behauptete, durch deren Weiterbetrieb ließe sich die Abhängigkeit von russischen Gasimporten limitieren.<ref name="StN_Oettinger">https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.abhaengigkeit-von-russischem-gas-oettinger-will-kernkraftwerke-laenger-am-netz-lassen.e2617c40-b4c0-43dd-8457-bdb63e503221.html - gesichtet 22. Oktober 2022</ref><br />
<br />
<br />
=== Literatur ===<br />
* .ausgestrahlt (2019): „Atomkraft auf der Kippe“. .ausgestrahlt-Magazin. Hamburg S. 1–24.<br />
* Congress (2021): „H.R.4024 - Zero-Emission Nuclear Power Production Credit Act of 2021“. congress.gov. U.S. Congress.<br />
* EIA (2021): „Consumption and production“. Energy Information Administration. U.S. Energy Information Administration Abgerufen am 26.11.2021 von https://www.eia.gov/energyexplained/us-energy-facts/.<br />
* eurostat (2021a): „Energy Statistics - an overview“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 26.11.2021 von https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Energy_statistics_-_an_overview#Final_energy_consumption.<br />
* eurostat (2021b): „Nuclear energy statistics“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 25.11.2021 von http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Nuclear_energy_statistics.<br />
* Neubauer, Lundquist (2008): „Erster EPR in Frankreich wird um ein Fünftel teurer als geplant“. Verivox Abgerufen am 25.11.2021 von https://www.verivox.de/strom/nachrichten/erster-epr-in-frankreich-wird-um-ein-fuenftel-teurer-als-geplant-38450/.<br />
* Pistner, Christoph; Englert, Matthias (2021): Nuclear Power and the „do no significant harm“ criteria of the EU Taxonomy. ( Nr. 4/2021) (Oeko-Institut Working Paper).<br />
* Schneider, Mycle; Froggatt, Antony; Hazemann, Julie; u. a. (2021): The World Nuclear Industry Status Report 2021. Paris.<br />
<br />
<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atom(ausstiegs)politiken_in_EU_und_USA&diff=218522022-01:Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA2022-10-22T11:47:56Z<p>WikiSysop: Diskurs um Laufzeitverlängerungen in der BRD</p>
<hr />
<div>== Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA ==<br />
'''fb''' Zum Stichtag 1. Juli 2021 stellte die Europäische Union mit 106 in Betrieb befindlichen Reaktoren die weltgrößte Flotte installierter Atomkraftwerksleistung bereit, nur knapp gefolgt von den USA mit 93 Reaktoren. Auf der Ebene der Staaten standen die USA auf Rangplatz 1, gefolgt von Frankreich mit 56 Reaktoren und China mit 53 Reaktoren. Der Anteil von Atomenergie am Strommix machte in den USA 19,7%, in der EU 24,8% aus. 2020 wurde in der Europäischen Union von Regenerativen Energien (ohne Berücksichtigung der Wasserkraft) zum ersten Mal mehr Elektrizität erzeugt als durch Kernspaltung. Atomkraft ist offenbar sowohl in der EU als auch in den USA eine bedeutende Energiequelle (Schneider et al. 2021: 302, 354, 394).<br />
<br />
Den entscheidenden Anteil am Primärenergieverbrauch (also nicht nur Strom) bilden jedoch in beiden Regionen fossile Energieträger. Diese dominieren den Bruttoinlandsenergieverbrauch mit 69,3% in der EU (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2019), während sie in den USA (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2020) sogar 79% ausmachten (EIA 2021; eurostat 2021a).<br />
<br />
=== Status und Perspektiven der Atomkraftnutzung ===<br />
In der Europäischen Union ist die Atomkraft hochgradig umstritten: 13 Mitgliedsstaaten betreiben Atomkraftwerke (AKW), von denen vier einen Atomausstieg beschlossen haben (Belgien, BRD, Spanien, Schweden); 14 Mitgliedsstaaten besitzen keine in Betrieb befindlichen Atomreaktoren, von denen einer (Polen) derzeit versucht ein umfangreiches Atomprogramm umzusetzen (.ausgestrahlt 2019: 24; eurostat 2021b). Drei Reaktoren wurden 2020 stillgelegt (Fessenheim-1+2, Ringhals-1), während sich vier solche im Bau befanden (Olkiluoto-3, Flamanville-3, Mochovce-3+4) – allerdings mit massiven Verspätungen von einem Jahrzehnt und länger sowie mit Kostenexplosionen bis zum 6fachen der ursprünglichen Kalkulationen (Neubauer 2008; Schneider et al. 2021: 75, 77–80, 84, 93, 355). Viele EU-Staaten werden letztlich das Kapitel der Atomstromproduktion aufgrund der zunehmenden Überalterung der Reaktorflotte (durchschnittlich 35,9 Jahre in der EU) und der wirtschaftlichen Unrentabilität neuer Atomkraftwerke in den nächsten Jahrzehnten schließen (Schneider u. a. 2021: 354 ff.).<br />
<br />
Unklar ist bei dieser Einschätzung, die auf der Situation vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine basiert, die Auswirkungen der aktuellen Energiekrise. Diese hat zwar verdeutlicht, wie katastrophal auch in Hinsicht auf die Energieversorgungssicherheit der immer noch hohe Anteil fossiler Energieträger bei der Stromerzeugung ist, allerdings auch Kurzschlussreaktionen und aggressiven pro- nuklearen Lobbyismus verursacht. Derzeit diskutieren verschiedene europäische Regierungen über Laufzeitverlängerungen für von Stilllegungen betroffene alte AKW (Belgien<ref name="jungeWelt_Belgien">https://www.jungewelt.de/artikel/435405.nuklearenergie-aus-f%C3%BCr-schrottmeiler.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref>, BRD), die Aufgabe des Atomausstiegs oder den Neubau von Reaktoren (Bulgarien<ref name="Euraktiv_Bulgarien">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/bulgarien-will-den-bau-eines-neuen-atomreaktors-vorantreiben/ -gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Frankreich<ref name="FrankreichAtomkraft">https://de.investing.com/analysis/frankreich-vereinfacht-bau-von-atomkraftwerken-200476765 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_Frankreich">https://www.euractiv.de/section/energie/news/atomkraft-renaissance-in-frankreich-wirkt-gesetzt-aber-edf-wankt/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Niederlande<ref name="Euraktiv_Niederlande">https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/erstes-kraftwerk-seit-50-jahren-niederlande-kehren-zum-atomstrom-zurueck/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Tschechien<ref name="TschechienSMR">https://www.meinbezirk.at/gmuend/c-lokales/tschechien-baut-neues-mini-atomkraftwerk-in-grenznaehe_a5621755 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Blackout_Temelin">https://blackout-news.de/aktuelles/erstes-europaeisches-mini-akw-wird-in-suedboehmen-gebaut/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_SMR">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/osteuropaeische-laender-wollen-modulare-atomreaktoren-aus-den-usa/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>). Dabei ist die Abhängigkeit von russischen Energiequellen auch in der europäischen Atomindustrie groß: Russland ist der größte Uranexporteur in die EU und mindestens 18 Reaktoren in fünf Mitgliedsstaaten sind auf dessen Brennelemente angewiesen<ref name="AtommuellreportRussland">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/die-bedeutung-der-russischen-atomindustrie-fuer-europa.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Russland">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/10/russische-atom-diplomatie-gef%C3%A4hrdet-sicherheit-europas/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Der Neubau von Atomanlagen ist weiterhin mit großen zeitlichen (Bauzeitüberziehungen) und finanziellen (Preissteigerungen) Problemen konfrontiert und daher unter rationalen Gesichtspunkten keine Option. Infolge der Invasion in der Ukraine ist im Mai nun auch das russische AKW-Neubauprojekt Hanhikivi im Norden Finnlands gescheitert<ref name="Euractiv_Hanhikivi">https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/finnisches-unternehmen-kuendigt-rosatom-vertrag-ueber-kernkraftwerkslieferung/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, für das bereits Naturschutzgebiete verwüstet worden waren<ref name="grbl_Pyhaejoki">https://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2016-01:Mit_Taser_und_Tr%C3%A4nengas_f%C3%BCr_das_finnisch-russische_AKW - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>. Nur Atombombenstaaten haben aufgrund militärischer Interessen eine klare Motivation, die Atomindustrie weiter mit Milliardenbeträgen zu subventionieren<ref name="Atommuellreport_Taxonomie">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/eu-taxonomie-finanzspritze-fuer-die-desastroese-atompolitik-frankreichs.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Auch der Weiterbetrieb alter AKW ist kaum eine Hilfe in der Energiekrise: In der BRD kann Atomstrom nur einen winzigen Anteil der einzusparenden Gaskraftwerkskapazitäten ersetzen. Ein wesentlicher Teil von deren Produktion ist Heizwärme, die von den AKW nicht verfügbar ist. Diese könnten auch kaum zur Kostensenkung bei der Stromerzeugung beitragen. Absurderweise wird nunmehr für den deutschen AKW-Betrieb mit der französischen Atomstrommisere argumentiert, weil das hochgradig von AKW abhängige Land in diesem Jahr zeitweise mehr als die Hälfte seiner Anlagen wegen verschiedenster Probleme nicht nutzen konnte und fast jeden Tag auf Stromimporte aus der BRD in der Größenordnung der Kapazitäten vierer Großkraftwerke angewiesen war<ref name="Atommuellreport_Taxonomie" /><ref name="AtommuellreportLauftzeitverlaengerung">https://atommuellreport.de/themen/detail/laufzeitverlaengerung-sinnlos-gefaehrlich-und-teuer.html - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="FranzoesischeEnergiekrise">https://web.de/magazine/politik/auswirkungen-franzoesische-energiekrise-deutschland-37340700 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Die Auseinandersetzungen um die Zukunft der Atomkraftnutzung in Europa spiegelten sich in den letzten Jahren in den Kämpfen um die Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie wider. Verschiedene EU- und nationale Organisationen ebenso wie Expert*innengruppen veröffentlichten Analysen zu diesem Vorhaben. Die meisten kamen zu dem Schluss, dass es keinesfalls zulässig wäre, Atomkraft als nachhaltige Energiequelle zu behandeln. Trotzdem behauptete das ''Joint Research Centre'', das an mehreren Atomprojekten beteiligt ist, Atomkraft sei nicht schädlicher als andere bereits als nachhaltig eingestufte Energieträger. Viele Länder übten Druck auf die Europäische Kommission sowohl für als auch gegen die Aufnahme der Atomenergie in die EU-Taxonomie aus (Pistner/Englert 2021; Schneider et al. 2021: 38–41). Nach mehrfachen Verzögerungen verkündete die Kommission im Februar 2022, Atomkraft solle zukünftig als nachhaltige Energiequelle gelten. Im Juli stimmte auch das EU-Parlament knapp der Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie zu. Inzwischen haben mehrere EU-Staaten und Organisationen Klagen vor dem EU-Gerichtshof dagegen eingereicht <ref name"NAU_Taxonomie">https://www.nau.ch/ort/basel/klage-gegen-grunes-eu-label-fur-atomenergie-eingereicht-66291417 - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Taxonomie">https://www.ausgestrahlt.de/themen/europa-und-atom/eu-taxonomie/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_YelloDeal">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/01/05/eu-taxonomie-analysiert-yellow-deal-statt-klimaschutz/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="dont-nuke-taxonomy">https://dont-nuke-the-taxonomy.eu/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref><ref name="Stern_Taxonomie">https://www.stern.de/news/oesterreich-klagt-wegen-einstufung-von-atomkraft-als-nachhaltig-vor-eugh-32794520.html - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Krone_Taxonomie">https://www.kronehit.at/news/gruenes-label-fuer-atomkraft-2/ - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Tagesschau_Klagen">https://www.tagesschau.de/ausland/oesterreich-klage-taxonomie-atomkraft-101.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref><ref name="Oekonews_Greenpeace">https://www.oekonews.at/?mdoc_id=1175330 - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="heise_Klagen">https://www.heise.de/tp/features/Umweltschuetzer-planen-Gemeinschaftsklage-gegen-EU-Taxonomie-7269696.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
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Auch in den Vereinigten Staaten konnte ein Rückgang der Nutzung der Atomenergie in den vergangenen Jahren festgestellt werden. 2021 wurden zwei Reaktoren stillgelegt, einer in Iowa (Duane Arnold-1) und ein weiterer im Bundesstaat New York (Indian Point-2). Fast alle Atomreaktoren in den USA haben inzwischen ein Alter zwischen 31 und 40 Jahren (46 Reaktoren) oder 41 und 50 Jahren (41 Reaktoren) erreicht, während lediglich einer jünger als 10 Jahre ist. Die übliche erlaubte Betriebszeit eines Atomkraftwerks liegt bei Inbetriebnahme in den USA bei 40 Jahren. Diese wurde für 85 der derzeit betriebenen Anlagen bereits um 20 Jahre verlängert. Eine NRC<ref>NRC: Nuclear Regulatory Commission; eine für die Atomsicherheit zuständige US-Bundesbehörde</ref>-Richtlinie aus dem Jahr 2017 ermöglicht eine weitere Laufzeitverlängerung um zusätzliche 20 Jahre, so dass Reaktoren bis zu 80 Jahre in Betrieb bleiben könnten. 6 Anlagen erhielten eine entsprechende Genehmigung bereits (Schneider et al. 2021: 147, 149–150).<br />
<br />
Die Biden-Regierung will die Treibhausgasemissionen der USA durch die Unterstützung der Atomkraft reduzieren, insbesondere mithilfe des ''Zero-emission Nuclear Power Production Credit Act'', der dem Kongress im Juni 2021 vorgelegt wurde. Dies könnte zu einer Steuergutschrift in Höhe von 15 Dollar/MWh führen, die helfen könnte, abgewrackte Atomkraftwerke vor der Stilllegung zu bewahren (WNISR 2021: 148). Zwei Reaktoren befinden sich in den Vereinigten Staaten immer noch im Bau und leiden unter mehr als vervierfachten Herstellungskosten: die Reaktoren 3 und 4 des AKW Vogtle im Bundesstaat Georgia (WNISR 2021: 147, 155 f.). Zusammengefasst befindet sich die US-amerikanische Atomenergienutzung also in einem Prozess der Schrumpfung, weil Reaktoren stillgelegt werden mussten; andererseits versucht die Biden-Regierung, diesen zu stoppen, indem sie neue Maßnahmen und finanzielle Unterstützung bereitstellt (Congress 2021; Schneider et al. 2021: 147–148, 155–161).<br />
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=== Fazit ===<br />
Es können eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den Energiepolitiken der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika festgestellt werden: Beide wollen ihre Energiesysteme transformieren, um Treibhausgase in Richtung null zu reduzieren. Beide sind gegenwärtig stark von fossilen Energieträgern abhängig und beide betreiben die gewaltigsten atomaren Reaktorflotten der Welt, erfahren aber eine kontinuierliche Schrumpfung der Atomindustrie. Unterschiede können einerseits hinsichtlich der Konkretheit und Ambitionen in der Klimapolitik gesehen werden<ref>Siehe dazu den Originalartikel, auf dem dieser atomkraftbezogene Auszug basiert und den der Autor im Originalbeitrag verantwortet hat: https://medium.com/unceurope/energy-transformation-nuclear-and-fossil-phase-out-policies-in-eu-and-us-be5c02e2d566</ref>, in der die Europäische Union im Augenblick größere Ziele angehen will. Der Hauptunterschied zwischen den Herangehensweisen in der Atompolitik in der EU und den USA besteht darin, dass die Europäische Union große Uneinigkeit in Hinblick auf die Zukunft der Atomtechnologie aufweist, während in den Vereinigten Staaten für diese Industrie weit mehr möglich ist, da Atomausstiegspolitiken wie in einigen EU-Staaten fehlen. Dementsprechend werden Stilllegungen von Reaktoren in den USA normalerweise durch deren Unwirtschaftlichkeit verursacht, manchmal in Verbindung mit den Auswirkungen von Protesten. In der EU sind die Atompolitiken der Mitgliedsstaaten ziemlich entgegengesetzt, aber solange keine massive staatliche Subventionierung der Atomenergie bereitgestellt wird, wird ihre Verwendung insgesamt - gleichfalls aus wirtschaftlichen Gründen - zurückgehen. Dieser Prozess wird in einigen Ländern abgekürzt durch explizite Ausstiegspolitiken.<br />
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=== Diskurs um Laufzeitverlängerungen in der BRD ===<br />
Direkt am Tag des Beginns der russischen Invasion in der Ukraine forderte der CDU-Politiker Günther Oettinger eine Laufzeitverlängerung für die noch in Betrieb befindlichen deutschen AKW. Er behauptete, durch deren Weiterbetrieb ließe sich die Abhängigkeit von russischen Gasimporten limitieren.<ref name="StN_Oettinger">https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.abhaengigkeit-von-russischem-gas-oettinger-will-kernkraftwerke-laenger-am-netz-lassen.e2617c40-b4c0-43dd-8457-bdb63e503221.html - gesichtet 22. Oktober 2022</ref><br />
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=== Literatur ===<br />
* .ausgestrahlt (2019): „Atomkraft auf der Kippe“. .ausgestrahlt-Magazin. Hamburg S. 1–24.<br />
* Congress (2021): „H.R.4024 - Zero-Emission Nuclear Power Production Credit Act of 2021“. congress.gov. U.S. Congress.<br />
* EIA (2021): „Consumption and production“. Energy Information Administration. U.S. Energy Information Administration Abgerufen am 26.11.2021 von https://www.eia.gov/energyexplained/us-energy-facts/.<br />
* eurostat (2021a): „Energy Statistics - an overview“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 26.11.2021 von https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Energy_statistics_-_an_overview#Final_energy_consumption.<br />
* eurostat (2021b): „Nuclear energy statistics“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 25.11.2021 von http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Nuclear_energy_statistics.<br />
* Neubauer, Lundquist (2008): „Erster EPR in Frankreich wird um ein Fünftel teurer als geplant“. Verivox Abgerufen am 25.11.2021 von https://www.verivox.de/strom/nachrichten/erster-epr-in-frankreich-wird-um-ein-fuenftel-teurer-als-geplant-38450/.<br />
* Pistner, Christoph; Englert, Matthias (2021): Nuclear Power and the „do no significant harm“ criteria of the EU Taxonomy. ( Nr. 4/2021) (Oeko-Institut Working Paper).<br />
* Schneider, Mycle; Froggatt, Antony; Hazemann, Julie; u. a. (2021): The World Nuclear Industry Status Report 2021. Paris.<br />
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<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atom(ausstiegs)politiken_in_EU_und_USA&diff=218512022-01:Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA2022-10-21T06:03:19Z<p>WikiSysop: Korrekturen</p>
<hr />
<div>== Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA ==<br />
'''fb''' Zum Stichtag 1. Juli 2021 stellte die Europäische Union mit 106 in Betrieb befindlichen Reaktoren die weltgrößte Flotte installierter Atomkraftwerksleistung bereit, nur knapp gefolgt von den USA mit 93 Reaktoren. Auf der Ebene der Staaten standen die USA auf Rangplatz 1, gefolgt von Frankreich mit 56 Reaktoren und China mit 53 Reaktoren. Der Anteil von Atomenergie am Strommix machte in den USA 19,7%, in der EU 24,8% aus. 2020 wurde in der Europäischen Union von Regenerativen Energien (ohne Berücksichtigung der Wasserkraft) zum ersten Mal mehr Elektrizität erzeugt als durch Kernspaltung. Atomkraft ist offenbar sowohl in der EU als auch in den USA eine bedeutende Energiequelle (Schneider et al. 2021: 302, 354, 394).<br />
<br />
Den entscheidenden Anteil am Primärenergieverbrauch (also nicht nur Strom) bilden jedoch in beiden Regionen fossile Energieträger. Diese dominieren den Bruttoinlandsenergieverbrauch mit 69,3% in der EU (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2019), während sie in den USA (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2020) sogar 79% ausmachten (EIA 2021; eurostat 2021a).<br />
<br />
=== Status und Perspektiven der Atomkraftnutzung ===<br />
In der Europäischen Union ist die Atomkraft hochgradig umstritten: 13 Mitgliedsstaaten betreiben Atomkraftwerke (AKW), von denen vier einen Atomausstieg beschlossen haben (Belgien, BRD, Spanien, Schweden); 14 Mitgliedsstaaten besitzen keine in Betrieb befindlichen Atomreaktoren, von denen einer (Polen) derzeit versucht ein umfangreiches Atomprogramm umzusetzen (.ausgestrahlt 2019: 24; eurostat 2021b). Drei Reaktoren wurden 2020 stillgelegt (Fessenheim-1+2, Ringhals-1), während sich vier solche im Bau befanden (Olkiluoto-3, Flamanville-3, Mochovce-3+4) – allerdings mit massiven Verspätungen von einem Jahrzehnt und länger sowie mit Kostenexplosionen bis zum 6fachen der ursprünglichen Kalkulationen (Neubauer 2008; Schneider et al. 2021: 75, 77–80, 84, 93, 355). Viele EU-Staaten werden letztlich das Kapitel der Atomstromproduktion aufgrund der zunehmenden Überalterung der Reaktorflotte (durchschnittlich 35,9 Jahre in der EU) und der wirtschaftlichen Unrentabilität neuer Atomkraftwerke in den nächsten Jahrzehnten schließen (Schneider u. a. 2021: 354 ff.).<br />
<br />
Unklar ist bei dieser Einschätzung, die auf der Situation vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine basiert, die Auswirkungen der aktuellen Energiekrise. Diese hat zwar verdeutlicht, wie katastrophal auch in Hinsicht auf die Energieversorgungssicherheit der immer noch hohe Anteil fossiler Energieträger bei der Stromerzeugung ist, allerdings auch Kurzschlussreaktionen und aggressiven pro- nuklearen Lobbyismus verursacht. Derzeit diskutieren verschiedene europäische Regierungen über Laufzeitverlängerungen für von Stilllegungen betroffene alte AKW (Belgien<ref name="jungeWelt_Belgien">https://www.jungewelt.de/artikel/435405.nuklearenergie-aus-f%C3%BCr-schrottmeiler.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref>, BRD), die Aufgabe des Atomausstiegs oder den Neubau von Reaktoren (Bulgarien<ref name="Euraktiv_Bulgarien">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/bulgarien-will-den-bau-eines-neuen-atomreaktors-vorantreiben/ -gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Frankreich<ref name="FrankreichAtomkraft">https://de.investing.com/analysis/frankreich-vereinfacht-bau-von-atomkraftwerken-200476765 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_Frankreich">https://www.euractiv.de/section/energie/news/atomkraft-renaissance-in-frankreich-wirkt-gesetzt-aber-edf-wankt/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Niederlande<ref name="Euraktiv_Niederlande">https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/erstes-kraftwerk-seit-50-jahren-niederlande-kehren-zum-atomstrom-zurueck/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Tschechien<ref name="TschechienSMR">https://www.meinbezirk.at/gmuend/c-lokales/tschechien-baut-neues-mini-atomkraftwerk-in-grenznaehe_a5621755 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Blackout_Temelin">https://blackout-news.de/aktuelles/erstes-europaeisches-mini-akw-wird-in-suedboehmen-gebaut/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_SMR">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/osteuropaeische-laender-wollen-modulare-atomreaktoren-aus-den-usa/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>). Dabei ist die Abhängigkeit von russischen Energiequellen auch in der europäischen Atomindustrie groß: Russland ist der größte Uranexporteur in die EU und mindestens 18 Reaktoren in fünf Mitgliedsstaaten sind auf dessen Brennelemente angewiesen<ref name="AtommuellreportRussland">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/die-bedeutung-der-russischen-atomindustrie-fuer-europa.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Russland">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/10/russische-atom-diplomatie-gef%C3%A4hrdet-sicherheit-europas/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Der Neubau von Atomanlagen ist weiterhin mit großen zeitlichen (Bauzeitüberziehungen) und finanziellen (Preissteigerungen) Problemen konfrontiert und daher unter rationalen Gesichtspunkten keine Option. Infolge der Invasion in der Ukraine ist im Mai nun auch das russische AKW-Neubauprojekt Hanhikivi im Norden Finnlands gescheitert<ref name="Euractiv_Hanhikivi">https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/finnisches-unternehmen-kuendigt-rosatom-vertrag-ueber-kernkraftwerkslieferung/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, für das bereits Naturschutzgebiete verwüstet worden waren<ref name="grbl_Pyhaejoki">https://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2016-01:Mit_Taser_und_Tr%C3%A4nengas_f%C3%BCr_das_finnisch-russische_AKW - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>. Nur Atombombenstaaten haben aufgrund militärischer Interessen eine klare Motivation, die Atomindustrie weiter mit Milliardenbeträgen zu subventionieren<ref name="Atommuellreport_Taxonomie">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/eu-taxonomie-finanzspritze-fuer-die-desastroese-atompolitik-frankreichs.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Auch der Weiterbetrieb alter AKW ist kaum eine Hilfe in der Energiekrise: In der BRD kann Atomstrom nur einen winzigen Anteil der einzusparenden Gaskraftwerkskapazitäten ersetzen. Ein wesentlicher Teil von deren Produktion ist Heizwärme, die von den AKW nicht verfügbar ist. Diese könnten auch kaum zur Kostensenkung bei der Stromerzeugung beitragen. Absurderweise wird nunmehr für den deutschen AKW-Betrieb mit der französischen Atomstrommisere argumentiert, weil das hochgradig von AKW abhängige Land in diesem Jahr zeitweise mehr als die Hälfte seiner Anlagen wegen verschiedenster Probleme nicht nutzen konnte und fast jeden Tag auf Stromimporte aus der BRD in der Größenordnung der Kapazitäten vierer Großkraftwerke angewiesen war<ref name="Atommuellreport_Taxonomie" /><ref name="AtommuellreportLauftzeitverlaengerung">https://atommuellreport.de/themen/detail/laufzeitverlaengerung-sinnlos-gefaehrlich-und-teuer.html - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="FranzoesischeEnergiekrise">https://web.de/magazine/politik/auswirkungen-franzoesische-energiekrise-deutschland-37340700 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Die Auseinandersetzungen um die Zukunft der Atomkraftnutzung in Europa spiegelten sich in den letzten Jahren in den Kämpfen um die Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie wider. Verschiedene EU- und nationale Organisationen ebenso wie Expert*innengruppen veröffentlichten Analysen zu diesem Vorhaben. Die meisten kamen zu dem Schluss, dass es keinesfalls zulässig wäre, Atomkraft als nachhaltige Energiequelle zu behandeln. Trotzdem behauptete das ''Joint Research Centre'', das an mehreren Atomprojekten beteiligt ist, Atomkraft sei nicht schädlicher als andere bereits als nachhaltig eingestufte Energieträger. Viele Länder übten Druck auf die Europäische Kommission sowohl für als auch gegen die Aufnahme der Atomenergie in die EU-Taxonomie aus (Pistner/Englert 2021; Schneider et al. 2021: 38–41). Nach mehrfachen Verzögerungen verkündete die Kommission im Februar 2022, Atomkraft solle zukünftig als nachhaltige Energiequelle gelten. Im Juli stimmte auch das EU-Parlament knapp der Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie zu. Inzwischen haben mehrere EU-Staaten und Organisationen Klagen vor dem EU-Gerichtshof dagegen eingereicht <ref name"NAU_Taxonomie">https://www.nau.ch/ort/basel/klage-gegen-grunes-eu-label-fur-atomenergie-eingereicht-66291417 - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Taxonomie">https://www.ausgestrahlt.de/themen/europa-und-atom/eu-taxonomie/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_YelloDeal">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/01/05/eu-taxonomie-analysiert-yellow-deal-statt-klimaschutz/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="dont-nuke-taxonomy">https://dont-nuke-the-taxonomy.eu/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref><ref name="Stern_Taxonomie">https://www.stern.de/news/oesterreich-klagt-wegen-einstufung-von-atomkraft-als-nachhaltig-vor-eugh-32794520.html - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Krone_Taxonomie">https://www.kronehit.at/news/gruenes-label-fuer-atomkraft-2/ - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Tagesschau_Klagen">https://www.tagesschau.de/ausland/oesterreich-klage-taxonomie-atomkraft-101.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref><ref name="Oekonews_Greenpeace">https://www.oekonews.at/?mdoc_id=1175330 - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="heise_Klagen">https://www.heise.de/tp/features/Umweltschuetzer-planen-Gemeinschaftsklage-gegen-EU-Taxonomie-7269696.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Auch in den Vereinigten Staaten konnte ein Rückgang der Nutzung der Atomenergie in den vergangenen Jahren festgestellt werden. 2021 wurden zwei Reaktoren stillgelegt, einer in Iowa (Duane Arnold-1) und ein weiterer im Bundesstaat New York (Indian Point-2). Fast alle Atomreaktoren in den USA haben inzwischen ein Alter zwischen 31 und 40 Jahren (46 Reaktoren) oder 41 und 50 Jahren (41 Reaktoren) erreicht, während lediglich einer jünger als 10 Jahre ist. Die übliche erlaubte Betriebszeit eines Atomkraftwerks liegt bei Inbetriebnahme in den USA bei 40 Jahren. Diese wurde für 85 der derzeit betriebenen Anlagen bereits um 20 Jahre verlängert. Eine NRC<ref>NRC: Nuclear Regulatory Commission; eine für die Atomsicherheit zuständige US-Bundesbehörde</ref>-Richtlinie aus dem Jahr 2017 ermöglicht eine weitere Laufzeitverlängerung um zusätzliche 20 Jahre, so dass Reaktoren bis zu 80 Jahre in Betrieb bleiben könnten. 6 Anlagen erhielten eine entsprechende Genehmigung bereits (Schneider et al. 2021: 147, 149–150).<br />
<br />
Die Biden-Regierung will die Treibhausgasemissionen der USA durch die Unterstützung der Atomkraft reduzieren, insbesondere mithilfe des ''Zero-emission Nuclear Power Production Credit Act'', der dem Kongress im Juni 2021 vorgelegt wurde. Dies könnte zu einer Steuergutschrift in Höhe von 15 Dollar/MWh führen, die helfen könnte, abgewrackte Atomkraftwerke vor der Stilllegung zu bewahren (WNISR 2021: 148). Zwei Reaktoren befinden sich in den Vereinigten Staaten immer noch im Bau und leiden unter mehr als vervierfachten Herstellungskosten: die Reaktoren 3 und 4 des AKW Vogtle im Bundesstaat Georgia (WNISR 2021: 147, 155 f.). Zusammengefasst befindet sich die US-amerikanische Atomenergienutzung also in einem Prozess der Schrumpfung, weil Reaktoren stillgelegt werden mussten; andererseits versucht die Biden-Regierung, diesen zu stoppen, indem sie neue Maßnahmen und finanzielle Unterstützung bereitstellt (Congress 2021; Schneider et al. 2021: 147–148, 155–161).<br />
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=== Fazit ===<br />
Es können eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den Energiepolitiken der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika festgestellt werden: Beide wollen ihre Energiesysteme transformieren, um Treibhausgase in Richtung null zu reduzieren. Beide sind gegenwärtig stark von fossilen Energieträgern abhängig und beide betreiben die gewaltigsten atomaren Reaktorflotten der Welt, erfahren aber eine kontinuierliche Schrumpfung der Atomindustrie. Unterschiede können einerseits hinsichtlich der Konkretheit und Ambitionen in der Klimapolitik gesehen werden<ref>Siehe dazu den Originalartikel, auf dem dieser atomkraftbezogene Auszug basiert und den der Autor im Originalbeitrag verantwortet hat: https://medium.com/unceurope/energy-transformation-nuclear-and-fossil-phase-out-policies-in-eu-and-us-be5c02e2d566</ref>, in der die Europäische Union im Augenblick größere Ziele angehen will. Der Hauptunterschied zwischen den Herangehensweisen in der Atompolitik in der EU und den USA besteht darin, dass die Europäische Union große Uneinigkeit in Hinblick auf die Zukunft der Atomtechnologie aufweist, während in den Vereinigten Staaten für diese Industrie weit mehr möglich ist, da Atomausstiegspolitiken wie in einigen EU-Staaten fehlen. Dementsprechend werden Stilllegungen von Reaktoren in den USA normalerweise durch deren Unwirtschaftlichkeit verursacht, manchmal in Verbindung mit den Auswirkungen von Protesten. In der EU sind die Atompolitiken der Mitgliedsstaaten ziemlich entgegengesetzt, aber solange keine massive staatliche Subventionierung der Atomenergie bereitgestellt wird, wird ihre Verwendung insgesamt - gleichfalls aus wirtschaftlichen Gründen - zurückgehen. Dieser Prozess wird in einigen Ländern abgekürzt durch explizite Ausstiegspolitiken.<br />
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=== Literatur ===<br />
* .ausgestrahlt (2019): „Atomkraft auf der Kippe“. .ausgestrahlt-Magazin. Hamburg S. 1–24.<br />
* Congress (2021): „H.R.4024 - Zero-Emission Nuclear Power Production Credit Act of 2021“. congress.gov. U.S. Congress.<br />
* EIA (2021): „Consumption and production“. Energy Information Administration. U.S. Energy Information Administration Abgerufen am 26.11.2021 von https://www.eia.gov/energyexplained/us-energy-facts/.<br />
* eurostat (2021a): „Energy Statistics - an overview“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 26.11.2021 von https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Energy_statistics_-_an_overview#Final_energy_consumption.<br />
* eurostat (2021b): „Nuclear energy statistics“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 25.11.2021 von http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Nuclear_energy_statistics.<br />
* Neubauer, Lundquist (2008): „Erster EPR in Frankreich wird um ein Fünftel teurer als geplant“. Verivox Abgerufen am 25.11.2021 von https://www.verivox.de/strom/nachrichten/erster-epr-in-frankreich-wird-um-ein-fuenftel-teurer-als-geplant-38450/.<br />
* Pistner, Christoph; Englert, Matthias (2021): Nuclear Power and the „do no significant harm“ criteria of the EU Taxonomy. ( Nr. 4/2021) (Oeko-Institut Working Paper).<br />
* Schneider, Mycle; Froggatt, Antony; Hazemann, Julie; u. a. (2021): The World Nuclear Industry Status Report 2021. Paris.<br />
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<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Laufzeitverl%C3%A4ngerung_-_sinnlos,_gef%C3%A4hrlich_und_teuer&diff=218502022-01:Laufzeitverlängerung - sinnlos, gefährlich und teuer2022-10-21T06:01:39Z<p>WikiSysop: Korrekturen</p>
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<div>== Laufzeitverlängerung - sinnlos, gefährlich und teuer ==<br />
Am 27.09.2022 erklärte Wirtschaftsminister Habeck (Grüne), dass er einen Weiterbetrieb der beiden AKW Ohu 2 (Isar 2) und Neckarwestheim 2 über den 31.12.2022 hinaus "Stand heute" für nötig halte.<ref name="eins">tagesschau.de: Habeck hält AKW-Weiterbetrieb für nötig, 27.09.2022</ref> Gleichzeitig veröffentlichte er seine Vereinbarungen mit den beiden AKW-Betreibern für den Weiterbetrieb.<ref name="zwei">Eckpunkte BMWK - E.ON - EnBW, 27.09.2022</ref> Ob dies das letzte Wort sein wird, ist fraglich. Kurz vor Ende der Atomenergienutzung in Deutschland wittern die Verfechter der Atomkraft Morgenluft angesichts möglicher Energieengpässe durch den Ukrainekrieg und die verhängten Sanktionen gegen Russland.<br />
<br />
Jahrelang wurde versucht, Atomkraft wieder hoffähig zu machen, indem der Atomstrom als billig und klimafreundlich deklariert wurde - von denselben Akteur*innen, die einen Energiepreisdeckel oder ein Tempolimit ablehnen. Das Umweltbundesamt hat aktuell festgestellt, dass durch ein Tempolimit (Autobahnen Tempo 100 und außerorts Tempo 80) jährlich 2,1 Milliarden Liter fossile Kraftstoffe in Deutschland eingespart werden könnten. Das entspräche 3,8 Prozent des Kraftstoffverbrauchs im Verkehrssektor.<ref name="drei">tagesschau.de: Wieviel Sprit ein Tempolimit spart, 10.04.2022</ref> Die Energieökonomin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schätzt, dass ein Tempolimit fünf bis sieben Prozent der russischen Ölimporte reduzieren könnte.<ref name="drei" /> Nachdem in der aktuellen Debatte auch der Verweis auf die Probleme bei der Gasversorgung nicht so richtig gezogen hat, da Atomkraft die Wärmeversorgung durch das Gas kaum ersetzen kann, ist das neue Argument die Solidarität mit Frankreich bzw. die Netzstabilität, die durch die desolate Atompolitik Frankreichs in Frage stehen würde. Eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke ist für die Energiesicherheit unnötig, hochriskant und senkt die Abhängigkeit von Russland in keiner Weise.<br />
<br />
=== Atomenergie als Antwort auf das Atomenergie-Desaster Frankreichs? ===<br />
Die Stromproduktion in Frankreich liegt aufgrund einer völlig verfehlten, einseitig auf Atomkraft setzenden Energiepolitik ziemlich darnieder. Seit Beginn 2022 wird bis auf wenige Ausnahmen täglich Strom aus Deutschland nach Frankreich in einer Größenordnung von bis zu über 100 Gigawattstunden (GWh) exportiert. Ein konventionelles oder nukleares Großkraftwerk erzeugt ca. 20 bis knapp 30 GWh pro Tag. Die deutschen Atomkraftwerke (und mindestens ein weiteres Kraftwerk) laufen also rechnerisch nur für den Export und stützen so die verfehlte Atomenergiepolitik Frankreichs, die trotz der offensichtlichen Probleme mit den Reaktoren weiterhin auf Atomkraft statt auf Erneuerbare Energie setzt.<br />
<br />
=== Die Rolle der Grünen ===<br />
Befeuert wurde die Debatte um die Laufzeitverlängerung durch Grüne-Politiker*innen. So erklärte beispielsweise die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Katrin Göring-Eckardt (Grüne) bereits am 24.7.2022 in einer Talkshow, dass Atomkraft notwendig werden könnte, um die Stromversorgung von Krankenhäusern aufrecht zu erhalten.<ref name="vier">welt.de: Goering-Eckardt offen für AKW-Streckbetrieb - Scholz will zweiten Stresstest abwarten, Stand 25.07.2022</ref> Selbst bei etwaiger Knappheit wird hier in Anbetracht der Kapazitäten Deutschlands ein unrealistisches (Horror-)Szenario aufgemalt, das Ängste schürt, anstatt eine zielorientierte Energiewende-Debatte voranzubringen.<br />
<br />
Ebenfalls im Juli 2022 haben SPD und Grüne der Stadt München im Aufsichtsrat der Stadtwerke München beschlossen, sich für einen Weiterbetrieb des AKW Ohu 2 (Isar 2) einzusetzen. Die Stadtwerke München halten 25% an dem Atomkraftwerk. Die restlichen 75% sind im Besitz der PreussenElektra GmbH, einer 100%igen Tochter des E.ON-Konzerns. Die 2. Bürgermeisterin in München, Katrin Habenschaden (Grüne), verteidigte ihre Entscheidung gegenüber dem Bayerischen Rundfunk: „Die Versorgungssicherheit der Münchnerinnen und Münchner hat da für mich wirklich Vorrang".<ref name="fuenf">br.de: SPD und Grüne in München für längere Laufzeit des AKW Isar-2, 21.07.2022</ref><br />
<br />
Die Grüne Umweltministerin Lemke, die die Atomaufsicht in Deutschland führt und für Reaktorsicherheit zuständig ist, hält sich bedeckt. Der Grüne Wirtschaftsminister führt seine Partei Stück für Stück aus der Ablehnung der Atomenergienutzung heraus, immer mit dem Verweis auf angebliche objektive Sachzwänge. So durften die Entscheidung für einen Reservebetrieb die Übertragungsnetzbetreiber begründen.<br />
<br />
Im Wesentlichen außen vor bleibt dabei das Stromeinsparpotential, das in vielen Bereichen auf der Hand liegt. Auch eine stundenweise Reduzierung stromintensiver Produktion wäre ein Beitrag zur Netzstabilisierung. Während es im Gassektor bereits Vorkehrungen für eine eventuelle Rationierung von Gas gibt, ist dies im Stromsektor nicht der Fall.<br />
<br />
=== Atomkraftwerke als Reserve? ===<br />
Wirtschaftsminister Habeck hat im Juli 2022 die vier Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz, Amprion, Tennet und Transnet BW mit einem sogenannten "Stresstest" beauftragt. Sie sollten erklären, ob und gegebenenfalls wie die Stromnachfrage im Winter gedeckt und die Netzstabilität erhalten werden kann. <br />
<br />
50Hertz betreibt das Stromnetz auf dem Gebiet der ehemaligen DDR und war vorübergehend im Besitz des Atomkonzerns Vattenfall. Derzeitige Anteilseigner von 50Hertz sind die börsennotierte belgische Holding Elia Group (80 Prozent) und die KfW Bankengruppe mit 20 Prozent.<ref name="sechs">50hertz.com: Historie, abgerufen am 15.09.2022</ref> Amprion ist eine Ausgründung von RWE, die heute noch 25,1 Prozent hält. Die andere Anteilseignerin ist mit 74,9 Prozent die M31 Beteiligungsgesellschaft mbH & Co. Energie KG (ein Konsortium von überwiegend deutschen institutionellen Finanzinvestoren aus der Versicherungswirtschaft und von Versorgungswerken. Dazu zählen etwa die MEAG MUNICH ERGO, Swiss Life und Talanx sowie Pensionskassen).<ref name="sieben">Amprion.net: Anteilseigner, abgerufen am 15.09.2022</ref> Tennet ist eine Ausgründung von E.ON. Heutiger Eigentümer der Tennet Holding ist der Niederländische Staat.<ref name="acht">Tennet.eu: Unsere Geschichte, abgerufen am 15.09.2022</ref> Die Transnet BW ist eine Ausgründung von EnBW und immer zu 100 Prozent im Besitz des Energieversorgers EnBW, der auch das AKW Neckarwestheim 2 betreibt.<ref name="neun">EnBW: Jahresabschluss der EnBW AG 2021</ref><br />
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Im Stresstest<ref name="zehn">50 Hertz, Amprion, Tennet, TransnetBW: Abschlussbericht Sonderanalysen Winter 2022/2023, 13.09.2022</ref> wurden nach Vorgaben des Wirtschaftsministeriums verschiedene Szenarien geprüft. Parameter waren die Verfügbarkeit französischer Atomkraftwerke, mögliche Einschränkungen bei der Versorgung deutscher Kraftwerke mit Kohle auf dem Wasserweg wegen dauerhaften Niedrigwassers, Nicht-Verfügbarkeit von Gaskraftwerken, extreme Kälte und ein deutlich erhöhter Verbrauch durch elektrische Heizlüfter. Ergebnis: Je nach Szenario kann es im Winter stundenweise zu Netzengpässen kommen. Dagegen soll ein Bündel an Maßnahmen helfen. Laut Minister Habeck gehört dazu auch, die beiden AKW Ohu 2/Isar 2 und Neckarwestheim 2 am 31.12.2022 nicht endgültig abzuschalten, sondern in die Reserve zu überführen bzw. weiterzubetreiben. Und das, obwohl die Atomkraftwerke nur einen extrem kleinen Beitrag leisten könnten und selbst in einem sehr kritischen Strombedarfsszenario im Winter den Bedarf an Redispatchkraftwerken im Ausland nur um 0,5 GW senken können und nicht um die Nennleistung der AKW.<ref name="zehn" /><br />
<br />
=== Streckbetrieb ===<br />
Das Zauberwort in dieser Debatte um eine Laufzeitverlängerung heißt „Streckbetrieb“. Bei einem Streckbetrieb, der bereits in anderen AKW im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Laufzeit durchgeführt wurde, nimmt durch eine bewusste Reduktion der Kühlmitteltemperatur die Dichte des Kühlmittels im Reaktor zu. Die Neutronen werden besser abgebremst, wodurch mehr Neutronen für die Spaltung zur Verfügung stehen. Diesen Effekt macht man sich zu Nutze und betreibt den Reaktor über sein natürliches Zyklusende hinaus. Dadurch wird die Neutronen-Moderation verbessert und man kann ein bisschen mehr Energie aus dem Brennstoff rausholen als beim Betrieb mit 100 % Leistung. Die Stromproduktion wird durch Streckbetrieb nicht nur in die Länge gezogen, sondern insgesamt leicht erhöht. Das bringt nicht viel an zusätzlicher Energie. „Ein solcher Betrieb ist für mindestens 80 Tage realisierbar. Da ein Reaktorblock im Streckbetrieb täglich ca. 0,5 % seiner Leistung einbüßt, wäre er nach 80 Tagen noch bei ca. 60 % seiner ausgelegten Leistung.“<ref name="elf">grs.de: Streckbetrieb, abgerufen am 26.07.2022</ref><br />
<br />
Laut dem niedersächsischen Umweltminister Olaf Lies sind die Brennelemente im AKW Lingen 2/Emsland zum Ende des Jahres aufgebraucht.<ref name="zwoelf">Niedersachsen Energieminister Lies warnt: AKW-Laufzeitverlängerung „völlig falsche Weg“, rnd.de, 30.08.2022</ref> Anders sieht die Situation beim bayerischen AKW Ohu 2 (Isar 2) und baden-württembergischen AKW Neckarwestheim 2 aus.<br />
<br />
=== AKW Ohu 2 (Isar 2) ===<br />
Die Aussagen über die Situation im AKW Ohu 2 sind höchst widersprüchlich. Im April veröffentlichte der TÜV Süd eine Stellungnahme im Auftrag der bayerischen Landesregierung zur "Bewertung der konkreten erforderlichen technischen Maßnahmen für einen Weiterbetrieb des KKI 2 bzw. eine Wiederinbetriebnahme des Blocks C des KRB II". Er kommt bei Ohu 2 (Isar 2) zu dem Schluss, dass keine Drosselung der Leistung vor dem 31.12. nötig wäre und am Ende des Betriebszyklus Reaktivitätsreserven für einen Weiterbetrieb für ca. 80 Tage bestünden. Durch ein Umsetzen der vorhandenen Brennelemente könne der Reaktor sogar bis in den August 2023 betrieben und zusätzlich bis zu 5.160 GWh Strom erzeugt werden.<ref name="dreizehn">TÜV Süd: Kernkraftwerk Gundremmingen (KRB II) Block C, Kernkraftwerk Isar 2 (KKI 2) Bewertung der konkreten, erforderlichen technischen Maßnahmen für einen Weiterbetrieb des KKI 2 bzw. eine Wiederinbetriebnahme des Blocks C des KRB II, Auftrag vom 07.04.2022</ref><br />
<br />
Am 07.09.2022, nur zwei Tage, nachdem Habeck erklärte, Ohu 2 in die Reserve überführen zu wollen, wandte sich der Chef von PreussenElektra gegen die Pläne des Ministers. Knott erklärte in einem Brandbrief an Minister Habeck, dass in einem Streckbetrieb „ein flexibles Anheben oder Drosseln der Leistung nicht mehr möglich ist“. Minister Habeck fühlte sich missverstanden und stellte klar, dass es nicht um ein beliebiges Zu- und Abschalten der beiden Atomkraftwerke gehe, sondern dass im Dezember bzw. Januar die Lage erneut beurteilt und entschieden werde, ob die AKW in Streckbetrieb gehen sollten und dann für die folgenden Wochen in Betrieb bleiben würden - unabhängig, ob dies für die Versorgung bzw. Netzstabilität tatsächlich nötig sei.<ref name="vierzehn">AKW-Betreiber spricht sich gegen Habeck-Plan aus, Süddeutsche Zeitung, 07.09.2022</ref><br />
<br />
Zwei Wochen später wurde bekannt, dass es eine Leckage an einem Sicherheitsventil in Ohu 2 gibt. Nachdem PreussenElektra noch im August betont hatte, dass es kein Problem wäre, Ohu 2 bis Ende 2022 unter Volllast zu fahren und anschließend in den Streckbetrieb zu überführen, erklärt der Betreiber nun, dass das Ventil für den Streckbetrieb ausgetauscht werden muss und zwar noch im Oktober: "Bis 31. Dezember bereite das keine Probleme, die Anlage könne sicher weiterlaufen. Ganz anders sehe das bei einem möglichen Betrieb bis Mitte April aus - dann sei eine Reparatur fällig, und das rasch, noch im Oktober. Grund: Schon im November hätten die Brennelemente des Reaktorkerns "eine zu geringe Reaktivität, um die Anlage aus dem Stillstand heraus dann wieder hochzufahren"."<ref name="fuenfzehn">Süddeutsche.de: Ein Ventil macht Ärger, 20.02.2022</ref><br />
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In der Vereinbarung zwischen dem Wirtschaftsminister und den Betreibern werden die Reserven nach unten korrigiert. Das leckende Ventil soll im Oktober in einem einwöchigen Stillstand ausgetauscht werden. Der Reaktor wird dann wieder weiterbetrieben. Im Dezember entscheidet der Wirtschaftsminister, ob das AKW Ohu 2 in den Streckbetrieb gehen soll. Falls ja, werde dieser vermutlich bis Anfang März aufrechterhalten werden können, mit anfangs 95% und am Ende 50% Leistung und ca. 2 TWh Stromproduktion.<ref name="zwei" /><br />
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=== AKW Neckarwestheim 2 ===<br />
Das AWK Neckarwestheim 2 soll zum 31.12.2022 abgeschaltet und der Reaktorkern anschließend innerhalb von 2-3 Wochen rekonfiguriert werden. Im Dezember entscheidet der Wirtschaftsminister, ob das AKW Neckarwestheim 2 in den Streckbetrieb gehen soll. Im Januar wird diese Entscheidung nochmals überprüft. Das AKW Neckarwestheim könnte dann bis zum 15.04.2023 weiterlaufen, mit anfangs 70% und am Ende 55% Leistung und ca. 1,7 TWh Stromproduktion.<ref name="zwei" /><br />
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Neckarwestheim 2 steht seit Jahren in der Kritik wegen der enormen Versprödung sicherheitsrelevanter Bauteile. Bisher wurden mehr als 300 Risse in den Rohren der Dampferzeuger entdeckt. Sie können zum Abriss der Rohre führen und einen schweren Kühlmittelverluststörfall auslösen, der bis zur Kernschmelze führen kann.<ref name="sechzehn">Prof. Dr.-Ing. habil. Manfred Mertins: Bewertung zu Schäden durch Spannungsrisskorrosion an Dampferzeuger-Heizrohren im KKW Neckarwestheim 2 (GKN-II), Juni 2020</ref><br />
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=== Periodische Sicherheitsüberprüfung der AKW seit Jahren überfällig ===<br />
Es gibt gute Gründe gegen den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke, allen voran das Risiko einer Atomkatastrophe in Landshut oder Neckarwestheim. Die Atomkraftwerke weisen erhebliche Alterungsprobleme auf. Die umfassende periodische Sicherheitsüberprüfung, die eigentlich vor drei Jahren hätte stattfinden müssen, wurde den Betreibern erlassen wegen der Beendigung des Betriebes spätestens Ende 2022.<ref name="siebzehn">Oda Becker, Adhipati Y. Indradiningrat: Atomstrom 2018 - sicher, sauber, alles im Griff? Studie im Auftrag des BUND, April 2018</ref><br />
<br />
Bei der periodischen Sicherheitsüberprüfung wird vor allem überprüft, inwieweit sich der Zustand einer Anlage von den aktuellen Sicherheitserkenntnissen und dem Stand von Wissenschaft und Technik entfernt hat und welche Nachrüstungsmaßnahmen notwendig sind. Vor dem Hintergrund, dass die letzten PSÜ vor den Anschlägen auf das World Trade Center stattgefunden haben, wird die Lücke zwischen der Sicherheit in den laufenden Reaktoren und neueren Erkenntnisse deutlich. Auch Maßnahmen gegen einen Terrorangriff außerhalb der Reaktoren wurden nicht umgesetzt. Die Nebeltarnung, die nach dem Anschlag auf das World Trade Center als angeblicher Schutz im Angriffsfall propagiert wurde, ist gar nicht erst errichtet worden.<ref name="siebzehn" /><br />
<br />
Auch das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BaSE) weist auf die fehlende Sicherheitsüberprüfung, die fehlende technische Anpassung an neueste Sicherheitsentwicklungen und den fehlenden Schutz vor einem Angriff auf die Atomkraftwerke hin. Das Risiko katastrophaler Unfälle habe sich noch einmal verschärft.<ref name="achtzehn">base.bund.de: Laufzeitverlängerung deutscher Atomkraftwerke, Stand 26.07.2022</ref><br />
<br />
In der Vereinbarung zwischen Minister und Betreibern wurde festgelegt, dass sich an den aktuellen Sicherheitsanforderungen nichts ändert. Die Pflicht zur PSÜ bleibt ausgesetzt, die Betreiber bleiben in der atomrechtlichen Verantwortung und Haftung.<ref name="zwei" /><br />
<br />
Der Streckbetrieb birgt jedoch ein ganz eigenes Sicherheitsproblem. Denn wenn jedes ungeplante Herunterfahren des Reaktors bedeutet, dass dieser aufgrund des fortgeschrittenen Abbrandes gar nicht mehr in Betrieb gehen kann, ist zu befürchten, dass selbst bei erheblichen Problemen auf jeden Fall ein Abschalten vermieden werden wird.<br />
<br />
Im Gegensatz dazu sieht der TÜV Süd in seiner Stellungnahme für das Bayerische Staatsministerium für Umwelt weder bei einer Laufzeitverlängerung des AKW Ohu 2 noch bei einer Wiederinbetriebnahme des AKW Gundremmingen C irgendwelche Sicherheitsprobleme.<ref name="dreizehn" /> Der TÜV Süd ist seit Jahrzehnten als Gutachter für die AKW-Betreiber unterwegs und hat noch nie Sicherheitsprobleme gesehen. Der gleiche TÜV Süd hatte auch trotz offensichtlicher Sicherheitsbedenken die Stabilität des 85 Meter hohen Damms der Eisenerzmine Córrego do Feijão zertifiziert. Bei dem Dammbruch im Januar 2019 starben mehr als 270 Menschen und das Gebiet wurde mit giftigem Schlamm überflutet.<ref name="neunzehn">tagesschau.de: Verfahren gegen TÜV Süd wird ausgeweitet, 24.01.2022</ref><br />
<br />
=== Wer die Kosten trägt ===<br />
Noch vor wenigen Monaten hatten sich die Betreiber der Atomkraftwerke gegen eine Laufzeitverlängerung ausgesprochen und eine Zustimmung höchstens in Aussicht gestellt, falls der Staat alle Kosten und Risiken übernimmt.<ref name="zwanzig">bmuv.de: Fragen und Antworten zur AKW-Laufzeitverlängerung, Stand 24.06.2022</ref><br />
<br />
In der Vereinbarung zwischen Minister und Betreibern wurde festgelegt, dass davon ausgegangen wird, dass im Falle des Weiterbetriebs der Anlagen die Kosten durch die Erlöse für den Strom gedeckt werden würden. Sollte dies nicht eintreffen, erhalten die Betreiber vom Staat einen "Verlustausgleich".<ref name="zwei" /><br />
<br />
Sollte ein Reaktor nicht weiterbetrieben werden, würden die Kosten für Stillstände, Personal- und Sachkosten, Aufwand für behördliche Verfahren, Erfüllung Meldepflichten, Kosten für Deckungskäufe im Fall von Stillständen vor dem 31.12.2022, Kosten für Verzögerung des Rückbaus beim betreffenden AKW und anderen Atomkraftwerken des Konzerns sowie für die Vorhaltung in Reserve vom Staat übernommen werden.<ref name="zwei" /><br />
<br />
''Ursula Schönberger, Projektleiterin Atommüllreport''<br />
<br />
Erstveröffentlicht im Atommüllreport:<br />
* https://atomuellreport.de/themen/detail/laufzeiterlaengerung-sinnlos-gefaehrlich-und-teuer.html<br />
<br />
<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
<br />
<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Lehren_aus_dem_Ukrainekonflikt_%E2%80%93_Krisen_vorbeugen,_Gewalt_verhindern&diff=218492022-01:Lehren aus dem Ukrainekonflikt – Krisen vorbeugen, Gewalt verhindern2022-10-21T05:52:23Z<p>WikiSysop: </p>
<hr />
<div>'''''Rezension:'''''<br />
== Lehren aus dem Ukrainekonflikt – Krisen vorbeugen, Gewalt verhindern ==<br />
'''fb''' Dieser von Andreas Heinemann-Grüder, Claudia Crawford und Tim B. Peters herausgegebene Tagungsband erschien kurz vor der Invasion der russischen Armee in der Ukraine im Frühjahr 2022. Er trägt Beiträge von Expert*innen verschiedener Felder zusammen und umfasst sowohl militärische als auch politikwissenschaftliche Perspektiven, behandelt die Sondermission der OSZE, diskutiert sowjetische und russische Außenpolitik in Hinblick auf die Drohung mit dem größten Atomwaffenarsenal der Welt sowie die Positionen verschiedener Regierungen in diesem Konflikt. Obwohl das Thema des Buches nicht der aktuelle Krieg ist, sondern die sieben vorausgehenden Jahre einschließlich der Annexion der Krim durch Russland 2014 und der Ausrufung der prorussischen Separatisten-Republiken im Donbass zugrunde liegen, zeichnet es erstaunliche Parallelen insofern, als Erkenntnisse und Positionen, die seit dem 24. Februar 2022 medial oft als „neu“ präsentiert werden, in Fachkreisen schon seit vielen Jahren erörtert werden.<br />
<br />
Auf den Punkt bringt diese Einschätzung die Verwendung des Begriffs der „Zeitenwende“, die heute im allgemeinen – bestätigt durch eine Fachartikelrecherche in politikwissenschaftlichen Datenbanken – Putins seit dem Frühjahr laufende „Militärische Spezialoperation“ meint und insbesondere Bundeskanzler Olaf Scholz zugeordnet wird, der diesen Begriff bei seiner Ansprache vor dem Bundestag kurz nach Kriegsbeginn benutzte. Tatsächlich wurde dieser Terminus aber bereits seit 2014 auf die veränderte russische Politik gegenüber der EU und den USA nach der Rückkehr Putins ins Präsidentenamt und insbesondere im Angesicht der militärischen russischen Interventionen in der Ukraine angewandt.<br />
<br />
Sicherlich sind Stellungnahmen und Einschätzungen in Kriegszeiten besonders kritisch zu beäugen, weil auch um Informationen und die öffentliche Meinung Krieg geführt wird, und nicht nur die direkt kämpfenden Parteien Ukraine und Russland hierbei gewichtige Interessen verfolgen, sondern auch viele andere Staaten und Akteur*innen Deutungshoheit anstreben. Aspekte wie Transparenz, Ehrlichkeit und offene Diskussionskultur sind in einem laufenden Krieg noch schwieriger als ohnehin schon, weil einerseits der direkte Zugang zu Orten und betroffenen Personen komplizierter, teils sogar nicht möglich, ist, andererseits weil unterstellt werden muss, dass Akteur*innen, die das Töten von Menschen als – unter Kriegsbedingungen – alltägliche Normalität und legitim betrachten, auch mit Informationen strategisch umgehen. In diesem Zusammenhang ist der Kontext der Publikation nicht unbedeutend. Die Tagung, von deren Vortragenden einige diesem Buch – aktualisierte – Beiträge beisteuerten, fand im September 2020 in Wien statt und wurde von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung organisiert. Dass diese ihre Veranstaltungen – wie andere Parteistiftungen auch – strategisch ausrichtet und durch eine eigene Agenda motiviert Redner*innen und Beiträge auswählt, kann als sicher angenommen werden. Dies sollte im Hinterkopf behalten werden, auch wenn die Analysen von unabhängigen Expert*innen verantwortet werden. Die Auswahl der behandelten Fakten, die Analyseperspektiven und die Interpretationen können dadurch beeinflusst sein.<br />
<br />
Der Tagungsband ist angesichts des andauernden Blutvergießens in der Ukraine und der grundsätzlichen Infragestellung des in der Konsequenz des Zweiten Weltkriegs entwickelten internationalen Rechts sowie der nach dem Ende des Kalten Krieges entstandenen europäischen Friedenssicherungsinstrumente hochbedeutend und aufschlussreich. Die Eskalation der nun Wirklichkeit gewordenen, im Buch erst noch erörterten, außenpolitischen Aggression des Putinschen Regimes wird zu einem Zeitpunkt erörtert und diskutiert, als viele der Autor*innen noch hofften, dass es nicht dazu kommen würde, unterliegt damit also einem geringeren Risiko der kriegerischen Instrumentalisierung von Information, als dies der Fall ist, wenn der Krieg gerade aktiv geführt wird und die Verfasser*innen aus Staaten kommen, die, wenn derzeit auch nur indirekt, am Kriegsverlauf beteiligt sind. Vorteilhaft in diesem Sinne erscheint auch, dass die damalige Russlandpolitik der CDU-geführten Bundesregierung einen deutlich anderen Kurs hatte und Russland bevorzugt behandelte. Die hier publizierten Einschätzungen entsprechen daher kaum einer Strategie zur Unterstützung der (damaligen) deutschen Regierungspolitik.<br />
<br />
Tatsächlich ist jeder einzelne Beitrag spannend und voller interessanter Informationen und Einschätzungen. Hier im Detail auf alles einzugehen, ist unmöglich. Stattdessen sollen nur beispielhaft einzelne Themenfelder angerissen werden. So wird zu Beginn ein politikwissenschaftlicher Überblick verschiedener Theorierichtungen in den Internationalen Beziehungen geboten, welcher nicht nur die Grundzüge dieser Denkschulen umfasst. Vielmehr werden die theoretischen Perspektiven und Schlussfolgerungen, die sich aus diesen ergeben, anschaulich auf den seit 2014 in der Ukraine laufenden Krieg angewendet. Diese Theorien sind nicht nur Fachkreisen vorbehalten, sondern spiegeln sich in den medialen Analysen und Positionierungen wider, die bekanntermaßen von imperialistischen Ambitionen des Diktators Putin bis zu einer Schuldzuweisung an „den Westen“ für den russischen Angriff auf die Ukraine reichen. Auch wenn solche, oft sich diametral widersprechend scheinenden, politischen Statements in den Medien ideologisch fundiert wirken, basieren einige ihrer Ideen auf den außenpolitischen Theorieschulen der Internationalen Beziehungen. Diese Theorien nehmen in Hinblick auf den Ukrainekonflikt oft verschiedene Perspektiven ein, beleuchten unterschiedliche Aspekte – und müssen sich deshalb nicht immer widersprechen, auch wenn die öffentlich daraus gezogenen Schlussfolgerungen zu entgegengesetzten Beschuldigungen bzw. Stellungnahmen führen. Auf diesen, teils kombinierten, Interpretationen russischer Außenpolitik bauen wiederum geläufige politische Antworten, auch deutscher, Politiker*innen auf, die vereinfacht als „Entspannungspolitik“, „Eindämmung/Abschreckung“ oder „Systemwandel“ bezeichnet werden können. Somit hilft der Tagungsband zu verstehen, auf welchen Annahmen und Sichtweisen gängige politische Forderungen basieren, aber auch zu erkennen, dass sie jeweils nur Antworten auf Teile des komplexen politischen Gesamtbildes sein könnten.<br />
<br />
Einer intensiven Analyse wird die deutsche Russlandpolitik unterworfen. Hierbei geht es um Grundannahmen über die Intentionen und Verhaltensweisen der russischen Regierung, die Argumentation deutscher Positionen und die tatsächlichen Handlungsmuster Russlands in den letzten zehn Jahren. In diesem Zusammenhang wird einerseits die veränderte Rolle der Bundesregierung als aktiver Part bei der europäischen Sanktionspolitik infolge der Krimannexion, andererseits ihr widersprüchliches Auftreten mit konsequenzlosen Megakooperationen wie Nord Stream 2, mit denen Russlands Politik gegen die Ukraine gefördert wird, angesprochen und herausgestellt, wie diese Inkonsequenz der russischen Führung gezeigt hat, dass die deutsche Politik sich beeinfluss- und erpressbar hält.<br />
<br />
Faszinierend ist auch die Erörterung der Geschichte russischer Innenpolitik seit der Auflösung der Sowjetunion sowie des Einflusses der Einstellungen relevanter Geburtenjahrgänge des Landes auf die Außenpolitik. Hier spielten die enttäuschten Hoffnungen auf Annäherungen des Lebensstandards an die westlicher Länder offenbar eine wichtige Rolle bei der Rückkehr zum kurzzeitig überwundenem Feindbild „Westen“. Nachdem die anfangs von Putin angestrebte Verbreiterung des Mittelstandes in Russland zugunsten einer winzigen Elite von Superreichen scheiterte, tauschte dieser seine politische Zielgruppe aus und orientierte seine Argumentation von da an an den anti-westlichen Ressentiments der älteren Bevölkerungsgruppe.<br />
<br />
Spannend wäre es zu erfahren, wie die Autor*innen ihre Analysen und Einschätzungen nach Beginn der russischen Offensive in der Ukraine bewerten bzw. aktualisieren würden. Vieles deutet darauf hin, dass sie ihre Prognosen und Annahmen der Basis von Putins Handeln und der erforderlichen Antwort der internationalen Gemeinde im Wesentlichen als bestätigt betrachten würden.<br />
<br />
* Heinemann-Grüder, Andreas; Crawford, Claudia; Peters, Tim B. (Hrsg.): Lehren aus dem Ukrainekonflikt. Krisen vorbeugen, Gewalt verhindern<br />
* Verlag Barbara Budrich, Opladen 2022<br />
* 249 Seiten, Paperback<br />
* ISBN: 978-3-8474-2555-7<br />
<br />
<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
<br />
{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Rezensionen]]<br />
[[Kategorie: Militarismus]]<br />
[[Kategorie: Außenpolitik]]<br />
[[Kategorie: Innenpolitik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Lehren_aus_dem_Ukrainekonflikt_%E2%80%93_Krisen_vorbeugen,_Gewalt_verhindern&diff=218482022-01:Lehren aus dem Ukrainekonflikt – Krisen vorbeugen, Gewalt verhindern2022-10-21T05:52:00Z<p>WikiSysop: Korrekturen</p>
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<div>'''''Rezension:'''''<br />
== Lehren aus dem Ukrainekonflikt – Krisen vorbeugen, Gewalt verhindern ==<br />
'''fb''' Dieser von Andreas Heinemann-Grüder, Claudia Crawford und Tim B. Peters herausgegebene Tagungsband erschien kurz vor der Invasion der russischen Armee in der Ukraine im Frühjahr 2022. Er trägt Beiträge von Expert*innen verschiedener Felder zusammen und umfasst sowohl militärische als auch politikwissenschaftliche Perspektiven, behandelt die Sondermission der OSZE, diskutiert sowjetische und russische Außenpolitik in Hinblick auf die Drohung mit dem größten Atomwaffenarsenal der Welt sowie die Positionen verschiedener Regierungen in diesem Konflikt. Obwohl das Thema des Buches nicht der aktuelle Krieg ist, sondern die sieben vorausgehenden Jahre einschließlich der Annexion der Krim durch Russland 2014 und der Ausrufung der prorussischen Separatisten-Republiken im Donbass zugrunde liegen, zeichnet es erstaunliche Parallelen insofern, als Erkenntnisse und Positionen, die seit dem 24. Februar 2022 medial oft als „neu“ präsentiert werden, in Fachkreisen schon seit vielen Jahren erörtert werden.<br />
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Auf den Punkt bringt diese Einschätzung die Verwendung des Begriffs der „Zeitenwende“, die heute im allgemeinen – bestätigt durch eine Fachartikelrecherche in politikwissenschaftlichen Datenbanken – Putins seit dem Frühjahr laufende „Militärische Spezialoperation“ meint und insbesondere Bundeskanzler Olaf Scholz zugeordnet wird, der diesen Begriff bei seiner Ansprache vor dem Bundestag kurz nach Kriegsbeginn benutzte. Tatsächlich wurde dieser Terminus aber bereits seit 2014 auf die veränderte russische Politik gegenüber der EU und den USA nach der Rückkehr Putins ins Präsidentenamt und insbesondere im Angesicht der militärischen russischen Interventionen in der Ukraine angewandt.<br />
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Sicherlich sind Stellungnahmen und Einschätzungen in Kriegszeiten besonders kritisch zu beäugen, weil auch um Informationen und die öffentliche Meinung Krieg geführt wird, und nicht nur die direkt kämpfenden Parteien Ukraine und Russland hierbei gewichtige Interessen verfolgen, sondern auch viele andere Staaten und Akteur*innen Deutungshoheit anstreben. Aspekte wie Transparenz, Ehrlichkeit und offene Diskussionskultur sind in einem laufenden Krieg noch schwieriger als ohnehin schon, weil einerseits der direkte Zugang zu Orten und betroffenen Personen komplizierter, teils sogar nicht möglich, ist, andererseits weil unterstellt werden muss, dass Akteur*innen, die das Töten von Menschen als – unter Kriegsbedingungen – alltägliche Normalität und legitim betrachten, auch mit Informationen strategisch umgehen. In diesem Zusammenhang ist der Kontext der Publikation nicht unbedeutend. Die Tagung, von deren Vortragenden einige diesem Buch – aktualisierte – Beiträge beisteuerten, fand im September 2020 in Wien statt und wurde von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung organisiert. Dass diese ihre Veranstaltungen – wie andere Parteistiftungen auch – strategisch ausrichtet und durch eine eigene Agenda motiviert Redner*innen und Beiträge auswählt, kann als sicher angenommen werden. Dies sollte im Hinterkopf behalten werden, auch wenn die Analysen von unabhängigen Expert*innen verantwortet werden. Die Auswahl der behandelten Fakten, die Analyseperspektiven und die Interpretationen können dadurch beeinflusst sein.<br />
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Der Tagungsband ist angesichts des andauernden Blutvergießens in der Ukraine und der grundsätzlichen Infragestellung des in der Konsequenz des Zweiten Weltkriegs entwickelten internationalen Rechts sowie der nach dem Ende des Kalten Krieges entstandenen europäischen Friedenssicherungsinstrumente hochbedeutend und aufschlussreich. Die Eskalation der nun Wirklichkeit gewordenen, im Buch erst noch erörterten, außenpolitischen Aggression des Putinschen Regimes wird zu einem Zeitpunkt erörtert und diskutiert, als viele der Autor*innen noch hofften, dass es nicht dazu kommen würde, unterliegt damit also einem geringeren Risiko der kriegerischen Instrumentalisierung von Information, als dies der Fall ist, wenn der Krieg gerade aktiv geführt wird und die Verfasser*innen aus Staaten kommen, die, wenn derzeit auch nur indirekt, am Kriegsverlauf beteiligt sind. Vorteilhaft in diesem Sinne erscheint auch, dass die damalige Russlandpolitik der CDU-geführten Bundesregierung einen deutlich anderen Kurs hatte und Russland bevorzugt behandelte. Die hier publizierten Einschätzungen entsprechen daher kaum einer Strategie zur Unterstützung der (damaligen) deutschen Regierungspolitik.<br />
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Tatsächlich ist jeder einzelne Beitrag spannend und voller interessanter Informationen und Einschätzungen. Hier im Detail auf alles einzugehen, ist unmöglich. Stattdessen sollen nur beispielhaft einzelne Themenfelder angerissen werden. So wird zu Beginn ein politikwissenschaftlicher Überblick verschiedener Theorierichtungen in den Internationalen Beziehungen geboten, welcher nicht nur die Grundzüge dieser Denkschulen umfasst. Vielmehr werden die theoretischen Perspektiven und Schlussfolgerungen, die sich aus diesen ergeben, anschaulich auf den seit 2014 in der Ukraine laufenden Krieg angewendet. Diese Theorien sind nicht nur Fachkreisen vorbehalten, sondern spiegeln sich in den medialen Analysen und Positionierungen wider, die bekanntermaßen von imperialistischen Ambitionen des Diktators Putin bis zu einer Schuldzuweisung an „den Westen“ für den russischen Angriff auf die Ukraine reichen. Auch wenn solche, oft sich diametral widersprechend scheinenden, politischen Statements in den Medien ideologisch fundiert wirken, basieren einige ihrer Ideen auf den außenpolitischen Theorieschulen der Internationalen Beziehungen. Diese Theorien nehmen in Hinblick auf den Ukrainekonflikt oft verschiedene Perspektiven ein, beleuchten unterschiedliche Aspekte – und müssen sich deshalb nicht immer widersprechen, auch wenn die öffentlich daraus gezogenen Schlussfolgerungen zu entgegengesetzten Beschuldigungen bzw. Stellungnahmen führen. Auf diesen, teils kombinierten, Interpretationen russischer Außenpolitik bauen wiederum geläufige politische Antworten, auch deutscher, Politiker*innen auf, die vereinfacht als „Entspannungspolitik“, „Eindämmung/Abschreckung“ oder „Systemwandel“ bezeichnet werden können. Somit hilft der Tagungsband zu verstehen, auf welchen Annahmen und Sichtweisen gängige politische Forderungen basieren, aber auch zu erkennen, dass sie jeweils nur Antworten auf Teile des komplexen politischen Gesamtbildes sein könnten.<br />
<br />
Einer intensiven Analyse wird die deutsche Russlandpolitik unterworfen. Hierbei geht es um Grundannahmen über die Intentionen und Verhaltensweisen der russischen Regierung, die Argumentation deutscher Positionen und die tatsächlichen Handlungsmuster Russlands in den letzten zehn Jahren. In diesem Zusammenhang wird einerseits die veränderte Rolle der Bundesregierung als aktiver Part bei der europäischen Sanktionspolitik infolge der Krimannexion, andererseits ihr widersprüchliches Auftreten mit konsequenzlosen Megakooperationen wie Nord Stream 2, mit denen Russlands Politik gegen die Ukraine gefördert wird, angesprochen und herausgestellt, wie diese Inkonsequenz der russischen Führung gezeigt hat, dass die deutsche Politik sich beeinfluss- und erpressbar hält.<br />
<br />
Faszinierend ist auch die Erörterung der Geschichte russischer Innenpolitik seit der Auflösung der Sowjetunion sowie des Einflusses der Einstellungen relevanter Geburtenjahrgänge des Landes auf die Außenpolitik. Hier spielten die enttäuschten Hoffnungen auf Annäherungen des Lebensstandards an die westlicher Länder offenbar eine wichtige Rolle bei der Rückkehr zum kurzzeitig überwundenem Feindbild „Westen“. Nachdem die anfangs von Putin angestrebte Verbreiterung des Mittelstandes in Russland zugunsten einer winzigen Elite von Superreichen scheiterte, tauschte dieser seine politische Zielgruppe aus und orientierte seine Argumentation von da an an den anti-westlichen Ressentiments der älteren Bevölkerungsgruppe.<br />
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Spannend wäre es zu erfahren, wie die Autor*innen ihre Analysen und Einschätzungen nach Beginn der russischen Offensive in der Ukraine bewerten bzw. aktualisieren würden. Vieles deutet darauf hin, dass sie ihre Prognosen und Annahmen der Basis von Putins Handeln und der erforderlichen Antwort der internationalen Gemeinde im Wesentlichen als bestätigt betrachten würden.<br />
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* Heinemann-Grüder, Andreas; Crawford, Claudia; Peters, Tim B. (Hrsg.): Lehren aus dem Ukrainekonflikt. Krisen vorbeugen, Gewalt verhindern<br />
* Verlag Barbara Budrich, Opladen 2022<br />
* 249 Seiten, Paperback<br />
* ISBN: 978-3-8474-2555-7.<br />
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<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Rezensionen]]<br />
[[Kategorie: Militarismus]]<br />
[[Kategorie: Außenpolitik]]<br />
[[Kategorie: Innenpolitik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Ist_digitale_Souver%C3%A4nit%C3%A4t_m%C3%B6glich%3F&diff=218472022-01:Ist digitale Souveränität möglich?2022-10-21T05:50:33Z<p>WikiSysop: Korrekturen</p>
<hr />
<div>== Ist digitale Souveränität möglich? ==<br />
'''fb''' In den letzten zehn Jahren ist auch in westlichen Demokratien das Thema „digitale Souveränität“ ein prägender Aspekt der Diskussionen um die Rolle des Internets und die Implementierung von Internetpolitik geworden (vgl. Pohle/Thiel 2019: 70). Die vorausgegangenen Diskurse um staatliche Souveränität vs. eine digitale globale Netzwerkwelt brachten äußerst unterschiedliche Perspektiven und Deutungen zu diesem Spannungsfeld hervor, die in einer Vielzahl ganz verschiedener Definitionen digitaler Souveränität im aktuellen Diskurs wiedergefunden werden können (vgl. Goldacker 2017: 3). Voraussetzung für die Beantwortung der Frage, ob digitale Souveränität unter den aktuellen Umständen möglich ist, ist es, einen sinnvollen Rahmen zu dafür setzen, was unter digitaler Souveränität verstanden werden soll. Diesen vorausgesetzt wird in diesem Essay argumentiert, dass die Frage doppelt bejaht werden kann: Sie ist sowohl sinnvoll als auch möglich.<br />
<br />
Vom Fraunhofer Kompetenzzentrum Öffentliche IT wird folgende Kurzdefinition vorgeschlagen: <br />
''"Digitale Souveränität ist die Summe aller Fähigkeiten und Möglichkeiten von Individuen und Institutionen, ihre Rolle(n) in der digitalen Welt selbstständig, selbstbestimmt und sicher ausüben zu können." (Goldacker 2017: 3)''<br />
<br />
So elegant und prägnant dieser Formulierungsvorschlag wirken mag, ist mit dieser Definition eine Beweisführung für das Zutreffen der Fragestellung dieses Beitrags unmöglich. Etwas, das alle Fähigkeiten und Möglichkeiten umfasst, kann nur eine Zielformulierung, eine Vision sein, aber unmöglich in einer komplexen Realität mit höchst unterschiedlichen Individuen, gesellschaftlichen Prozessen und Machtverteilungen Erfüllung finden<ref>Die These könnte durch ein einziges Gegenbeispiel, bei dem es nicht gelingt, den Fähigkeiten bzw. Möglichkeiten eines Individuums (oder Personengruppe) gerecht zu werden, widerlegt werden.</ref>. Wird die angebotene Definition dagegen als Vision verstanden, der sich die realen Gegebenheiten möglichst perfekt annähern sollen, ist eine Argumentation zumindest möglich.<br />
<br />
Weiterhin ist eine Einschränkung auf Demokratien notwendig, da die Ziele und Interpretationen digitaler Souveränität von autokratischen Systemen wie China und Russland in wesentlichen Teilen von den aktuellen Diskursen in demokratischen Gesellschaften abweichen (vgl. Pohle/Thiel 2019: 70 ff.). Es handelt sich somit um verschiedene Ideen digitaler Souveränität, die vermutlich sich widersprechende Argumentationslinien erfordern würden. Bei Fokussierung auf die demokratische Perspektive kann dagegen festgehalten werden, dass es um „Selbstbestimmungsfähigkeit im digitalen Raum“ (Pohle/Thiel 2019: 70) geht, was die Sicherheit staatlicher und in Unternehmensbesitz befindlicher IT-Infrastrukturen, Datenschutz, Stärkung von Nutzer*innenrechten und wirtschaftliche Stabilität umfasst (vgl. Pohle/Thiel 2019: 72). Digitale Souveränität meint somit nicht nur die staatliche Souveränität, sondern auch die Souveränität des Individuums (vgl. Pohle/Thiel 2019: 73). Diese Definition voraussetzend, kann nun gezeigt werden, dass digitale Souveränität sowohl sinnvoll als auch möglich ist. <br />
<br />
Selbstbestimmung bedeutet insbesondere über die Bedingungen der Verwendung der eigenen Daten entscheiden zu können. Dies erfordert sowohl rechtliche Rahmenbedingungen als auch digitale Kompetenzen. Die Nutzer*innen müssen verstehen, was mit ihren Daten geschieht, welche Interessen an deren Verwendung durch Dritte bestehen können, wie sie vertraglich und softwareseitig ihre Datenfreigaben konfigurieren können und müssen Zugriff auf geeignete Programme haben. Die Unternehmen und Einrichtungen, die persönliche Daten verarbeiten, wiederum müssen wirkungsvoll dazu bewegt werden, diese Möglichkeiten zu schaffen und entsprechende Wünsche der Datengeber*innen zu respektieren. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, drohen eine ganze Reihe von Nachteilen für die Datengeber*innen – angefangen mit Übervorteilung bei der Profiterzielung im Zuge der Weiterverwendung über die unerwünschte Erzeugung umfangreicher Personenprofile, die manipulative Selektion bereitgestellter Inhalte und Angebote bis hin zu kriminellen Akten wie Identitätsdiebstahl (vgl. Goldacker 2017: 3, 5, 7, 12). Datenschutz und die Sicherstellung von Nutzer*innenrechten sind somit augenscheinlich sinnvoll für die Mitglieder der Gesellschaft.<br />
<br />
Mit zunehmender Digitalisierung der Gesellschaft steigt nicht nur die Abhängigkeit von IT-Sicherheit bei Unternehmen, die digitale Dienstleistungen anbieten oder auch nur Daten digital verarbeiten, sondern auch bei staatlichen Einrichtungen und Individuen: Die Grundprinzipien der Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Integrität von Daten werden wichtiger, da immer mehr Informationen digital verfügbar sind bzw. bereitgestellt werden müssen, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Immer mehr Aktivitäten und Dienstleistungen erfolgen über digitale Wege und ein Ausfall von Systemen kann zumindest temporär zum Ausschluss aus Kommunikation und Nutzung von privaten sowie beruflich erforderlichen Diensten führen. Die Vertrauenswürdigkeit, dass diese nicht manipuliert wurden, wird umso bedeutungsvoller, umso mehr auf digitale Daten gesetzt wird. Die IT-Infrastruktur von Staat und Wirtschaft kann sowohl das Ziel feindlicher Attacken (Terrorismus, kriegerische Aktivitäten, externe politische Einflussnahme) als auch für Wirtschaftskriminalität (Identitätsdiebstahl etc., um sich fremden Besitz anzueignen) werden. Sie vor solchen Szenarien zu schützen, ist daher sowohl auf der Makroebene für den Staat, als auch auf der Mesoebene für Unternehmen und Vereinigungen, sowie auf der Mikroebene für die individuellen Bürger*innen sinnvoll.<br />
<br />
Von einer derzeit nationalstaatlich organisierten Welt ausgehend, in der nur einzelne Themenfelder durch globale Institutionen und meist auf hohem Abstraktionsniveau reguliert sind, ist zu beobachten, dass die Bedürfnisse der Nutzer*innen digitaler Infrastrukturen realistisch nur von den Nationalstaaten oder institutionell dicht verfassten Regionalorganisationen abgesichert werden können. Einerseits unterscheiden sich die Interessen der beteiligten Unternehmen je nach Profitakkumulierungsstrategie, andererseits sind auch die Bedürfnisse der Bürger*innen abhängig von den jeweiligen Diskursen. Daher verwundert es nicht, dass auch die softwareseitigen Angebote regional variieren und beispielsweise auf Datenschutzinteressen unterschiedlich passend eingehen. Diskussionen beispielsweise in der EU über Ansätze zur Datenlokalisierung im EU-Raum verweisen auf die häufig anzutreffende Überzeugung, dass eigene wirtschaftliche und fachliche Kompetenzen Voraussetzung seien, diesen verschiedenen Interessen gerecht zu werden (vgl. Pohle/Thiel 2019: 72). Damit einher geht die bereits angesprochene wirtschaftliche Stabilität als eines der Elemente des aktuellen Diskurses um digitale Souveränität. Soll die Umsetzung innerhalb eines politischen Systems ausgehandelter Standards nicht von Akteuren außerhalb der eigenen politischen Sphäre abhängig sein, müssen entsprechende Kapazitäten in der eigenen Region und von dort verankerten Institutionen geschaffen werden.<br />
<br />
Regelungen zur Stärkung von Nutzer*innenrechten einschließlich der Gewährleistung von Datenschutz sind möglich, wie die Einführung der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung von 2018 zeigte. Auch an den technischen Möglichkeiten einer Umsetzung besteht kein Zweifel – dies zeigen Anpassungen beispielsweise in gängigen Browsern oder auch bei der Konfigurationsfähigkeit von Webdiensten hinsichtlich der verwendeten Trackingdienste. Dass einige Unternehmen dadurch weniger Profit machen, steht außer Frage, aber offensichtlich können diese trotzdem wirtschaftlich arbeiten, und auch unabhängig davon könnte normativ argumentiert werden, dass es keinen Rechtsanspruch auf Profitmaximierungsmodelle gibt, die auf massivem Eingriff in die Grundrechte der Bürger*innen basieren. Selbstbestimmungsfähigkeit kann durch die Förderung der digitalen Kompetenzen der Nutzer*innen und durch eine rechtliche Verankerung ihres Anspruchs auf Dienste, die eine Adaption an ihre Bedürfnisse ermöglichen, hergestellt werden (vgl. Goldacker 2017: 7 ff.). Dass auch kritische IT-Infrastruktur durch restriktivere Regelungen geschützt werden kann, zeigen die auf dem niedrigeren Niveau von Alltagsanwendungen und Unternehmenssoftware implementierten Sicherheitsmerkmale sowie die Existenz solcher Regelungen für konventionelle Teile der kritischen Infrastruktur. Problematischer erscheint die Möglichkeit des Aspekts wirtschaftlicher Stabilität: Offensichtlich ist diese sehr voraussetzungsreich, da sie vermutlich eine hohe Wirtschaftskraft der betreffenden Gesellschaft erfordert, um sich Produktions- und Bereitstellungsinfrastrukturen sowie hochspezialisierte Fachkräfte leisten zu können. Möglicherweise ist dies ein Kriterium, das nur für wirtschaftlich starke Gesellschaften erreichbar ist.<br />
<br />
Offensichtlich ist digitale Souveränität, wie hier definiert, sinnvoll. Ob sie auch möglich ist, umfasst eine Reihe an Voraussetzungen, von denen die Wirtschaftskraft einer Gesellschaft womöglich die problematischste ist. Zumindest für westliche Demokratien, wie die der BRD oder auch im Rahmen der Europäischen Union, kann die Frage nach der Möglichkeit digitaler Souveränität bejaht werden. Beide erörterte Aspekte haben allerdings theoretischen Charakter, weswegen in der praktischen Umsetzung immer auch Herausforderungen zu erwarten sind. Da digitale Souveränität aber sinnvoll und möglich erscheint, kann durchaus von der Politik gefordert werden, dass sie sich um deren möglichst optimale Umsetzung bemüht.<br />
<br />
<br />
=== Literatur ===<br />
* Goldacker, Gabriele (2017): Digitale Souveränität. Datenschutz und Datensicherheit - DuD. Berlin: Kompetenzzentrum Öffentliche Informationstechnologie.<br />
* Pohle, Julia; Thiel, Thorsten (2019): „Digitale Vernetzung und Souveränität: Genealogie eines Spannungsverhältnisses“. In: Borucki, Isabelle; Schünemann, Wolf J. (Hrsg.) Internet und Staat: Perspektiven auf eine komplizierte Beziehung. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG S. 57–80.<br />
<br />
<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
<br />
{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Technik]]<br />
[[Kategorie: Innenpolitik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Olkiluoto-3_macht_weiter_Probleme&diff=218462022-01:Olkiluoto-3 macht weiter Probleme2022-10-19T09:19:21Z<p>WikiSysop: Korrekturen</p>
<hr />
<div>== Olkiluoto-3 macht weiter Probleme ==<br />
'''fb''' Der Vorzeigereaktor der sogenannten "Renaissance der Atomenergie" Olkiluoto-3 wurde nach mehrjährigen Verspätungen im März dieses Jahr schließlich probeweise ans Stromnetz angeschlossen. Er war 2003 der erste westliche Reaktor, der seit 1988 nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl in Auftrag gegeben wurde. Gleichzeitig ist es der Prototyp der inzwischen schon nicht mehr neuen Reaktorlinie EPR des französischen Atomkonzerns Areva (heute EDF), und damit essentieller erhoffter weltweiter Verkaufsschlager. Einige Jahre später wurde im französischen Flamanville eine zweite EPR-Prototyp-Baustelle gestartet, die bis heute nicht zum Abschluss kam<ref name="WNISR2022">https://www.worldnuclearreport.org/IMG/pdf/wnisr2022-hr.pdf - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Als 2005 in Finnland mit dem Bau von Olkiluoto-3 begonnen wurde, war geplant, den Reaktor 2009 in Betrieb zu nehmen; für die Fertigstellung waren Kosten in Höhe von 3 Mrd. EUR vereinbart worden. Unzählige Konstruktions- und Baumängel führten zu erheblichen Kostensteigerungen und Verzögerungen, so dass der Preis inzwischen mit etwa 11 Mrd. EUR veranschlagt wird und sich die Bauzeit vervierfacht hat<ref name="heise_OL3">https://www.heise.de/news/Atomkraft-Reaktor-3-des-AKW-Olkiluoto-darf-ganz-hochfahren-13-Jahre-verspaetet-7254815.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="WNISR2022" />.<br />
<br />
Nachdem das Schaumodell der modernen westlichen Atomindustrie wenige Monate nach der Probeinbetriebnahme im Sommer 2022 schon wieder repariert werden musste, erfolgte bereits im August der nächste Leistungsabfall aufgrund von Turbinenproblemen<ref>https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Kernkraftwerk_Olkiluoto&oldid=226918107- gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref>https://www.euractiv.de/section/energie/news/finnlands-groesster-atomreaktor-bereitet-erneut-schwierigkeiten/ - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>. Auch am Jahrestag der Atomkatastrophe ereignete sich ein "Vorfall", menschliches oder technisches Versagen, zu dem es in Hochrisikoanlagen nicht kommen darf: Beim Herunterfahren des Reaktors wurde am 26. April unbeabsichtigt die Borsäureeinspeisung gestartet, die eigentlich die Kettenreaktion reguliert und in Notfällen zu den letzten Mitteln zählt, um den Reaktor noch abzuschalten<ref>https://www.tvo.fi/en/index/news/pressreleasesstockexchangereleases/2022/theol3plantunit8217sboronpumpswereturnedonwhendrivingdowntheplanunit.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref>Mitteilung von Fredrik Lundberg, freier Journalist, vom 29. April 2022</ref><ref name="WNISR2022" />. Allen Ereignissen zum Trotz wird der Probebetrieb fortgesetzt. Es ist geplant, zum Jahreswechsel in die reguläre Stromerzeugung überzugehen<ref name="heise_OL3" />.<br />
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<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atom(ausstiegs)politiken_in_EU_und_USA&diff=218452022-01:Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA2022-10-19T09:15:43Z<p>WikiSysop: Korrekturen</p>
<hr />
<div>== Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA ==<br />
'''fb''' Zum Stichtag 1. Juli 2021 stellte die Europäische Union mit 106 in Betrieb befindlichen Reaktoren die weltgrößte Flotte installierter Atomkraftwerksleistung bereit, nur knapp gefolgt von den USA mit 93 Reaktoren. Auf der Ebene der Staaten standen die USA auf Rangplatz 1, gefolgt von Frankreich mit 56 Reaktoren und China mit 53 Reaktoren. Der Anteil von Atomenergie am Strommix machte in den USA 19,7%, in der EU 24,8% aus. 2020 wurde in der Europäischen Union von Regenerativen Energien (ohne Berücksichtigung der Wasserkraft) zum ersten Mal mehr Elektrizität erzeugt als durch Kernspaltung. Atomkraft ist offenbar sowohl in der EU als auch in den USA eine bedeutende Energiequelle (Schneider et al. 2021: 302, 354, 394).<br />
<br />
Den entscheidenden Anteil am Primärenergieverbrauch (also nicht nur Strom) bilden jedoch in beiden Regionen fossile Energieträger. Diese dominieren den Bruttoinlandsenergieverbrauch mit 69,3% in der EU (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2019), während sie in den USA (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2020) sogar 79% ausmachten (EIA 2021; eurostat 2021a).<br />
<br />
=== Status und Perspektiven der Atomkraftnutzung ===<br />
In der Europäischen Union ist die Atomkraft hochgradig umstritten: 13 Mitgliedsstaaten betreiben Atomkraftwerke (AKW), von denen vier einen Atomausstieg beschlossen haben (Belgien, BRD, Spanien, Schweden); 14 Mitgliedsstaaten besitzen keine in Betrieb befindlichen Atomreaktoren, von denen einer (Polen) derzeit versucht ein umfangreiches Atomprogramm umzusetzen (.ausgestrahlt 2019: 24; eurostat 2021b). Drei Reaktoren wurden 2020 stillgelegt (Fessenheim-1+2, Ringhals-1), während sich vier solche im Bau befanden (Olkiluoto-3, Flamanville-3, Mochovce-3+4) – allerdings mit massiven Verspätungen von einem Jahrzehnt und länger sowie mit Kostenexplosionen bis zum 6fachen der ursprünglichen Kalkulationen (Neubauer 2008; Schneider et al. 2021: 75, 77–80, 84, 93, 355). Viele EU-Staaten werden letztlich das Kapitel der Atomstromproduktion aufgrund der zunehmenden Überalterung der Reaktorflotte (durchschnittlich 35,9 Jahre in der EU) und der wirtschaftlichen Unrentabilität neuer Atomkraftwerke in den nächsten Jahrzehnten schließen (Schneider u. a. 2021: 354 ff.).<br />
<br />
Unklar ist bei dieser Einschätzung, die auf der Situation vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine basiert, die Auswirkungen der aktuellen Energiekrise. Diese hat zwar verdeutlicht, wie katastrophal auch in Hinsicht auf die Energieversorgungssicherheit der immer noch hohe Anteil fossiler Energieträger bei der Stromerzeugung ist, allerdings auch Kurzschlussreaktionen und aggressiven pro- nuklearen Lobbyismus verursacht. Derzeit diskutieren verschiedene europäische Regierungen über Laufzeitverlängerungen für von Stilllegungen betroffene alte AKW (Belgien<ref name="jungeWelt_Belgien">https://www.jungewelt.de/artikel/435405.nuklearenergie-aus-f%C3%BCr-schrottmeiler.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref>, BRD), die Aufgabe des Atomausstiegs oder den Neubau von Reaktoren (Bulgarien<ref name="Euraktiv_Bulgarien">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/bulgarien-will-den-bau-eines-neuen-atomreaktors-vorantreiben/ -gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Frankreich<ref name="FrankreichAtomkraft">https://de.investing.com/analysis/frankreich-vereinfacht-bau-von-atomkraftwerken-200476765 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_Frankreich">https://www.euractiv.de/section/energie/news/atomkraft-renaissance-in-frankreich-wirkt-gesetzt-aber-edf-wankt/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Niederlande<ref name="Euraktiv_Niederlande">https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/erstes-kraftwerk-seit-50-jahren-niederlande-kehren-zum-atomstrom-zurueck/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Tschechien<ref name="TschechienSMR">https://www.meinbezirk.at/gmuend/c-lokales/tschechien-baut-neues-mini-atomkraftwerk-in-grenznaehe_a5621755 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Blackout_Temelin">https://blackout-news.de/aktuelles/erstes-europaeisches-mini-akw-wird-in-suedboehmen-gebaut/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_SMR">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/osteuropaeische-laender-wollen-modulare-atomreaktoren-aus-den-usa/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>). Dabei ist die Abhängigkeit von russischen Energiequellen auch in der europäischen Atomindustrie groß: Russland ist der größte Uranexporteur in die EU und mindestens 18 Reaktoren in fünf Mitgliedsstaaten sind auf dessen Brennelemente angewiesen<ref name="AtommuellreportRussland">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/die-bedeutung-der-russischen-atomindustrie-fuer-europa.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Russland">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/10/russische-atom-diplomatie-gef%C3%A4hrdet-sicherheit-europas/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Der Neubau von Atomanlagen ist weiterhin mit großen zeitlichen (Bauzeitüberziehungen) und finanziellen (Preissteigerungen) Problemen konfrontiert und daher unter rationalen Gesichtspunkten keine Option. Infolge der Invasion in der Ukraine ist im Mai nun auch das russische AKW-Neubauprojekt Hanhikivi im Norden Finnlands gescheitert<ref name="Euractiv_Hanhikivi">https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/finnisches-unternehmen-kuendigt-rosatom-vertrag-ueber-kernkraftwerkslieferung/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, für das bereits Naturschutzgebiete verwüstet worden waren<ref name="grbl_Pyhaejoki">https://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2016-01:Mit_Taser_und_Tr%C3%A4nengas_f%C3%BCr_das_finnisch-russische_AKW - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>. Nur Atombombenstaaten haben aufgrund militärischer Interessen eine klare Motivation, die Atomindustrie weiter mit Milliardenbeträgen zu subventionieren<ref name="Atommuellreport_Taxonomie">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/eu-taxonomie-finanzspritze-fuer-die-desastroese-atompolitik-frankreichs.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Auch der Weiterbetrieb alter AKW ist kaum eine Hilfe in der Energiekrise: In der BRD kann Atomstrom nur einen winzigen Anteil der einzusparenden Gaskraftwerkskapazitäten ersetzen. Ein wesentlicher Teil von deren Produktion ist Heizwärme, die von den AKW nicht verfügbar ist. Diese könnten auch kaum zur Kostensenkung bei der Stromerzeugung beitragen. Absurderweise wird nunmehr für den deutschen AKW-Betrieb mit der französischen Atomstrommisere argumentiert, weil das hochgradig von AKW abhängige Land in diesem Jahr zeitweise mehr als die Hälfte seiner Anlagen wegen verschiedenster Probleme nicht nutzen konnte und fast jeden Tag auf Stromimporte aus der BRD in der Größenordnung der Kapazitäten vierer Großkraftwerke angewiesen war<ref name="Atommuellreport_Taxonomie" /><ref name="AtommuellreportLauftzeitverlaengerung">https://atommuellreport.de/themen/detail/laufzeitverlaengerung-sinnlos-gefaehrlich-und-teuer.html - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="FranzoesischeEnergiekrise">https://web.de/magazine/politik/auswirkungen-franzoesische-energiekrise-deutschland-37340700 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Die Auseinandersetzungen um die Zukunft der Atomkraftnutzung in Europa spiegelten sich in den letzten Jahren in den Kämpfen um die Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie wider. Verschiedene EU- und nationale Organisationen ebenso wie Expert*innengruppen veröffentlichten Analysen zu diesem Vorhaben. Die meisten kamen zu dem Schluss, dass es keinesfalls zulässig wäre, Atomkraft als nachhaltige Energiequelle zu behandeln. Trotzdem behauptete das ''Joint Research Centre'', das an mehreren Atomprojekten beteiligt ist, Atomkraft sei nicht schädlicher als andere bereits als nachhaltig eingestufte Energieträger. Viele Länder übten Druck auf die Europäische Kommission sowohl für als auch gegen die Aufnahme der Atomenergie in die EU-Taxonomie aus (Pistner/Englert 2021; Schneider et al. 2021: 38–41). Nach mehrfachen Verzögerungen verkündete die Kommission im Februar 2022, Atomkraft solle zukünftig als nachhaltige Energiequelle gelten. Im Juli stimmte auch das EU-Parlament knapp der Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie zu. Inzwischen haben mehrere EU-Staaten und Organisationen Klagen vor dem EU-Gerichtshof dagegen eingereicht <ref name"NAU_Taxonomie">https://www.nau.ch/ort/basel/klage-gegen-grunes-eu-label-fur-atomenergie-eingereicht-66291417 - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Taxonomie">https://www.ausgestrahlt.de/themen/europa-und-atom/eu-taxonomie/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_YelloDeal">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/01/05/eu-taxonomie-analysiert-yellow-deal-statt-klimaschutz/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="dont-nuke-taxonomy">https://dont-nuke-the-taxonomy.eu/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref><ref name="Stern_Taxonomie">https://www.stern.de/news/oesterreich-klagt-wegen-einstufung-von-atomkraft-als-nachhaltig-vor-eugh-32794520.html - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Krone_Taxonomie">https://www.kronehit.at/news/gruenes-label-fuer-atomkraft-2/ - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Tagesschau_Klagen">https://www.tagesschau.de/ausland/oesterreich-klage-taxonomie-atomkraft-101.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref><ref name="Oekonews_Greenpeace">https://www.oekonews.at/?mdoc_id=1175330 - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="heise_Klagen">https://www.heise.de/tp/features/Umweltschuetzer-planen-Gemeinschaftsklage-gegen-EU-Taxonomie-7269696.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Auch in den Vereinigten Staaten konnte ein Rückgang der Nutzung der Atomenergie in den vergangenen Jahren festgestellt werden. 2021 wurden zwei Reaktoren stillgelegt, einer in Iowa (Duane Arnold-1) und ein weiterer im Bundesstaat New York (Indian Point-2). Fast alle Atomreaktoren in den USA haben inzwischen ein Alter zwischen 31-40 Jahren (46 Reaktoren) oder 41-50 Jahren (41 Reaktoren) erreicht, während lediglich einer jünger als 10 Jahre ist. Die übliche erlaubte Betriebszeit eines Atomkraftwerks liegt bei Inbetriebnahme in den USA bei 40 Jahren. Diese wurde bereits um 20 Jahre für 85 der derzeit betriebenen Anlagen verlängert. Eine NRC<ref>NRC: Nuclear Regulatory Commission; eine für die Atomsicherheit zuständige US-Bundesbehörde</ref>-Richtlinie aus dem Jahr 2017 ermöglicht eine weitere Laufzeitverlängerung um zusätzliche 20 Jahre, so dass Reaktoren bis zu 80 Jahre in Betrieb bleiben könnten. 6 Anlagen erhielten eine entsprechende Genehmigung bereits (Schneider et al. 2021: 147, 149–150).<br />
<br />
Die Biden-Regierung will die Treibhausgasemissionen der USA durch die Unterstützung der Atomkraft reduzieren, insbesondere mithilfe des ''Zero-emission Nuclear Power Production Credit Act'', der dem Kongress im Juni 2021 vorgelegt wurde. Dies könnte zu einer Steuergutschrift in Höhe von 15 Dollar/MWh führen, die helfen könnte, abgewrackte Atomkraftwerke vor der Stilllegung zu bewahren (WNISR 2021: 148). Zwei Reaktoren befinden sich in den Vereinigten Staaten immer noch im Bau und leiden unter mehr als vervierfachten Herstellungskosten: die Reaktoren 3 und 4 des AKW Vogtle im Bundesstaat Georgia (WNISR 2021: 147, 155 f.). Zusammengefasst befindet sich die US-amerikanische Atomenergienutzung also in einem Prozess der Schrumpfung, weil Reaktoren stillgelegt werden mussten; andererseits versucht die Biden-Regierung diesen zu stoppen, indem sie neue Maßnahmen und finanzielle Unterstützung bereitstellt (Congress 2021; Schneider et al. 2021: 147–148, 155–161).<br />
<br />
=== Fazit ===<br />
Es können eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den Energiepolitiken der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika festgestellt werden: Beide wollen ihre Energiesysteme transformieren, um Treibhausgase in Richtung null zu reduzieren. Beide sind gegenwärtig stark von fossilen Energieträgern abhängig und beide betreiben die gewaltigsten atomaren Reaktorflotten der Welt, erfahren aber eine kontinuierliche Schrumpfung der Atomindustrie. Unterschiede können einerseits hinsichtlich der Konkretheit und Ambitionen in der Klimapolitik gesehen werden<ref>Siehe dazu den Originalartikel, auf dem dieser atomkraftbezogene Auszug basiert und den der Autor im Originalbeitrag verantwortet hat: https://medium.com/unceurope/energy-transformation-nuclear-and-fossil-phase-out-policies-in-eu-and-us-be5c02e2d566</ref>, in der die Europäische Union im Augenblick größere Ziele angehen will. Der Hauptunterschied zwischen den Herangehensweisen in der Atompolitik in der EU und den USA besteht darin, dass die Europäische Union große Uneinigkeit in Hinblick auf die Zukunft der Atomtechnologie aufweist, während in den Vereinigten Staaten für diese Industrie weit mehr möglich ist, da Atomausstiegspolitiken wie in einigen EU-Staaten fehlen. Dementsprechend werden Stilllegungen von Reaktoren in den USA normalerweise durch deren Unwirtschaftlichkeit verursacht, manchmal in Verbindung mit den Auswirkungen von Protesten. In der EU sind die Atompolitiken der Mitgliedsstaaten ziemlich entgegengesetzt, aber solange keine massive staatliche Subventionierung der Atomenergie bereitgestellt wird, wird ihre Verwendung insgesamt - gleichfalls aus wirtschaftlichen Gründen - zurückgehen. Dieser Prozess wird in einigen Ländern abgekürzt durch explizite Ausstiegspolitiken.<br />
<br />
<br />
<br />
=== Literatur ===<br />
* .ausgestrahlt (2019): „Atomkraft auf der Kippe“. .ausgestrahlt-Magazin. Hamburg S. 1–24.<br />
* Congress (2021): „H.R.4024 - Zero-Emission Nuclear Power Production Credit Act of 2021“. congress.gov. U.S. Congress.<br />
* EIA (2021): „Consumption and production“. Energy Information Administration. U.S. Energy Information Administration Abgerufen am 26.11.2021 von https://www.eia.gov/energyexplained/us-energy-facts/.<br />
* eurostat (2021a): „Energy Statistics - an overview“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 26.11.2021 von https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Energy_statistics_-_an_overview#Final_energy_consumption.<br />
* eurostat (2021b): „Nuclear energy statistics“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 25.11.2021 von http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Nuclear_energy_statistics.<br />
* Neubauer, Lundquist (2008): „Erster EPR in Frankreich wird um ein Fünftel teurer als geplant“. Verivox Abgerufen am 25.11.2021 von https://www.verivox.de/strom/nachrichten/erster-epr-in-frankreich-wird-um-ein-fuenftel-teurer-als-geplant-38450/.<br />
* Pistner, Christoph; Englert, Matthias (2021): Nuclear Power and the „do no significant harm“ criteria of the EU Taxonomy. ( Nr. 4/2021) (Oeko-Institut Working Paper).<br />
* Schneider, Mycle; Froggatt, Antony; Hazemann, Julie; u. a. (2021): The World Nuclear Industry Status Report 2021. Paris.<br />
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<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atom(ausstiegs)politiken_in_EU_und_USA&diff=218442022-01:Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA2022-10-16T06:07:49Z<p>WikiSysop: </p>
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<div>== Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA ==<br />
'''fb''' Zum Stichtag 1. Juli 2021 stellte die Europäische Union mit 106 in Betrieb befindlichen Reaktoren die weltgrößte Flotte installierter Atomkraftwerksleistung bereit, nur knapp gefolgt von den USA mit 93 Reaktoren. Auf der Ebene der Staaten standen die USA auf Rangplatz 1, gefolgt von Frankreich mit 56 Reaktoren und China mit 53 Reaktoren. Der Anteil von Atomenergie am Strommix machte in den USA 19,7%, in der EU 24,8% aus. 2020 wurde in der Europäischen Union von Regenerativen Energien (ohne Berücksichtigung der Wasserkraft) zum ersten Mal mehr Elektrizität erzeugt als durch Kernspaltung. Atomkraft ist offenbar sowohl in der EU als auch in den USA eine bedeutende Energiequelle (Schneider et al. 2021: 302, 354, 394).<br />
<br />
Den entscheidenden Anteil am Primärenergieverbrauch (also nicht nur Strom) bilden jedoch in beiden Regionen fossile Energieträger. Diese dominieren den Bruttoinlandsenergieverbrauch mit 69,3% in der EU (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2019), während sie in den USA (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2020) sogar 79% ausmachten (EIA 2021; eurostat 2021a).<br />
<br />
=== Status und Perspektiven der Atomkraftnutzung ===<br />
In der Europäischen Union ist die Atomkraft hochgradig umstritten: 13 Mitgliedsstaaten betreiben Atomkraftwerke (AKW), von denen vier einen Atomausstieg beschlossen haben (Belgien, BRD, Spanien, Schweden); 14 Mitgliedsstaaten besitzen keine in Betrieb befindlichen Atomreaktoren, von denen einer (Polen) derzeit versucht ein umfangreiches Atomprogramm umzusetzen (.ausgestrahlt 2019: 24; eurostat 2021b). Drei Reaktoren wurden 2020 stillgelegt (Fessenheim-1+2, Ringhals-1), während sich vier solche im Bau befanden (Olkiluoto-3, Flamanville-3, Mochovce-3+4) – allerdings mit massiven Verspätungen von einem Jahrzehnt und länger sowie mit Kostenexplosionen bis zum 6fachen der ursprünglichen Kalkulationen (Neubauer 2008; Schneider et al. 2021: 75, 77–80, 84, 93, 355). Viele EU-Staaten werden letztlich das Kapitel der Atomstromproduktion aufgrund der zunehmenden Überalterung der Reaktorflotte (durchschnittlich 35,9 Jahre in der EU) und der wirtschaftlichen Unrentabilität neuer Atomkraftwerke in den nächsten Jahrzehnten schließen (Schneider u. a. 2021: 354 ff.).<br />
<br />
Schwer einzuschätzen sind für diese Einschätzung, die auf der Situation vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine basiert, die Auswirkungen der aktuellen Energiekrise. Diese hat zwar verdeutlicht, wie katastrophal auch in Hinsicht auf die Energieversorgungssicherheit der immer noch hohe Anteil fossiler Energieträger bei der Stromerzeugung ist, allerdings auch Kurzschlussreaktionen und aggressiven pro- nuklearen Lobbyismus verursacht. Derzeit diskutieren verschiedene europäische Regierungen über Laufzeitverlängerungen für von Stilllegungen betroffene alte AKW (Belgien<ref name="jungeWelt_Belgien">https://www.jungewelt.de/artikel/435405.nuklearenergie-aus-f%C3%BCr-schrottmeiler.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref>, BRD), die Aufgabe des Atomausstiegs oder den Neubau von Reaktoren (Bulgarien<ref name="Euraktiv_Bulgarien">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/bulgarien-will-den-bau-eines-neuen-atomreaktors-vorantreiben/ -gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Frankreich<ref name="FrankreichAtomkraft">https://de.investing.com/analysis/frankreich-vereinfacht-bau-von-atomkraftwerken-200476765 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_Frankreich">https://www.euractiv.de/section/energie/news/atomkraft-renaissance-in-frankreich-wirkt-gesetzt-aber-edf-wankt/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Niederlande<ref name="Euraktiv_Niederlande">https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/erstes-kraftwerk-seit-50-jahren-niederlande-kehren-zum-atomstrom-zurueck/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Tschechien<ref name="TschechienSMR">https://www.meinbezirk.at/gmuend/c-lokales/tschechien-baut-neues-mini-atomkraftwerk-in-grenznaehe_a5621755 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Blackout_Temelin">https://blackout-news.de/aktuelles/erstes-europaeisches-mini-akw-wird-in-suedboehmen-gebaut/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_SMR">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/osteuropaeische-laender-wollen-modulare-atomreaktoren-aus-den-usa/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>). Dabei ist die Abhängigkeit von russischen Energiequellen auch in der europäischen Atomindustrie groß: Russland ist der größte Uranexporteur in die EU und mindestens 18 Reaktoren in fünf Mitgliedsstaaten sind auf dessen Brennelemente angewiesen<ref name="AtommuellreportRussland">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/die-bedeutung-der-russischen-atomindustrie-fuer-europa.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Russland">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/10/russische-atom-diplomatie-gef%C3%A4hrdet-sicherheit-europas/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Der Neubau von Atomanlagen ist weiterhin mit großen zeitlichen (Bauzeitüberziehungen) und finanziellen (Preissteigerungen) Problemen konfrontiert und daher unter rationalen Gesichtspunkten keine Option. Infolge der Invasion in der Ukraine ist im Mai nun auch das russische AKW-Neubauprojekt Hanhikivi im Norden Finnlands gescheitert<ref name="Euractiv_Hanhikivi">https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/finnisches-unternehmen-kuendigt-rosatom-vertrag-ueber-kernkraftwerkslieferung/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, für das bereits Naturschutzgebiete verwüstet worden waren<ref name="grbl_Pyhaejoki">https://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2016-01:Mit_Taser_und_Tr%C3%A4nengas_f%C3%BCr_das_finnisch-russische_AKW - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>. Nur Atombombenstaaten haben aufgrund militärischer Interessen eine klare Motivation, die Atomindustrie weiter mit Milliardenbeträgen zu subventionieren<ref name="Atommuellreport_Taxonomie">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/eu-taxonomie-finanzspritze-fuer-die-desastroese-atompolitik-frankreichs.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Auch der Weiterbetrieb alter AKW ist kaum eine Hilfe in der Energiekrise: In der BRD kann Atomstrom nur einen winzigen Anteil der einzusparenden Gaskraftwerkskapazitäten ersetzen. Ein wesentlicher Teil von deren Produktion ist Heizwärme, die von den AKW nicht verfügbar ist. Diese könnten auch kaum zur Kostensenkung bei der Stromerzeugung beitragen. Absurderweise wird nunmehr für den deutschen AKW-Betrieb mit der französischen Atomstrommisere argumentiert, weil das hochgradig von AKW abhängige Land in diesem Jahr zeitweise mehr als die Hälfte seiner Anlagen wegen verschiedenster Probleme nicht nutzen konnte und fast jeden Tag auf Stromimporte aus der BRD in der Größenordnung der Kapazitäten vierer Großkraftwerke angewiesen war<ref name="Atommuellreport_Taxonomie" /><ref name="AtommuellreportLauftzeitverlaengerung">https://atommuellreport.de/themen/detail/laufzeitverlaengerung-sinnlos-gefaehrlich-und-teuer.html - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="FranzoesischeEnergiekrise">https://web.de/magazine/politik/auswirkungen-franzoesische-energiekrise-deutschland-37340700 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Die Auseinandersetzungen um die Zukunft der Atomkraftnutzung in Europa spiegelten sich in den letzten Jahren in den Kämpfen um die Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie wider. Verschiedene EU- und nationale Organisationen ebenso wie Expert*innengruppen veröffentlichten Analysen zu diesem Vorhaben. Die meisten kamen zu dem Schluss, dass es keinesfalls zulässig wäre, Atomkraft als nachhaltige Energiequelle zu behandeln. Trotzdem behauptete das ''Joint Research Centre'', das an mehreren Atomprojekten beteiligt ist, Atomkraft sei nicht schädlicher als andere bereits als nachhaltig eingestufte Energieträger. Viele Länder übten Druck auf die Europäische Kommission sowohl für als auch gegen die Aufnahme der Atomenergie in die EU-Taxonomie aus (Pistner/Englert 2021; Schneider et al. 2021: 38–41). Nach mehrfachen Verzögerungen verkündete die Kommission im Februar 2022, Atomkraft solle zukünftig als nachhaltige Energiequelle gelten. Im Juli stimmte auch das EU-Parlament knapp der Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie zu. Inzwischen haben mehrere EU-Staaten und Organisationen Klagen vor dem EU-Gerichtshof dagegen eingereicht <ref name"NAU_Taxonomie">https://www.nau.ch/ort/basel/klage-gegen-grunes-eu-label-fur-atomenergie-eingereicht-66291417 - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Taxonomie">https://www.ausgestrahlt.de/themen/europa-und-atom/eu-taxonomie/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_YelloDeal">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/01/05/eu-taxonomie-analysiert-yellow-deal-statt-klimaschutz/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="dont-nuke-taxonomy">https://dont-nuke-the-taxonomy.eu/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref><ref name="Stern_Taxonomie">https://www.stern.de/news/oesterreich-klagt-wegen-einstufung-von-atomkraft-als-nachhaltig-vor-eugh-32794520.html - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Krone_Taxonomie">https://www.kronehit.at/news/gruenes-label-fuer-atomkraft-2/ - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Tagesschau_Klagen">https://www.tagesschau.de/ausland/oesterreich-klage-taxonomie-atomkraft-101.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref><ref name="Oekonews_Greenpeace">https://www.oekonews.at/?mdoc_id=1175330 - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="heise_Klagen">https://www.heise.de/tp/features/Umweltschuetzer-planen-Gemeinschaftsklage-gegen-EU-Taxonomie-7269696.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Auch in den Vereinigten Staaten konnte ein Rückgang der Nutzung der Atomenergie in den vergangenen Jahren festgestellt werden. 2021 wurden zwei Reaktoren stillgelegt, einer in Iowa (Duane Arnold-1) und ein weiterer im Bundesstaat New York (Indian Point-2). Fast alle Atomreaktoren in den USA haben inzwischen ein Alter zwischen 31-40 Jahren (46 Reaktoren) oder 41-50 Jahren (41 Reaktoren) erreicht, während lediglich einer jünger als 10 Jahre ist. Die übliche erlaubte Betriebszeit eines Atomkraftwerks liegt bei Inbetriebnahme in den USA bei 40 Jahren. Diese wurde bereits um 20 Jahre für 85 der derzeit betriebenen Anlagen verlängert. Eine NRC<ref>NRC: Nuclear Regulatory Commission; eine für die Atomsicherheit zuständige US-Bundesbehörde</ref>-Richtlinie aus dem Jahr 2017 ermöglicht eine weitere Laufzeitverlängerung um zusätzliche 20 Jahre, so dass Reaktoren bis zu 80 Jahre in Betrieb bleiben könnten. 6 Anlagen erhielten eine entsprechende Genehmigung bereits (Schneider et al. 2021: 147, 149–150).<br />
<br />
Die Biden-Regierung will die Treibhausgasemissionen der USA durch die Unterstützung der Atomkraft reduzieren, insbesondere mithilfe des ''Zero-emission Nuclear Power Production Credit Act'', der dem Kongress im Juni 2021 vorgelegt wurde. Dies könnte zu einer Steuergutschrift in Höhe von 15 Dollar/MWh führen, die helfen könnte, abgewrackte Atomkraftwerke vor der Stilllegung zu bewahren (WNISR 2021: 148). Zwei Reaktoren befinden sich in den Vereinigten Staaten immer noch im Bau und leiden unter mehr als vervierfachten Herstellungskosten: die Reaktoren 3 und 4 des AKW Vogtle im Bundesstaat Georgia (WNISR 2021: 147, 155 f.). Zusammengefasst befindet sich die US-amerikanische Atomenergienutzung also in einem Prozess der Schrumpfung, weil Reaktoren stillgelegt werden mussten; andererseits versucht die Biden-Regierung diesen zu stoppen, indem sie neue Maßnahmen und finanzielle Unterstützung bereitstellt (Congress 2021; Schneider et al. 2021: 147–148, 155–161).<br />
<br />
=== Fazit ===<br />
Es können eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den Energiepolitiken der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika festgestellt werden: Beide wollen ihre Energiesysteme transformieren, um Treibhausgase in Richtung null zu reduzieren. Beide sind gegenwärtig stark von fossilen Energieträgern abhängig und beide betreiben die gewaltigsten atomaren Reaktorflotten der Welt, erfahren aber eine kontinuierliche Schrumpfung der Atomindustrie. Unterschiede können einerseits hinsichtlich der Konkretheit und Ambitionen in der Klimapolitik gesehen werden<ref>Siehe dazu den Originalartikel, auf dem dieser atomkraftbezogene Auszug basiert und den der Autor im Originalbeitrag verantwortet hat: https://medium.com/unceurope/energy-transformation-nuclear-and-fossil-phase-out-policies-in-eu-and-us-be5c02e2d566</ref>, in der die Europäische Union im Augenblick größere Ziele angehen will. Der Hauptunterschied zwischen den Herangehensweisen in der Atompolitik in der EU und den USA besteht darin, dass die Europäische Union große Uneinigkeit in Hinblick auf die Zukunft der Atomtechnologie aufweist, während in den Vereinigten Staaten für diese Industrie weit mehr möglich ist, da Atomausstiegspolitiken wie in einigen EU-Staaten fehlen. Dementsprechend werden Stilllegungen von Reaktoren in den USA normalerweise durch deren Unwirtschaftlichkeit verursacht, manchmal in Verbindung mit den Auswirkungen von Protesten. In der EU sind die Atompolitiken der Mitgliedsstaaten ziemlich entgegengesetzt, aber solange keine massive staatliche Subventionierung der Atomenergie bereitgestellt wird, wird ihre Verwendung insgesamt - gleichfalls aus wirtschaftlichen Gründen - zurückgehen. Dieser Prozess wird in einigen Ländern abgekürzt durch explizite Ausstiegspolitiken.<br />
<br />
<br />
<br />
=== Literatur ===<br />
* .ausgestrahlt (2019): „Atomkraft auf der Kippe“. .ausgestrahlt-Magazin. Hamburg S. 1–24.<br />
* Congress (2021): „H.R.4024 - Zero-Emission Nuclear Power Production Credit Act of 2021“. congress.gov. U.S. Congress.<br />
* EIA (2021): „Consumption and production“. Energy Information Administration. U.S. Energy Information Administration Abgerufen am 26.11.2021 von https://www.eia.gov/energyexplained/us-energy-facts/.<br />
* eurostat (2021a): „Energy Statistics - an overview“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 26.11.2021 von https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Energy_statistics_-_an_overview#Final_energy_consumption.<br />
* eurostat (2021b): „Nuclear energy statistics“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 25.11.2021 von http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Nuclear_energy_statistics.<br />
* Neubauer, Lundquist (2008): „Erster EPR in Frankreich wird um ein Fünftel teurer als geplant“. Verivox Abgerufen am 25.11.2021 von https://www.verivox.de/strom/nachrichten/erster-epr-in-frankreich-wird-um-ein-fuenftel-teurer-als-geplant-38450/.<br />
* Pistner, Christoph; Englert, Matthias (2021): Nuclear Power and the „do no significant harm“ criteria of the EU Taxonomy. ( Nr. 4/2021) (Oeko-Institut Working Paper).<br />
* Schneider, Mycle; Froggatt, Antony; Hazemann, Julie; u. a. (2021): The World Nuclear Industry Status Report 2021. Paris.<br />
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<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Olkiluoto-3_macht_weiter_Probleme&diff=218432022-01:Olkiluoto-3 macht weiter Probleme2022-10-16T06:06:40Z<p>WikiSysop: </p>
<hr />
<div>== Olkiluoto-3 macht weiter Probleme ==<br />
'''fb''' Der Vorzeigereaktor der sogenannten "Renaissance der Atomenergie" Olkiluoto-3 wurde nach mehrjährigen Verspätungen im März dieses Jahr schließlich probeweise ans Stromnetz angeschlossen. Er war 2003 der erste westliche Reaktor, der seit 1988 nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl in Auftrag gegeben wurde. Gleichzeitig ist es der Prototyp der inzwischen schon nicht mehr neuen Reaktorlinie EPR des französischen Atomkonzerns Areva (heute EDF), und damit essentieller erhoffter weltweiter Verkaufsschlager. Einige Jahre später wurde im französischen Flamanville eine zweite EPR-Prototyp-Baustelle gestartet, die bis heute nicht zum Abschluss kam<ref name="WNISR2022">https://www.worldnuclearreport.org/IMG/pdf/wnisr2022-hr.pdf - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Als 2005 in Finnland mit dem Bau von Olkiluoto-3 begonnen wurde, war geplant, den Reaktor 2009 in Betrieb zu nehmen; für die Fertigstellung waren Kosten in Höhe von 3 Mrd. EUR vereinbart worden. Unzählige Konstruktions- und Baumängel führten zu erheblichen Kostensteigerungen und Verzögerungen, so dass der Preis inzwischen mit etwa 11 Mrd. EUR veranschlagt wird und sich die Bauzeit vervierfacht hat<ref name="heise_OL3">https://www.heise.de/news/Atomkraft-Reaktor-3-des-AKW-Olkiluoto-darf-ganz-hochfahren-13-Jahre-verspaetet-7254815.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="WNISR2022" />.<br />
<br />
Nachdem das Schaumodell der modernen westlichen Atomindustrie wenige Monate nach der Probeinbetriebnahme im Sommer 2022 schon wieder repariert werden musste, erfolgte bereits im August der nächste Leistungsabfall aufgrund von Turbinenproblemen<ref>https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Kernkraftwerk_Olkiluoto&oldid=226918107- gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref>https://www.euractiv.de/section/energie/news/finnlands-groesster-atomreaktor-bereitet-erneut-schwierigkeiten/ - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>. Auch am Jahrestag der Atomkatastrophe ereignete sich ein "Vorfall", menschliches oder technisches Versagen, zu dem es in Hochrisikoanlagen nicht kommen darf: Beim Herunterfahren des Reaktors wurde am 26. April unbeabsichtigt die Borsäureeinspeisung gestartet, die eigentlich die Kettenreaktion reguliert und in Notfällen zu den letzten Mitteln zählt, um den Reaktor noch abzuschalten<ref>https://www.tvo.fi/en/index/news/pressreleasesstockexchangereleases/2022/theol3plantunit8217sboronpumpswereturnedonwhendrivingdowntheplanunit.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref>Mitteilung von Fredrik Lundberg, freier Journalist, vom 29. April 2022</ref><ref name="WNISR2022" />. Allen Ereignissen zutrotz wird der Probebetrieb fortgesetzt. Es ist geplant, zum Jahreswechsel in die reguläre Stromerzeugung überzugehen<ref name="heise_OL3" />.<br />
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<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atom(ausstiegs)politiken_in_EU_und_USA&diff=218422022-01:Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA2022-10-15T10:41:11Z<p>WikiSysop: Korrekturen</p>
<hr />
<div>== Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA ==<br />
'''fb''' Zum Stichtag 1. Juli 2021 stellte die Europäische Union mit 106 in Betrieb befindlichen Reaktoren die weltgrößte Flotte installierter Atomkraftwerksleistung bereit, nur knapp gefolgt von den USA mit 93 Reaktoren. Auf der Ebene der Staaten standen die USA auf Rangplatz 1, gefolgt von Frankreich mit 56 Reaktoren und China mit 53 Reaktoren. Der Anteil von Atomenergie am Strommix machte in den USA 19,7%, in der EU 24,8% aus. 2020 wurde in der Europäischen Union von Regenerativen Energien (ohne Berücksichtigung der Wasserkraft) zum ersten Mal mehr Elektrizität erzeugt als durch Kernspaltung. Atomkraft ist offenbar sowohl in der EU als auch in den USA eine bedeutende Energiequelle (Schneider et al. 2021: 302, 354, 394).<br />
<br />
Den entscheidenden Anteil am Primärenergieverbrauch (also nicht nur Strom) bilden jedoch in beiden Regionen fossile Energieträger. Diese dominieren den Bruttoinlandsenergieverbrauch mit 69,3% in der EU (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2019), während sie in den USA (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2020) sogar 79% ausmachten (EIA 2021; eurostat 2021a).<br />
<br />
=== Status und Perspektiven der Atomkraftnutzung ===<br />
In der Europäischen Union ist die Atomkraft hochgradig umstritten: 13 Mitgliedsstaaten betreiben Atomkraftwerke (AKW), von denen vier einen Atomausstieg beschlossen haben (Belgien, BRD, Spanien, Schweden); 14 Mitgliedsstaaten besitzen keine in Betrieb befindlichen Atomreaktoren, von denen einer (Polen) derzeit versucht ein umfangreiches Atomprogramm umzusetzen (.ausgestrahlt 2019: 24; eurostat 2021b). Drei Reaktoren wurden 2020 stillgelegt (Fessenheim-1+2, Ringhals-1), während sich vier solche im Bau befanden (Olkiluoto-3, Flamanville-3, Mochovce-3+4) – allerdings mit massiven Verspätungen von einem Jahrzehnt und länger sowie mit Kostenexplosionen bis zum 6fachen der ursprünglichen Kalkulationen (Neubauer 2008; Schneider et al. 2021: 75, 77–80, 84, 93, 355). Viele EU-Staaten werden letztlich das Kapitel der Atomstromproduktion aufgrund der zunehmenden Überalterung der Reaktorflotte (durchschnittlich 35,9 Jahre in der EU) und der wirtschaftlichen Unrentabilität neuer Atomkraftwerke in den nächsten Jahrzehnten schließen (Schneider u. a. 2021: 354 ff.).<br />
<br />
Schwer einzuschätzen sind für diese Einschätzung, die auf der Situation vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine basiert, die Auswirkungen der aktuellen Energiekrise. Diese hat zwar verdeutlicht, wie katastrophal auch in Hinsicht auf die Energieversorgungssicherheit der immer noch hohe Anteil fossiler Energieträger bei der Stromerzeugung ist, allerdings auch Kurzschlussreaktionen und aggressiven pro- nuklearen Lobbyismus verursacht. Derzeit diskutieren verschiedene europäische Regierungen über Laufzeitverlängerungen für von Stilllegungen betroffene alte AKW (Belgien<ref name="jungeWelt_Belgien">https://www.jungewelt.de/artikel/435405.nuklearenergie-aus-f%C3%BCr-schrottmeiler.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref>, BRD), die Aufgabe des Atomausstiegs oder den Neubau von Reaktoren (Bulgarien<ref name="Euraktiv_Bulgarien">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/bulgarien-will-den-bau-eines-neuen-atomreaktors-vorantreiben/ -gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Frankreich<ref name="FrankreichAtomkraft">https://de.investing.com/analysis/frankreich-vereinfacht-bau-von-atomkraftwerken-200476765 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_Frankreich">https://www.euractiv.de/section/energie/news/atomkraft-renaissance-in-frankreich-wirkt-gesetzt-aber-edf-wankt/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Niederlande<ref name="Euraktiv_Niederlande">https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/erstes-kraftwerk-seit-50-jahren-niederlande-kehren-zum-atomstrom-zurueck/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Tschechien<ref name="TschechienSMR">https://www.meinbezirk.at/gmuend/c-lokales/tschechien-baut-neues-mini-atomkraftwerk-in-grenznaehe_a5621755 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Blackout_Temelin">https://blackout-news.de/aktuelles/erstes-europaeisches-mini-akw-wird-in-suedboehmen-gebaut/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_SMR">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/osteuropaeische-laender-wollen-modulare-atomreaktoren-aus-den-usa/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>). Dabei ist die Abhängigkeit von russischen Energiequellen auch in der europäischen Atomindustrie groß: Russland ist der größte Uranexporteur in die EU und mindestens 18 Reaktoren in fünf Mitgliedsstaaten sind auf dessen Brennelemente angewiesen<ref name="AtommuellreportRussland">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/die-bedeutung-der-russischen-atomindustrie-fuer-europa.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Russland">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/10/russische-atom-diplomatie-gef%C3%A4hrdet-sicherheit-europas/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Der Neubau von Atomanlagen ist weiterhin mit großen zeitlichen (Bauzeitüberziehungen) und finanziellen (Preissteigerungen) Problemen konfrontiert und daher unter rationalen Gesichtspunkten keine Option. Infolge der Invasion in der Ukraine ist im Mai nun auch das russische AKW-Neubauprojekt Hanhikivi im Norden Finnlands gescheitert<ref name="Euractiv_Hanhikivi">https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/finnisches-unternehmen-kuendigt-rosatom-vertrag-ueber-kernkraftwerkslieferung/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, für das bereits Naturschutzgebiete verwüstet worden waren<ref name="grbl_Pyhaejoki">https://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2016-01:Mit_Taser_und_Tr%C3%A4nengas_f%C3%BCr_das_finnisch-russische_AKW - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>. Nur Atombombenstaaten haben aufgrund militärischer Interessen eine klare Motivation, die Atomindustrie weiter mit Milliardenbeträgen zu subventionieren<ref name="Atommuellreport_Taxonomie">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/eu-taxonomie-finanzspritze-fuer-die-desastroese-atompolitik-frankreichs.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Auch der Weiterbetrieb alter AKW ist kaum eine Hilfe in der Energiekrise: In der BRD kann Atomstrom nur einen winzigen Anteil der einzusparenden Gaskraftwerkskapazitäten ersetzen. Ein wesentlicher Teil von deren Produktion ist Heizwärme, die von den AKW nicht verfügbar ist. Diese könnten auch kaum zur Kostensenkung bei der Stromerzeugung beitragen. Absurderweise wird nunmehr für den deutschen AKW-Betrieb mit der französischen Atomstrommisere argumentiert, weil das hochgradig von AKW abhängige Land in diesem Jahr zeitweise mehr als die Hälfte seiner Anlagen wegen verschiedenster Probleme nicht nutzen konnte und fast jeden Tag auf Stromimporte aus der BRD in der Größenordnung der Kapazitäten vierer Großkraftwerke angewiesen war<ref name="Atommuellreport_Taxonomie" /><ref name="AtommuellreportLauftzeitverlaengerung">https://atommuellreport.de/themen/detail/laufzeitverlaengerung-sinnlos-gefaehrlich-und-teuer.html - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="FranzoesischeEnergiekrise">https://web.de/magazine/politik/auswirkungen-franzoesische-energiekrise-deutschland-37340700 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Die Auseinandersetzungen um die Zukunft der Atomkraftnutzung in Europa spiegelten sich in den letzten Jahren in den Kämpfen um die Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie wider. Verschiedene EU- und nationale Organisationen ebenso wie Expert*innengruppen veröffentlichten Analysen zu diesem Vorhaben. Die meisten kamen zu dem Schluss, dass es keinesfalls zulässig wäre, Atomkraft als nachhaltige Energiequelle zu behandeln. Trotzdem behauptete das ''Joint Research Centre'', das an mehreren Atomprojekten beteiligt ist, Atomkraft sei nicht schädlicher als andere bereits als nachhaltig eingestufte Energieträger. Viele Länder übten Druck auf die Europäische Kommission sowohl für als auch gegen die Aufnahme der Atomenergie in die EU-Taxonomie aus (Pistner/Englert 2021; Schneider et al. 2021: 38–41). Nach mehrfachen Verzögerungen verkündete die Kommission im Februar 2022, Atomkraft solle zukünftig als nachhaltige Energiequelle gelten. Im Juli stimmte auch das EU-Parlament knapp der Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie zu. Inzwischen haben mehrere EU-Staaten und Organisationen Klagen vor dem EU-Gerichtshof dagegen eingereicht <ref name"NAU_Taxonomie">https://www.nau.ch/ort/basel/klage-gegen-grunes-eu-label-fur-atomenergie-eingereicht-66291417 - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Taxonomie">https://www.ausgestrahlt.de/themen/europa-und-atom/eu-taxonomie/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_YelloDeal">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/01/05/eu-taxonomie-analysiert-yellow-deal-statt-klimaschutz/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="dont-nuke-taxonomy">https://dont-nuke-the-taxonomy.eu/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref><ref name="Stern_Taxonomie">https://www.stern.de/news/oesterreich-klagt-wegen-einstufung-von-atomkraft-als-nachhaltig-vor-eugh-32794520.html - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Krone_Taxonomie">https://www.kronehit.at/news/gruenes-label-fuer-atomkraft-2/ - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Tagesschau_Klagen">https://www.tagesschau.de/ausland/oesterreich-klage-taxonomie-atomkraft-101.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref><ref name="Oekonews_Greenpeace">https://www.oekonews.at/?mdoc_id=1175330 - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="heise_Klagen">https://www.heise.de/tp/features/Umweltschuetzer-planen-Gemeinschaftsklage-gegen-EU-Taxonomie-7269696.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Auch in den Vereinigten Staaten konnte ein Rückgang der Nutzung der Atomenergie in den vergangenen Jahren festgestellt werden. 2021 wurden zwei Reaktoren stillgelegt, einer in Iowa (Duane Arnold-1) und ein weiterer im Bundesstaat New York (Indian Point-2). Fast alle Atomreaktoren in den USA haben inzwischen ein Alter zwischen 31-40 Jahren (46 Reaktoren) oder 41-50 Jahren (41 Reaktoren) erreicht, während lediglich einer jünger als 10 Jahre ist. Die übliche erlaubte Betriebszeit eines Atomkraftwerks liegt bei Inbetriebnahme in den USA bei 40 Jahren. Diese wurde bereits um 20 Jahre für 85 der derzeit betriebenen Anlagen verlängert. Eine NRC<ref>NRC: Nuclear Regulatory Commission; eine für die Atomsicherheit zuständige US-Bundesbehörde</ref>-Richtlinie aus dem Jahr 2017 ermöglicht eine weitere Laufzeitverlängerung um zusätzliche 20 Jahre, so dass Reaktoren bis zu 80 Jahre in Betrieb bleiben könnten. 6 Anlagen erhielten eine entsprechende Genehmigung bereits (Schneider et al. 2021: 147, 149–150).<br />
<br />
Die Biden-Regierung will die Treibhausgasemissionen der USA durch die Unterstützung der Atomkraft reduzieren, insbesondere mithilfe des ''Zero-emission Nuclear Power Production Credit Act'', der dem Kongress im Juni 2021 vorgelegt wurde. Dies könnte zu einer Steuergutschrift in Höhe von 15 Dollar/MWh führen, die helfen könnte, abgewrackte Atomkraftwerke vor der Stilllegung zu bewahren (WNISR 2021: 148). Zwei Reaktoren befinden sich in den Vereinigten Staaten immer noch im Bau und leiden unter mehr als vervierfachten Herstellungskosten: die Reaktoren 3 und 4 des AKW Vogtle im Bundesstaat Georgia (WNISR 2021: 147, 155 f.). Zusammengefasst befindet sich die US-amerikanische Atomenergienutzung also in einem Prozess der Schrumpfung, weil Reaktoren stillgelegt werden mussten; andererseits versucht die Biden-Regierung diesen zu stoppen, indem sie neue Maßnahmen und finanzielle Unterstützung bereitstellt (Congress 2021; Schneider et al. 2021: 147–148, 155–161).<br />
<br />
=== Fazit ===<br />
Es können eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den Energiepolitiken der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika festgestellt werden: Beide wollen ihre Energiesysteme transformieren, um Treibhausgase in Richtung null zu reduzieren. Beide sind gegenwärtig stark von fossilen Energieträgern abhängig und beide betreiben die gewaltigsten atomaren Reaktorflotten der Welt, erfahren aber eine kontinuierliche Schrumpfung der Atomindustrie. Unterschiede können einerseits hinsichtlich der Konkretheit und Ambitionen in der Klimapolitik gesehen werden<ref>Siehe dazu den Originalartikel, auf dem dieser atomkraftbezogene Auszug basiert und den der Autor im Originalbeitrag verantwortet hat: https://medium.com/unceurope/energy-transformation-nuclear-and-fossil-phase-out-policies-in-eu-and-us-be5c02e2d566</ref>, in der die Europäische Union im Augenblick größere Ziele angehen will. Der Hauptunterschied zwischen den Herangehensweisen in der Atompolitik in der EU und den USA besteht darin, dass die Europäische Union große Uneinigkeit in Hinblick auf die Zukunft der Atomtechnologie aufweist, während in den Vereinigten Staaten für diese Industrie weit mehr möglich ist, da Atomausstiegspolitiken wie in einigen EU-Staaten fehlen. Dementsprechend werden Stilllegungen von Reaktoren in den USA normalerweise durch deren Unwirtschaftlichkeit verursacht, manchmal in Verbindung mit den Auswirkungen von Protesten. In der EU sind die Atompolitiken der Mitgliedsstaaten ziemlich entgegengesetzt, aber so lange keine massive staatliche Subventionierung der Atomenergie bereitgestellt wird, wird ihre Verwendung insgesamt - gleichfalls aus wirtschaftlichen Gründen - zurückgehen. Dieser Prozess wird in einigen Ländern abgekürzt durch explizite Ausstiegspolitiken.<br />
<br />
<br />
<br />
=== Literatur ===<br />
* .ausgestrahlt (2019): „Atomkraft auf der Kippe“. .ausgestrahlt-Magazin. Hamburg S. 1–24.<br />
* Congress (2021): „H.R.4024 - Zero-Emission Nuclear Power Production Credit Act of 2021“. congress.gov. U.S. Congress.<br />
* EIA (2021): „Consumption and production“. Energy Information Administration. U.S. Energy Information Administration Abgerufen am 26.11.2021 von https://www.eia.gov/energyexplained/us-energy-facts/.<br />
* eurostat (2021a): „Energy Statistics - an overview“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 26.11.2021 von https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Energy_statistics_-_an_overview#Final_energy_consumption.<br />
* eurostat (2021b): „Nuclear energy statistics“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 25.11.2021 von http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Nuclear_energy_statistics.<br />
* Neubauer, Lundquist (2008): „Erster EPR in Frankreich wird um ein Fünftel teurer als geplant“. Verivox Abgerufen am 25.11.2021 von https://www.verivox.de/strom/nachrichten/erster-epr-in-frankreich-wird-um-ein-fuenftel-teurer-als-geplant-38450/.<br />
* Pistner, Christoph; Englert, Matthias (2021): Nuclear Power and the „do no significant harm“ criteria of the EU Taxonomy. ( Nr. 4/2021) (Oeko-Institut Working Paper).<br />
* Schneider, Mycle; Froggatt, Antony; Hazemann, Julie; u. a. (2021): The World Nuclear Industry Status Report 2021. Paris.<br />
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<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
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<div>== Olkiluoto-3 macht weiter Probleme ==<br />
'''fb''' Der Vorzeigereaktor der sogenannten "Renaissance der Atomenergie" Olkiluoto-3 wurde nach mehrjährigen Verspätungen im März dieses Jahr schließlich probeweise ans Stromnetz angeschlossen. Er war 2003 der erste westliche Reaktor, der seit 1988 nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl in Auftrag gegeben wurde. Gleichzeitig ist es der Prototyp der inzwischen schon nicht mehr neuen Reaktorlinie EPR des französischen Atomkonzerns Areva (heute EDF), und damit essentieller erhoffter weltweiter Verkaufsschlager. Einige Jahre später wurde im französischen Flamanville eine zweite EPR-Prototyp-Baustelle gestartet, die bis heute nicht zum Abschluss kam<ref name="WNISR2022">https://www.worldnuclearreport.org/IMG/pdf/wnisr2022-hr.pdf - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Als 2005 in Finnland mit dem Bau von Olkiluoto-3 begonnen wurde, war geplant, den Reaktor 2009 in Betrieb zu nehmen; für die Fertigstellung waren Kosten in Höhe von 3 Mrd. EUR vereinbart worden. Unzählige Konstruktions- und Baumängel führten zu erheblichen Kostensteigerungen und Verzögerungen, so dass der Preis inzwischen mit etwa 11 Mrd. EUR veranschlagt wird und sich die Bauzeit vervierfacht hat<ref name="heise_OL3">https://www.heise.de/news/Atomkraft-Reaktor-3-des-AKW-Olkiluoto-darf-ganz-hochfahren-13-Jahre-verspaetet-7254815.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="WNISR2022" />.<br />
<br />
Nachdem das Schaumodell der modernen westlichen Atomindustrie wenige Monate nach der Probeinbetriebnahme im Sommer 2022 schon wieder repariert werden musste, erfolgte bereits im August der nächste Leistungsabfall aufgrund von Turbinenproblemen<ref>https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Kernkraftwerk_Olkiluoto&oldid=226918107- gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref>https://www.euractiv.de/section/energie/news/finnlands-groesster-atomreaktor-bereitet-erneut-schwierigkeiten/ - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>. Auch am Jahrestag der Atomkatastrophe ereignete sich ein "Vorfall", menschliches oder technisches Versagen, zu dem es in Hochrisikoanlagen nicht kommen darf: Beim Herunterfahren des Reaktors wurde am 26. April unbeabsichtigt die Borsäureeinspeisung gestartet, die eigentlich die Kettenreaktion regulieren soll und in Notfällen zu den letzten Mittel zählt, um den Reaktor noch abzuschalten<ref>https://www.tvo.fi/en/index/news/pressreleasesstockexchangereleases/2022/theol3plantunit8217sboronpumpswereturnedonwhendrivingdowntheplanunit.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref>Mitteilung von Fredrik Lundberg, freier Journalist, vom 29. April 2022</ref><ref name="WNISR2022" />. Allen Ereignissen zutrotz wird der Probebetrieb fortgesetzt. Es ist geplant, zum Jahreswechsel in die reguläre Stromerzeugung überzugehen<ref name="heise_OL3" />.<br />
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<div>== Olkiluoto-3 macht weiter Probleme ==<br />
'''fb''' Der Vorzeigereaktor der sogenannten "Rennaissance der Atomenergie" Olkiluoto-3 wurde nach mehrjährigen Verspätungen im März dieses Jahr schließlich probeweise ans Stromnetz angeschlossen. Er war 2003 der erste westliche Reaktor, der seit 1988 nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl in Auftrag gegeben wurde. Gleichzeitig ist es der Prototyp der inzwischen schon nicht mehr neuen Reaktorlinie EPR des französischen Atomkonzerns Areva (heute EDF), und damit essentieller erhoffter weltweiter Verkaufsschlager. Einige Jahre später wurde im französischen Flamanville eine zweite EPR-Prototyp-Baustelle gestartet, die bis heute nicht zum Abschluss kam<ref name="WNISR2022">https://www.worldnuclearreport.org/IMG/pdf/wnisr2022-hr.pdf - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
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Als 2005 in Finnland mit dem Bau von Olkiluoto-3 begonnen wurde, war geplant, den Reaktor 2009 in Betrieb zu nehmen; für die Fertigstellung waren Kosten in Höhe von 3 Mrd. EUR vereinbart worden. Unzählige Konstruktions- und Baumängel führten zu erheblichen Kostensteigerungen und Verzögerungen, so dass der Preis inzwischen mit etwa 11 Mrd. EUR veranschlagt wird und sich die Bauzeit vervierfacht hat<ref name="heise_OL3">https://www.heise.de/news/Atomkraft-Reaktor-3-des-AKW-Olkiluoto-darf-ganz-hochfahren-13-Jahre-verspaetet-7254815.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="WNISR2022" />.<br />
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Nachdem das Schaumodell der modernen westlichen Atomindustrie wenige Monate nach der Probeinbetriebnahme im Sommer 2022 schon wieder repariert werden musste, erfolgte bereits im August der nächste Leistungsabfall aufgrund von Turbinenproblemen<ref>https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Kernkraftwerk_Olkiluoto&oldid=226918107- gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref>https://www.euractiv.de/section/energie/news/finnlands-groesster-atomreaktor-bereitet-erneut-schwierigkeiten/ - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>. Auch am Jahrestag der Atomkatastrophe ereignete sich ein "Vorfall", menschliches oder technisches Versagen, zu dem es in Hochrisikoanlagen nicht kommen darf: Beim Herunterfahren des Reaktors wurde am 26. April unbeabsichtigt die Borsäureeinspeisung gestartet, die eigentlich die Kettenreaktion regulieren soll und in Notfällen zu den letzten Mittel zählt, um den Reaktor noch abzuschalten<ref>https://www.tvo.fi/en/index/news/pressreleasesstockexchangereleases/2022/theol3plantunit8217sboronpumpswereturnedonwhendrivingdowntheplanunit.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref>Mitteilung von Fredrik Lundberg, freier Journalist, vom 29. April 2022</ref><ref name="WNISR2022" />. Allen Ereignissen zutrotz wird der Probebetrieb fortgesetzt. Es ist geplant, zum Jahreswechsel in die reguläre Stromerzeugung überzugehen<ref name="heise_OL3" />.<br />
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<div>== Olkiluoto-3 macht weiter Probleme ==<br />
'''fb''' Der Vorzeigereaktor der sogenannten "Rennaissance der Atomenergie" Olkiluoto-3 wurde nach mehrjährigen Verspätungen im März dieses Jahr schließlich probeweise ans Stromnetz angeschlossen. Er war 2003 der erste westliche Reaktor, der seit 1988 nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl in Auftrag gegeben wurde. Gleichzeitig ist es der Prototyp der inzwischen schon nicht mehr neuen Reaktorlinie EPR des französischen Atomkonzerns Areva (heute EDF), und damit essentieller erhoffter weltweiter Verkaufsschlager. Einige Jahre später wurde im französischen Flamanville eine zweite EPR-Prototyp-Baustelle gestartet, die bis heute nicht zum Abschluss kam<ref name="WNISR2022">https://www.worldnuclearreport.org/IMG/pdf/wnisr2022-hr.pdf - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
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Als 2005 in Finnland mit dem Bau von Olkiluoto-3 begonnen wurde, war geplant, den Reaktor 2009 in Betrieb zu nehmen; für die Fertigstellung waren Kosten in Höhe von 3 Mrd. EUR vereinbart worden. Unzählige Konstruktions- und Baumängel führten zu erheblichen Kostensteigerungen und Verzögerungen, so dass der Preis inzwischen mit etwa 11 Mrd. EUR veranschlagt wird und sich die Bauzeit vervierfacht hat<ref name="heise_OL3">https://www.heise.de/news/Atomkraft-Reaktor-3-des-AKW-Olkiluoto-darf-ganz-hochfahren-13-Jahre-verspaetet-7254815.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="WNISR2022" />.<br />
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Nachdem das Schaumodell der modernen westlichen Atomindustrie wenige Monate nach der Probeinbetriebnahme im Sommer 2022 schon wieder repariert werden musste, erfolgte bereits im August der nächste Leistungsabfall aufgrund von Turbinenproblemen<ref>https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Kernkraftwerk_Olkiluoto&oldid=226918107- gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref>https://www.euractiv.de/section/energie/news/finnlands-groesster-atomreaktor-bereitet-erneut-schwierigkeiten/ - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>. Auch am Jahrestag der Atomkatastrophe ereignete sich ein "Vorfall", menschliches oder technisches Versagen, zu dem es in Hochrisikoanlagen nicht kommen darf: Beim Herunterfahren des Reaktors wurde am 26. April unbeabsichtigt die Borsäureeinspeisung gestartet, die eigentlich die Kettenreaktion regulieren soll und in Notfällen zu den letzten Mittel zählt, um den Reaktor noch abzuschalten<ref>https://www.tvo.fi/en/index/news/pressreleasesstockexchangereleases/2022/theol3plantunit8217sboronpumpswereturnedonwhendrivingdowntheplanunit.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>Mitteilung von Fredrik Lundberg, freier Journalist, vom 29. April 2022<ref></ref><ref name="WNISR2022" />. Allen Ereignissen zutrotz wird der Probebetrieb fortgesetzt. Es ist geplant, zum Jahreswechsel in die reguläre Stromerzeugung überzugehen<ref name="heise_OL3" />.<br />
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[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Laufzeitverl%C3%A4ngerung_-_sinnlos,_gef%C3%A4hrlich_und_teuer&diff=218382022-01:Laufzeitverlängerung - sinnlos, gefährlich und teuer2022-10-14T18:54:15Z<p>WikiSysop: Korrekturen</p>
<hr />
<div>== Laufzeitverlängerung - sinnlos, gefährlich und teuer ==<br />
Am 27.09.2022 erklärte Wirtschaftsminister Habeck (Grüne), dass er einen Weiterbetrieb der beiden AKW Ohu 2 (Isar 2) und Neckarwestheim 2 über den 31.12.2022 hinaus "Stand heute" für nötig halte.<ref name="eins">tagesschau.de: Habeck hält AKW-Weiterbetrieb für nötig, 27.09.2022</ref> Gleichzeitig veröffentlichte er seine Vereinbarungen mit den beiden AKW-Betreibern für den Weiterbetrieb.<ref name="zwei">Eckpunkte BMWK - E.ON - EnBW, 27.09.2022</ref> Ob dies das letzte Wort sein wird, ist fraglich. Kurz vor Ende der Atomenergienutzung in Deutschland wittern die Verfechter der Atomkraft Morgenluft angesichts möglicher Energieengpässe durch den Ukrainekrieg und die verhängten Sanktionen gegen Russland.<br />
<br />
Jahrelang wurde versucht, Atomkraft wieder hoffähig zu machen, indem der Atomstrom als billig und klimafreundlich deklariert wurde - von denselben Akteur*innen, die einen Energiepreisdeckel oder ein Tempolimit ablehnen. Das Umweltbundesamt hat aktuell festgestellt, dass durch ein Tempolimit (Autobahnen Tempo 100 und außerorts Tempo 80) jährlich 2,1 Milliarden Liter fossile Kraftstoffe in Deutschland eingespart werden könnten. Das entspräche 3,8 Prozent des Kraftstoffverbrauchs im Verkehrssektor.<ref name="drei">tagesschau.de: Wieviel Sprit ein Tempolimit spart, 10.04.2022</ref> Die Energieökonomin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schätzt, dass ein Tempolimit fünf bis sieben Prozent der russischen Ölimporte reduzieren könnte.<ref name="drei" /> Nachdem in der aktuellen Debatte auch der Verweis auf die Probleme bei der Gasversorgung nicht so richtig gezogen hat, da Atomkraft die Wärmeversorgung durch das Gas kaum ersetzen kann, ist das aktuelle Argument die Solidarität mit Frankreich bzw. die Netzstabilität, die durch die desolate Atompolitik Frankreichs in Frage stehen würde. Eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke ist für die Energiesicherheit unnötig, hochriskant und senkt die Abhängigkeit von Russland in keiner Weise.<br />
<br />
=== Atomenergie als Antwort auf das Atomenergie-Desaster Frankreichs? ===<br />
Die Stromproduktion in Frankreich liegt aufgrund einer völlig verfehlten, einseitig auf Atomkraft setzenden Energiepolitik ziemlich darnieder. Seit Beginn 2022 wird bis auf wenige Ausnahmen täglich Strom aus Deutschland nach Frankreich in einer Größenordnung von bis zu über 100 Gigawattstunden (GWh) exportiert. Ein konventionelles oder nukleares Großkraftwerk erzeugt ca. 20 bis knapp 30 GWh pro Tag. Die deutschen Atomkraftwerke (und mindestens ein weiteres Kraftwerk) laufen also rechnerisch nur für den Export und stützen so die verfehlte Atomenergiepolitik Frankreichs, die trotz der offensichtlichen Probleme mit den Reaktoren weiterhin auf Atomkraft statt auf Erneuerbare Energie setzt.<br />
<br />
=== Die Rolle der Grünen ===<br />
Befeuert wurde die Debatte um die Laufzeitverlängerung durch Grüne-Politiker*innen. So erklärte beispielsweise die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Katrin Göring-Eckart (Grüne) bereits am 24.7.2022 in einer Talkshow, dass Atomkraft notwendig werden könnte, um die Stromversorgung von Krankenhäusern aufrecht zu erhalten.<ref name="vier">welt.de: Goering-Eckardt offen für AKW-Streckbetrieb - Scholz will zweiten Stresstest abwarten, Stand 25.07.2022</ref> Selbst bei etwaiger Knappheit wird hier in Anbetracht der Kapazitäten Deutschlands ein unrealistisches (Horror-)Szenario aufgemalt, das Ängste schürt, anstatt eine zielorientierte Energiewende-Debatte voranzubringen.<br />
<br />
Ebenfalls im Juli 2022 haben SPD und Grüne der Stadt München im Aufsichtsrat der Stadtwerke München beschlossen, sich für einen Weiterbetrieb des AKW Ohu 2 (Isar 2) einzusetzen. Die Stadtwerke München halten 25% an dem Atomkraftwerk. Die restlichen 75% sind im Besitz der PreussenElektra GmbH, einer 100%igen Tochter des E.ON-Konzerns. Die 2. Bürgermeisterin in München, Katrin Habenschaden (Grüne), verteidigte ihre Entscheidung gegenüber dem Bayerischen Rundfunk: „Die Versorgungssicherheit der Münchnerinnen und Münchner hat da für mich wirklich Vorrang".<ref name="fuenf">br.de: SPD und Grüne in München für längere Laufzeit des AKW Isar-2, 21.07.2022</ref><br />
<br />
Die Grüne Umweltministerin Lemke, die die Atomaufsicht in Deutschland führt und für Reaktorsicherheit zuständig ist, hält sich bedeckt. Der Grüne Wirtschaftsminister führt seine Partei Stück für Stück aus der Ablehnung der Atomenergienutzung heraus, immer mit dem Verweis auf angebliche objektive Sachzwänge. So durften die Entscheidung für einen Reservebetrieb die Übertragungsnetzbetreiber begründen.<br />
<br />
Im Wesentlichen außen vor bleibt dabei das Stromeinsparpotential, das in vielen Bereichen auf der Hand liegt. Auch eine stundenweise Reduzierung stromintensiver Produktion wäre ein Beitrag zur Netzstabilisierung. Während es im Gassektor bereits Vorkehrungen für eine eventuelle Rationierung von Gas gibt, ist dies im Stromsektor nicht der Fall.<br />
<br />
=== Atomkraftwerke als Reserve? ===<br />
Wirtschaftsminister Habeck hat im Juli 2022 die vier Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz, Amprion, Tennet und Transnet BW mit einem sogenannten "Stresstest" beauftragt. Sie sollten erklären, ob und gegebenenfalls wie die Stromnachfrage im Winter gedeckt und die Netzstabilität erhalten werden kann. <br />
<br />
50Hertz betreibt das Stromnetz auf dem Gebiet der ehemaligen DDR und war vorübergehend im Besitz des Atomkonzerns Vattenfall. Derzeitige Anteilseigner von 50Hertz sind die börsennotierte belgische Holding Elia Group (80 Prozent) und die KfW Bankengruppe mit 20 Prozent.<ref name="sechs">50hertz.com: Historie, abgerufen am 15.09.2022</ref> Amprion ist eine Ausgründung von RWE, die heute noch 25,1 Prozent hält. Die andere Anteilseignerin ist mit 74,9 Prozent die M31 Beteiligungsgesellschaft mbH & Co. Energie KG (ein Konsortium von überwiegend deutschen institutionellen Finanzinvestoren aus der Versicherungswirtschaft und von Versorgungswerken. Dazu zählen etwa die MEAG MUNICH ERGO, Swiss Life und Talanx sowie Pensionskassen).<ref name="sieben">Amprion.net: Anteilseigner, abgerufen am 15.09.2022</ref> Tennet ist eine Ausgründung von E.ON. Heutiger Eigentümer der Tennet Holding ist der Niederländische Staat.<ref name="acht">Tennet.eu: Unsere Geschichte, abgerufen am 15.09.2022</ref> Die Transnet BW ist eine Ausgründung von EnBW und immer zu 100 Prozent im Besitz des Energieversorgers EnBW, der auch das AKW Neckarwestheim 2 betreibt.<ref name="neun">EnBW: Jahresabschluss der EnBW AG 2021</ref><br />
<br />
Im Stresstest<ref name="zehn">50 Hertz, Amprion, Tennet, TransnetBW: Abschlussbericht Sonderanalysen Winter 2022/2023, 13.09.2022</ref> wurden nach Vorgaben des Wirtschaftsministeriums verschiedene Szenarien geprüft. Parameter waren die Verfügbarkeit französischer Atomkraftwerke, mögliche Einschränkungen bei der Versorgung deutscher Kraftwerke mit Kohle auf dem Wasserweg wegen dauerhaftem Niedrigwasser, Nicht-Verfügbarkeit von Gaskraftwerken, extreme Kälte und ein deutlich erhöhter Verbrauch durch elektrische Heizlüfter. Ergebnis: Je nach Szenario kann es im Winter stundenweise zu Netzengpässen kommen. Dagegen soll ein Bündel an Maßnahmen helfen. Laut Minister Habeck gehört dazu auch, die beiden AKW Ohu 2/Isar 2 und Neckarwestheim 2 am 31.12.2022 nicht endgültig abzuschalten, sondern in die Reserve zu überführen bzw. weiterzubetreiben. Und das, obwohl die Atomkraftwerke nur einen extrem kleinen Beitrag leisten könnten und selbst in einem sehr kritischen Strombedarfsszenario im Winter den Bedarf an Redispatchkraftwerken im Ausland nur um 0,5 GW senken können und nicht um die Nennleistung der AKW.<ref name="zehn" /><br />
<br />
=== Streckbetrieb ===<br />
Das Zauberwort in dieser Debatte um eine Laufzeitverlängerung heißt „Streckbetrieb“. Bei einem Streckbetrieb, der bereits in anderen AKW im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Laufzeit durchgeführt wurde, nimmt durch eine bewusste Reduktion der Kühlmitteltemperatur die Dichte des Kühlmittels im Reaktor zu. Die Neutronen werden besser abgebremst, wodurch mehr Neutronen für die Spaltung zur Verfügung stehen. Diesen Effekt macht man sich zu Nutze und betreibt den Reaktor über sein natürliches Zyklusende hinaus. Dadurch wird die Neutronen-Moderation verbessert und man kann ein bisschen mehr Energie aus dem Brennstoff rausholen als beim Betrieb mit 100 % Leistung. Die Stromproduktion wird durch Streckbetrieb nicht nur in die Länge gezogen, sondern insgesamt leicht erhöht. Das bringt nicht viel an zusätzlicher Energie. „Ein solcher Betrieb ist für mindestens 80 Tage realisierbar. Da ein Reaktorblock im Streckbetrieb täglich ca. 0,5 % seiner Leistung einbüßt, wäre er nach 80 Tagen noch bei ca. 60 % seiner ausgelegten Leistung.“<ref name="elf">grs.de: Streckbetrieb, abgerufen am 26.07.2022</ref><br />
<br />
Laut dem niedersächsischen Umweltminister Olaf Lies sind die Brennelemente im AKW Lingen 2/Emsland zum Ende des Jahres aufgebraucht.<ref name="zwoelf">Niedersachsen Energieminister Lies warnt: AKW-Laufzeitverlängerung „völlig falsche Weg“, rnd.de, 30.08.2022</ref> Anders sieht die Situation beim bayerischen AKW Ohu 2 (Isar 2) und dem baden-württembergischen AKW Neckarwestheim 2 aus.<br />
<br />
=== AKW Ohu 2 (Isar 2) ===<br />
Die Aussagen über die Situation im AKW Ohu 2 sind höchst widersprüchlich. Im April veröffentlichte der TÜV Süd eine Stellungnahme im Auftrag der bayerischen Landesregierung zur "Bewertung der konkreten erforderlichen technischen Maßnahmen für einen Weiterbetrieb des KKI 2 bzw. eine Wiederinbetriebnahme des Blocks C des KRB II". Er kommt bei Ohu 2 (Isar 2) zu dem Schluss, dass keine Drosselung der Leistung vor dem 31.12. nötig wäre und am Ende des Betriebszyklus Reaktivitätsreserven für einen Weiterbetrieb für ca. 80 Tage bestünden. Durch ein Umsetzen der vorhandenen Brennelemente könne der Reaktor sogar bis in den August 2023 betrieben und zusätzlich bis zu 5.160 GWh Strom erzeugt werden.<ref name="dreizehn">TÜV Süd: Kernkraftwerk Gundremmingen (KRB II) Block C, Kernkraftwerk Isar 2 (KKI 2) Bewertung der konkreten, erforderlichen technischen Maßnahmen für einen Weiterbetrieb des KKI 2 bzw. eine Wiederinbetriebnahme des Blocks C des KRB II, Auftrag vom 07.04.2022</ref><br />
<br />
Am 07.09.2022, nur zwei Tage, nachdem Habeck erklärte, Ohu 2 in die Reserve überführen zu wollen, wandte sich der Chef von PreussenElektra gegen die Pläne des Ministers. Knott erklärte in einem Brandbrief an Minister Habeck, dass in einem Streckbetrieb „ein flexibles Anheben oder Drosseln der Leistung nicht mehr möglich ist“. Minister Habeck fühlte sich missverstanden und stellte klar, dass es nicht um ein beliebiges Zu- und Abschalten der beiden Atomkraftwerke gehe, sondern dass im Dezember bzw. Januar die Lage erneut beurteilt und entschieden werde, ob die AKW in Streckbetrieb gehen sollten und dann für die folgenden Wochen in Betrieb bleiben würden - unabhängig, ob dies für die Versorgung bzw. Netzstabilität tatsächlich nötig sei.<ref name="vierzehn">AKW-Betreiber spricht sich gegen Habeck-Plan aus, Süddeutsche Zeitung, 07.09.2022</ref><br />
<br />
Zwei Wochen später wurde bekannt, dass es eine Leckage an einem Sicherheitsventil in Ohu 2 gibt. Nachdem PreussenElektra noch im August betont hatte, dass es kein Problem wäre, Ohu 2 bis Ende 2022 unter Volllast zu fahren und anschließend in den Streckbetrieb zu überführen, erklärt der Betreiber nun, dass das Ventil für den Streckbetrieb ausgetauscht werden muss und zwar noch im Oktober: "Bis 31. Dezember bereite das keine Probleme, die Anlage könne sicher weiterlaufen. Ganz anders sehe das bei einem möglichen Betrieb bis Mitte April aus - dann sei eine Reparatur fällig, und das rasch, noch im Oktober. Grund: Schon im November hätten die Brennelemente des Reaktorkerns "eine zu geringe Reaktivität, um die Anlage aus dem Stillstand heraus dann wieder hochzufahren"."<ref name="fuenfzehn">Süddeutsche.de: Ein Ventil macht Ärger, 20.02.2022</ref><br />
<br />
In der Vereinbarung zwischen dem Wirtschaftsminister und den Betreibern werden die Reserven nach unten korrigiert. Das leckende Ventil soll im Oktober in einem einwöchigen Stillstand ausgetauscht werden. Der Reaktor wird dann wieder weiterbetrieben. Im Dezember entscheidet der Wirtschaftsminister, ob das AKW Ohu 2 in den Streckbetrieb gehen soll. Falls ja, werde dieser vermutlich bis Anfang März aufrecht erhalten werden können, mit anfangs 95% und am Ende 50% Leistung und ca. 2 TWh Stromproduktion.<ref name="zwei" /><br />
<br />
=== AKW Neckarwestheim 2 ===<br />
Das AWK Neckarwestheim 2 soll zum 31.12.2022 abgeschaltet und anschließend innerhalb von 2-3 Wochen der Reaktorkern rekonfiguriert werden. Im Dezember entscheidet der Wirtschaftsminister, ob das AKW Neckarwestheim 2 in den Streckbetrieb gehen soll. Im Januar wird diese Entscheidung nochmals überprüft. Das AKW Neckarwestheim könnte dann bis zum 15.04.2023 weiterlaufen, mit anfangs 70% und am Ende 55% Leistung und ca. 1,7 TWh Stromproduktion.<ref name="zwei" /><br />
<br />
Neckarwestheim 2 steht seit Jahren in der Kritik wegen der enormen Versprödung sicherheitsrelevanter Bauteile. Bisher wurden mehr als 300 Risse in den Rohren der Dampferzeuger entdeckt. Sie können zum Abriss der Rohre führen und einen schweren Kühlmittelverluststörfall auslösen, der bis zur Kernschmelze führen kann.<ref name="sechzehn">Prof. Dr.-Ing. habil. Manfred Mertins: Bewertung zu Schäden durch Spannungsrisskorrosion an Dampferzeuger-Heizrohren im KKW Neckarwestheim 2 (GKN-II), Juni 2020</ref><br />
<br />
=== Periodische Sicherheitsüberprüfung der AKW seit Jahren überfällig ===<br />
Es gibt gute Gründe gegen den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke, allen voran das Risiko einer Atomkatastrophe in Landshut oder Neckarwestheim. Die Atomkraftwerke weisen erhebliche Alterungsprobleme auf. Die umfassende periodische Sicherheitsüberprüfung, die eigentlich vor drei Jahren hätte stattfinden müssen, wurde den Betreibern erlassen wegen der Beendigung des Betriebes spätestens Ende 2022.<ref name="siebzehn">Oda Becker, Adhipati Y. Indradiningrat: Atomstrom 2018 - sicher, sauber, alles im Griff? Studie im Auftrag des BUND, April 2018</ref><br />
<br />
Bei der periodischen Sicherheitsüberprüfung wird vor allem überprüft, inwieweit sich der Zustand einer Anlage von den aktuellen Sicherheitserkenntnissen und dem Stand von Wissenschaft und Technik entfernt hat und welche Nachrüstungsmaßnahmen notwendig sind. Vor dem Hintergrund, dass die letzten PSÜ vor den Anschlägen auf das World Trade Center stattgefunden haben, wird die Lücke zwischen der Sicherheit in den laufenden Reaktoren und neueren Erkenntnisse deutlich. Auch Maßnahmen gegen einen Terrorangriff außerhalb der Reaktoren wurden nicht umgesetzt. Die Nebeltarnung, die nach dem Anschlag auf das World Trade Center als angeblicher Schutz im Angriffsfall propagiert wurde, ist gar nicht erst errichtet worden.<ref name="siebzehn" /><br />
<br />
Auch das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BaSE) weist auf die fehlende Sicherheitsüberprüfung, die fehlende technische Anpassung an neueste Sicherheitsentwicklungen und den fehlenden Schutz vor einem Angriff auf die Atomkraftwerke hin. Das Risiko katastrophaler Unfälle habe sich noch einmal verschärft.<ref name="achtzehn">base.bund.de: Laufzeitverlängerung deutscher Atomkraftwerke, Stand 26.07.2022</ref><br />
<br />
In der Vereinbarung zwischen Minister und Betreibern wurde festgelegt, dass sich an den aktuellen Sicherheitsanforderungen nichts ändert. Die Pflicht zur PSÜ bleibt ausgesetzt, die Betreiber bleiben in der atomrechtlichen Verantwortung und Haftung.<ref name="zwei" /><br />
<br />
Der Streckbetrieb birgt jedoch ein ganz eigenes Sicherheitsproblem. Denn wenn jedes ungeplante Herunterfahren des Reaktors bedeutet, dass dieser aufgrund des fortgeschrittenen Abbrandes gar nicht mehr in Betrieb gehen kann, ist zu befürchten, dass selbst bei erheblichen Problemen auf jeden Fall ein Abschalten vermieden werden wird.<br />
<br />
Im Gegensatz dazu sieht der TÜV Süd in seiner Stellungnahme für das Bayerische Staatsministerium für Umwelt weder bei einer Laufzeitverlängerung des AKW Ohu 2 noch bei einer Wiederinbetriebnahme des AKW Gundremmingen C irgendwelche Sicherheitsprobleme.<ref name="dreizehn" /> Der TÜV Süd ist seit Jahrzehnten als Gutachter für die AKW-Betreiber unterwegs und hat noch nie Sicherheitsprobleme gesehen. Der gleiche TÜV Süd hatte auch trotz offensichtlicher Sicherheitsbedenken die Stabilität des 85 Meter hohen Damms der Eisenerzmine Córrego do Feijão zertifiziert. Bei dem Dammbruch im Januar 2019 starben mehr als 270 Menschen und das Gebiet wurde mit giftigem Schlamm überflutet.<ref name="neunzehn">tagesschau.de: Verfahren gegen TÜV Süd wird ausgeweitet, 24.01.2022</ref><br />
<br />
=== Wer die Kosten trägt ===<br />
Noch vor wenigen Monaten hatten sich die Betreiber der Atomkraftwerke gegen eine Laufzeitverlängerung ausgesprochen und eine Zustimmung höchstens in Aussicht gestellt, falls der Staat alle Kosten und Risiken übernimmt.<ref name="zwanzig">bmuv.de: Fragen und Antworten zur AKW-Laufzeitverlängerung, Stand 24.06.2022</ref><br />
<br />
In der Vereinbarung zwischen Minister und Betreibern wurde festgelegt, dass davon ausgegangen wird, dass im Falle des Weiterbetriebs der Anlagen die Kosten durch die Erlöse für den Strom gedeckt werden würden. Sollte dies nicht eintreffen, erhalten die Betreiber vom Staat einen "Verlustausgleich".<ref name="zwei" /><br />
<br />
Sollte ein Reaktor nicht weiterbetrieben werden, würden die Kosten für Stillstände, Personal- und Sachkosten, Aufwand für behördliche Verfahren, Erfüllung Meldepflichten, Kosten für Deckungskäufe im Fall von Stillständen vor dem 31.12.2022, Kosten für Verzögerung des Rückbaus beim betreffenden AKW und anderen Atomkraftwerken des Konzerns sowie für die Vorhaltung in Reserve vom Staat übernommen werden.<ref name="zwei" /><br />
<br />
''Ursula Schönberger, Projektleiterin Atommüllreport''<br />
<br />
Erstveröffentlicht im Atommüllreport:<br />
* https://atomuellreport.de/themen/detail/laufzeiterlaengerung-sinnlos-gefaehrlich-und-teuer.html<br />
<br />
<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atom(ausstiegs)politiken_in_EU_und_USA&diff=218372022-01:Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA2022-10-14T18:42:29Z<p>WikiSysop: </p>
<hr />
<div>== Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA ==<br />
'''fb''' Zum Stichtag 1. Juli 2021 stellte die Europäische Union mit 106 in Betrieb befindlichen Reaktoren die weltgrößte Flotte installierter Atomkraftwerksleistung bereit, nur knapp gefolgt von den USA mit 93 Reaktoren. Auf der Ebene der Staaten standen die USA auf Rangplatz 1, gefolgt von Frankreich mit 56 Reaktoren und China mit 53 Reaktoren. Der Anteil von Atomenergie am Strommix machte in den USA 19,7%, in der EU 24,8% aus. 2020 wurde in der Europäischen Union von Regenerativen Energien (ohne Berücksichtigung der Wasserkraft) zum ersten Mal mehr Elektrizität erzeugt als durch Kernspaltung. Atomkraft ist offenbar sowohl in der EU als auch in den USA eine bedeutende Energiequelle (Schneider et al. 2021: 302, 354, 394).<br />
<br />
Den entscheidenden Anteil am Primärenergieverbrauch (also nicht nur Strom) bilden jedoch in beiden Regionen fossile Energieträger. Diese dominieren den Bruttoinlandsenergieverbrauch mit 69,3% in der EU (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2019), während sie in den USA (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2020) sogar 79% ausmachten (EIA 2021; eurostat 2021a).<br />
<br />
=== Status und Perspektiven der Atomkraftnutzung ===<br />
In der Europäischen Union ist die Atomkraft hochgradig umstritten: 13 Mitgliedsstaaten betreiben Atomkraftwerke (AKW), von denen vier einen Atomausstieg beschlossen haben (Belgien, BRD, Spanien, Schweden); 14 Mitgliedsstaaten besitzen keine in Betrieb befindlichen Atomreaktoren, von denen einer (Polen) derzeit versucht ein umfangreiches Atomprogramm umzusetzen (.ausgestrahlt 2019: 24; eurostat 2021b). Drei Reaktoren wurden 2020 stillgelegt (Fessenheim-1+2, Ringhals-1), während sich vier solche im Bau befanden (Olkiluoto-3, Flamanville-3, Mochovce-3+4) – allerdings mit massiven Verspätungen von einem Jahrzehnt und länger sowie mit Kostenexplosionen bis zum 6fachen der ursprünglichen Kalkulationen (Neubauer 2008; Schneider et al. 2021: 75, 77–80, 84, 93, 355). Viele EU-Staaten werden letztlich das Kapitel der Atomstromproduktion aufgrund der zunehmenden Überalterung der Reaktorflotte (durchschnittlich 35,9 Jahre in der EU) und der wirtschaftlichen Unrentabilität neuer Atomkraftwerke in den nächsten Jahrzehnten schließen (Schneider u. a. 2021: 354 ff.).<br />
<br />
Schwer einzuschätzen sind für diese Einschätzung, die auf der Situation vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine basiert, die Auswirkungen der aktuellen Energiekrise. Diese hat zwar verdeutlicht, wie katastrophal auch in Hinsicht auf die Energieversorgungssicherheit der immer noch hohe Anteil fossiler Energieträger bei der Stromerzeugung ist, allerdings auch Kurzschlussreaktionen und aggressiven pro- nuklearen Lobbyismus verursacht. Derzeit diskutieren verschiedene europäische Regierungen über Laufzeitverlängerungen für von Stilllegungen betroffene alte AKW (Belgien<ref name="jungeWelt_Belgien">https://www.jungewelt.de/artikel/435405.nuklearenergie-aus-f%C3%BCr-schrottmeiler.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref>, BRD), die Aufgabe des Atomausstiegs oder den Neubau von Reaktoren (Bulgarien<ref name="Euraktiv_Bulgarien">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/bulgarien-will-den-bau-eines-neuen-atomreaktors-vorantreiben/ -gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Frankreich<ref name="FrankreichAtomkraft">https://de.investing.com/analysis/frankreich-vereinfacht-bau-von-atomkraftwerken-200476765 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_Frankreich">https://www.euractiv.de/section/energie/news/atomkraft-renaissance-in-frankreich-wirkt-gesetzt-aber-edf-wankt/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Niederlande<ref name="Euraktiv_Niederlande">https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/erstes-kraftwerk-seit-50-jahren-niederlande-kehren-zum-atomstrom-zurueck/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Tschechien<ref name="TschechienSMR">https://www.meinbezirk.at/gmuend/c-lokales/tschechien-baut-neues-mini-atomkraftwerk-in-grenznaehe_a5621755 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Blackout_Temelin">https://blackout-news.de/aktuelles/erstes-europaeisches-mini-akw-wird-in-suedboehmen-gebaut/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_SMR">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/osteuropaeische-laender-wollen-modulare-atomreaktoren-aus-den-usa/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>). Dabei ist die Abhängigkeit von russischen Energiequellen auch in der europäischen Atomindustrie groß: Russland ist der größte Uranexporteur in die EU und mindestens 18 Reaktoren in fünf Mitgliedsstaaten sind auf dessen Brennelemente angewiesen<ref name="AtommuellreportRussland">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/die-bedeutung-der-russischen-atomindustrie-fuer-europa.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Russland">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/10/russische-atom-diplomatie-gef%C3%A4hrdet-sicherheit-europas/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Der Neubau von Atomanlagen ist weiterhin mit großen zeitlichen (Bauzeitüberziehungen) und finanziellen (Preissteigerungen) Problemen konfrontiert und daher unter rationalen Gesichtspunkten keine Option. Infolge der Invasion in der Ukraine ist im Mai nun auch das russische AKW-Neubauprojekt Hanhikivi im Norden Finnlands gescheitert<ref name="Euractiv_Hanhikivi">https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/finnisches-unternehmen-kuendigt-rosatom-vertrag-ueber-kernkraftwerkslieferung/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, für das bereits Naturschutzgebiete verwüstet worden waren<ref name="grbl_Pyhaejoki">https://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2016-01:Mit_Taser_und_Tr%C3%A4nengas_f%C3%BCr_das_finnisch-russische_AKW - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>. Nur Atombombenstaaten haben aufgrund militärischer Interessen eine klare Motivation, die Atomindustrie weiter mit Milliardenbeträgen zu subventionieren<ref name="Atommuellreport_Taxonomie">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/eu-taxonomie-finanzspritze-fuer-die-desastroese-atompolitik-frankreichs.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Auch der Weiterbetrieb alter AKW ist kaum eine Hilfe in der Energiekrise: In der BRD kann Atomstrom nur einen winzigen Anteil der einzusparenden Gaskraftwerkskapazitäten ersetzen. Ein wesentlicher Teil deren Produktion ist Heizwärme, die von den AKW nicht verfügbar ist. Diese könnten auch kaum zur Kostensenkung bei der Stromerzeugung beitragen. Absurderweise wird nunmehr für den deutschen AKW-Betrieb mit der französischen Atomstrommisere argumentiert, weil das hochgradig von AKW abhängige Land in diesem Jahr zeitweise mehr als die Hälfte seiner Anlagen wegen verschiedenster Probleme nicht nutzen konnte und fast jeden Tag auf Stromimporte aus der BRD in der Größenordnung der Kapazitäten vierer Großkraftwerke angewiesen war<ref name="Atommuellreport_Taxonomie" /><ref name="AtommuellreportLauftzeitverlaengerung">https://atommuellreport.de/themen/detail/laufzeitverlaengerung-sinnlos-gefaehrlich-und-teuer.html - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="FranzoesischeEnergiekrise">https://web.de/magazine/politik/auswirkungen-franzoesische-energiekrise-deutschland-37340700 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Die Auseinandersetzungen um die Zukunft der der Atomkraftnutzung in Europa spiegelten sich in den letzten Jahren in den Kämpfen um die Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie wider. Verschiedene EU- und nationale Organisationen ebenso wie Expert*innengruppen veröffentlichten Analysen zu diesem Vorhaben. Die meisten kamen zu dem Schluss, dass es keinesfalls zulässig wäre, Atomkraft als nachhaltige Energiequelle zu behandeln. Trotzdem behauptete das ''Joint Research Centre'', das an mehreren Atomprojekten beteiligt ist, Atomkraft sei nicht schädlicher als andere bereits als nachhaltig eingestufte Energieträger. Viele Länder übten Druck auf die Europäische Kommission sowohl für als auch gegen die Aufnahme der Atomenergie in die EU-Taxonomie aus (Pistner/Englert 2021; Schneider et al. 2021: 38–41). Nach mehrfachen Verzögerungen verkündete die Kommission im Februar 2022, Atomkraft solle zukünftig als nachhaltige Energiequelle gelten. Im Juli stimmte auch das EU-Parlament knapp der Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie zu. Inzwischen haben mehrere EU-Staaten und Organisationen Klagen vor dem EU-Gerichtshof dagegen eingereicht <ref name"NAU_Taxonomie">https://www.nau.ch/ort/basel/klage-gegen-grunes-eu-label-fur-atomenergie-eingereicht-66291417 - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Taxonomie">https://www.ausgestrahlt.de/themen/europa-und-atom/eu-taxonomie/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_YelloDeal">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/01/05/eu-taxonomie-analysiert-yellow-deal-statt-klimaschutz/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="dont-nuke-taxonomy">https://dont-nuke-the-taxonomy.eu/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref><ref name="Stern_Taxonomie">https://www.stern.de/news/oesterreich-klagt-wegen-einstufung-von-atomkraft-als-nachhaltig-vor-eugh-32794520.html - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Krone_Taxonomie">https://www.kronehit.at/news/gruenes-label-fuer-atomkraft-2/ - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Tagesschau_Klagen">https://www.tagesschau.de/ausland/oesterreich-klage-taxonomie-atomkraft-101.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref><ref name="Oekonews_Greenpeace">https://www.oekonews.at/?mdoc_id=1175330 - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="heise_Klagen">https://www.heise.de/tp/features/Umweltschuetzer-planen-Gemeinschaftsklage-gegen-EU-Taxonomie-7269696.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Auch in den Vereinigten Staaten konnte ein Rückgang der Nutzung der Atomenergie in den vergangenen Jahren festgestellt werden. 2021 wurden zwei Reaktoren stillgelegt, einer in Iowa (Duane Arnold-1) und ein weiterer im Bundesstaat New York (Indian Point-2). Fast alle Atomreaktoren in den USA haben inzwischen ein Alter zwischen 31-40 Jahren (46 Reaktoren) oder 41-50 Jahren (41 Reaktoren) erreicht, während lediglich einer jünger als 10 Jahre ist. Die übliche erlaubte Betriebszeit eines Atomkraftwerks liegt bei Inbetriebnahme in den USA bei 40 Jahren. Diese wurde bereits um 20 Jahre für 85 der derzeit betriebenen Anlagen verlängert. Eine NRC<ref>NRC: Nuclear Regulatory Commission; eine für die Atomsicherheit zuständige US-Bundesbehörde</ref>-Richtlinie aus dem Jahr 2017 ermöglicht eine weitere Laufzeitverlängerung um zusätzliche 20 Jahre, so dass Reaktoren bis zu 80 Jahre in Betrieb bleiben könnten. 6 Anlagen erhielten eine entsprechende Genehmigung bereits (Schneider et al. 2021: 147, 149–150).<br />
<br />
Die Biden-Regierung will die Treibhausgasemissionen der USA durch die Unterstützung der Atomkraft reduzieren, insbesondere mithilfe des ''Zero-emission Nuclear Power Production Credit Act'', der dem Kongress im Juni 2021 vorgelegt wurde. Dies könnte zu einer Steuergutschrift in Höhe von 15 Dollar/MWh führen, die helfen könnten, abgewrackte Atomkraftwerke vor der Stilllegung zu bewahren (WNISR 2021: 148). Zwei Reaktoren befinden sich in den Vereinigten Staaten immer noch im Bau und leiden unter mehr als vervierfachten Herstellungskosten: die Reaktoren 3 und 4 des AKW Vogtle im Bundesstaat Georgia (WNISR 2021: 147, 155 f.). Zusammengefasst befindet sich die US-amerikanische Atomenergienutzung also in einem Prozess der Schrumpfung, weil Reaktoren stillgelegt werden mussten; andererseits versucht die Biden-Regierung diesen zu stoppen, indem sie neue Maßnahmen und finanzielle Unterstützung bereitstellt (Congress 2021; Schneider et al. 2021: 147–148, 155–161).<br />
<br />
=== Fazit ===<br />
Es können eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den Energiepolitiken der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika festgestellt werden: Beide wollen ihre Energiesysteme transformieren, um Treibhausgase in Richtung null zu reduzieren. Beide sind gegenwärtig stark von fossilen Energieträgern abhängig und beide betreiben die gewaltigsten atomaren Reaktorflotten der Welt, erfahren aber eine kontinuierliche Schrumpfung der Atomindustrie. Unterschiede können einerseits hinsichtlich der Konkretheit und Ambitionen in der Klimapolitik gesehen werden<ref>Siehe dazu den Originalartikel, auf dem dieser atomkraftbezogene Auszug basiert und den der Autor im Originalbeitrag verantwortet hat: https://medium.com/unceurope/energy-transformation-nuclear-and-fossil-phase-out-policies-in-eu-and-us-be5c02e2d566</ref>, in der die Europäische Union im Augenblick größere Ziele angehen will. Der Hauptunterschied zwischen den Herangehensweisen in der Atompolitik in der EU und den USA besteht darin, dass die Europäische Union große Uneinigkeit in Hinblick auf die Zukunft der Atomtechnologie aufweist, während in den Vereinigten Staaten für diese Industrie weit mehr möglich ist, da Atomausstiegspolitiken wie in einigen EU-Staaten fehlen. Dementsprechend werden Stilllegungen von Reaktoren in den USA normalerweise durch deren Unwirtschaftlichkeit verursacht, manchmal in Verbindung mit den Auswirkungen von Protesten. In der EU sind die Atompolitiken der Mitgliedsstaaten ziemlich entgegengesetzt, aber so lange keine massive staatliche Subventionierung der Atomenergie bereitgestellt wird, wird ihre Verwendung insgesamt - gleichfalls aus wirtschaftlichen Gründen - zurückgehen. Dieser Prozess wird in einigen Ländern abgekürzt durch explizite Ausstiegspolitiken.<br />
<br />
<br />
<br />
=== Literatur ===<br />
* .ausgestrahlt (2019): „Atomkraft auf der Kippe“. .ausgestrahlt-Magazin. Hamburg S. 1–24.<br />
* Congress (2021): „H.R.4024 - Zero-Emission Nuclear Power Production Credit Act of 2021“. congress.gov. U.S. Congress.<br />
* EIA (2021): „Consumption and production“. Energy Information Administration. U.S. Energy Information Administration Abgerufen am 26.11.2021 von https://www.eia.gov/energyexplained/us-energy-facts/.<br />
* eurostat (2021a): „Energy Statistics - an overview“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 26.11.2021 von https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Energy_statistics_-_an_overview#Final_energy_consumption.<br />
* eurostat (2021b): „Nuclear energy statistics“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 25.11.2021 von http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Nuclear_energy_statistics.<br />
* Neubauer, Lundquist (2008): „Erster EPR in Frankreich wird um ein Fünftel teurer als geplant“. Verivox Abgerufen am 25.11.2021 von https://www.verivox.de/strom/nachrichten/erster-epr-in-frankreich-wird-um-ein-fuenftel-teurer-als-geplant-38450/.<br />
* Pistner, Christoph; Englert, Matthias (2021): Nuclear Power and the „do no significant harm“ criteria of the EU Taxonomy. ( Nr. 4/2021) (Oeko-Institut Working Paper).<br />
* Schneider, Mycle; Froggatt, Antony; Hazemann, Julie; u. a. (2021): The World Nuclear Industry Status Report 2021. Paris.<br />
<br />
<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
<br />
{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
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<div>== Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA ==<br />
'''fb''' Zum Stichtag 1. Juli 2021 stellte die Europäische Union mit 106 in Betrieb befindlichen Reaktoren die weltgrößte Flotte installierter Atomkraftwerksleistung bereit, nur knapp gefolgt von den USA mit 93 Reaktoren. Auf der Ebene der Staaten standen die USA auf Rangplatz 1, gefolgt von Frankreich mit 56 Reaktoren und China mit 53 Reaktoren. Der Anteil von Atomenergie am Strommix machte in den USA 19,7%, in der EU 24,8% aus. 2020 wurde in der Europäischen Union von Regenerativen Energien (ohne Berücksichtigung der Wasserkraft) zum ersten Mal mehr Elektrizität erzeugt als durch Kernspaltung. Atomkraft ist offenbar sowohl in der EU als auch in den USA eine bedeutende Energiequelle (Schneider et al. 2021: 302, 354, 394).<br />
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Den entscheidenden Anteil am Primärenergieverbrauch (also nicht nur Strom) bilden jedoch in beiden Regionen fossile Energieträger. Diese dominieren den Bruttoinlandsenergieverbrauch mit 69,3% in der EU (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2019), während sie in den USA (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2020) sogar 79% ausmachten (EIA 2021; eurostat 2021a).<br />
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=== Status und Perspektiven der Atomkraftnutzung ===<br />
In der Europäischen Union ist die Atomkraft hochgradig umstritten: 13 Mitgliedsstaaten betreiben Atomkraftwerke (AKW), von denen vier einen Atomausstieg beschlossen haben (Belgien, BRD, Spanien, Schweden); 14 Mitgliedsstaaten besitzen keine in Betrieb befindlichen Atomreaktoren, von denen einer (Polen) derzeit versucht ein umfangreiches Atomprogramm umzusetzen (.ausgestrahlt 2019: 24; eurostat 2021b). Drei Reaktoren wurden 2020 stillgelegt (Fessenheim-1+2, Ringhals-1), während sich vier solche im Bau befanden (Olkiluoto-3, Flamanville-3, Mochovce-3+4) – allerdings mit massiven Verspätungen von einem Jahrzehnt und länger sowie mit Kostenexplosionen bis zum 6fachen der ursprünglichen Kalkulationen (Neubauer 2008; Schneider et al. 2021: 75, 77–80, 84, 93, 355). Viele EU-Staaten werden letztlich das Kapitel der Atomstromproduktion aufgrund der zunehmenden Überalterung der Reaktorflotte (durchschnittlich 35,9 Jahre in der EU) und der wirtschaftlichen Unrentabilität neuer Atomkraftwerke in den nächsten Jahrzehnten schließen (Schneider u. a. 2021: 354 ff.).<br />
<br />
Schwer einzuschätzen sind für diese Einschätzung, die auf der Situation vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine basiert, die Auswirkungen der aktuellen Energiekrise. Diese hat zwar verdeutlicht, wie katastrophal auch in Hinsicht auf die Energieversorgungssicherheit der immer noch hohe Anteil fossiler Energieträger bei der Stromerzeugung ist, allerdings auch Kurzschlussreaktionen und aggressiven pro- nuklearen Lobbyismus verursacht. Derzeit diskutieren verschiedene europäische Regierungen über Laufzeitverlängerungen für von Stilllegungen betroffene alte AKW (Belgien<ref name="jungeWelt_Belgien">https://www.jungewelt.de/artikel/435405.nuklearenergie-aus-f%C3%BCr-schrottmeiler.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref>, BRD), die Aufgabe des Atomausstiegs oder den Neubau von Reaktoren (Bulgarien<ref name="Euraktiv_Bulgarien">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/bulgarien-will-den-bau-eines-neuen-atomreaktors-vorantreiben/ -gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Frankreich<ref name="FrankreichAtomkraft">https://de.investing.com/analysis/frankreich-vereinfacht-bau-von-atomkraftwerken-200476765 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_Frankreich">https://www.euractiv.de/section/energie/news/atomkraft-renaissance-in-frankreich-wirkt-gesetzt-aber-edf-wankt/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Niederlande<ref name="Euraktiv_Niederlande">https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/erstes-kraftwerk-seit-50-jahren-niederlande-kehren-zum-atomstrom-zurueck/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Tschechien<ref name="TschechienSMR">https://www.meinbezirk.at/gmuend/c-lokales/tschechien-baut-neues-mini-atomkraftwerk-in-grenznaehe_a5621755 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Blackout_Temelin">https://blackout-news.de/aktuelles/erstes-europaeisches-mini-akw-wird-in-suedboehmen-gebaut/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_SMR">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/osteuropaeische-laender-wollen-modulare-atomreaktoren-aus-den-usa/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>). Dabei ist die Abhängigkeit von russischen Energiequellen auch in der europäischen Atomindustrie groß: Russland ist der größte Uranexporteur in die EU und mindestens 18 Reaktoren in fünf Mitgliedsstaaten sind auf dessen Brennelemente angewiesen<ref name="AtommuellreportRussland">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/die-bedeutung-der-russischen-atomindustrie-fuer-europa.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Russland">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/10/russische-atom-diplomatie-gef%C3%A4hrdet-sicherheit-europas/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Der Neubau von Atomanlagen ist weiterhin mit großen zeitlichen (Bauzeitüberziehungen) und finanziellen (Preissteigerungen) Problemen konfrontiert und daher unter rationalen Gesichtspunkten keine Option. Infolge der Invasion in der Ukraine ist im Mai nun auch das russische AKW-Neubauprojekt Hanhikivi im Norden Finnlands gescheitert<ref name="Euractiv_Hanhikivi">https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/finnisches-unternehmen-kuendigt-rosatom-vertrag-ueber-kernkraftwerkslieferung/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, für das bereits Naturschutzgebiete verwüstet worden waren<ref name="grbl_Pyhaejoki">https://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2016-01:Mit_Taser_und_Tr%C3%A4nengas_f%C3%BCr_das_finnisch-russische_AKW - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>. Nur Atombombenstaaten haben aufgrund militärischer Interessen eine klare Motivation, die Atomindustrie weiter mit Milliardenbeträgen zu subventionieren<ref name="Atommuellreport_Taxonomie">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/eu-taxonomie-finanzspritze-fuer-die-desastroese-atompolitik-frankreichs.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Auch der Weiterbetrieb alter AKW ist kaum eine Hilfe in der Energiekrise: In der BRD kann Atomstrom nur einen winzigen Anteil der einzusparenden Gaskraftwerkskapazitäten ersetzen. Ein wesentlicher Teil deren Produktion ist Heizwärme, die von den AKW nicht verfügbar ist. Diese könnten auch kaum zur Kostensenkung bei der Stromerzeugung beitragen. Absurderweise wird nunmehr für den deutschen AKW-Betrieb mit der französischen Atomstrommisere argumentiert, weil das hochgradig von AKW abhängige Land in diesem Jahr zeitweise mehr als die Hälfte seiner Anlagen wegen verschiedenster Probleme nicht nutzen konnte und fast jeden Tag auf Stromimporte aus der BRD in der Größenordnung der Kapazitäten vierer Großkraftwerke angewiesen war<ref name="Atommuellreport_Taxonomie" /><ref name="AtommuellreportLauftzeitverlaengerung">https://atommuellreport.de/themen/detail/laufzeitverlaengerung-sinnlos-gefaehrlich-und-teuer.html - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="FranzoesischeEnergiekrise">https://web.de/magazine/politik/auswirkungen-franzoesische-energiekrise-deutschland-37340700 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Die Auseinandersetzungen um die Zukunft der der Atomkraftnutzung in Europa spiegelten sich in den letzten Jahren in den Kämpfen um die Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie wider. Verschiedene EU- und nationale Organisationen ebenso wie Expert*innengruppen veröffentlichten Analysen zu diesem Vorhaben. Die meisten kamen zu dem Schluss, dass es keinesfalls zulässig wäre, Atomkraft als nachhaltige Energiequelle zu behandeln. Trotzdem behauptete das ''Joint Research Centre'', das an mehreren Atomprojekten beteiligt ist, Atomkraft sei nicht schädlicher als andere bereits als nachhaltig eingestufte Energieträger. Viele Länder übten Druck auf die Europäische Kommission sowohl für als auch gegen die Aufnahme der Atomenergie in die EU-Taxonomie aus (Pistner/Englert 2021; Schneider et al. 2021: 38–41). Nach mehrfachen Verzögerungen verkündete die Kommission im Februar 2022, Atomkraft solle zukünftig als nachhaltige Energiequelle gelten. Im Juli stimmte auch das EU-Parlament knapp der Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie zu. Inzwischen haben mehrere EU-Staaten und Organisationen Klagen vor dem EU-Gerichtshof dagegen eingereicht <ref name"NAU_Taxonomie">https://www.nau.ch/ort/basel/klage-gegen-grunes-eu-label-fur-atomenergie-eingereicht-66291417 - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Taxonomie">https://www.ausgestrahlt.de/themen/europa-und-atom/eu-taxonomie/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_YelloDeal">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/01/05/eu-taxonomie-analysiert-yellow-deal-statt-klimaschutz/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="dont-nuke-taxonomy">https://dont-nuke-the-taxonomy.eu/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref><ref name="Stern_Taxonomie">https://www.stern.de/news/oesterreich-klagt-wegen-einstufung-von-atomkraft-als-nachhaltig-vor-eugh-32794520.html - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Krone_Taxonomie">https://www.kronehit.at/news/gruenes-label-fuer-atomkraft-2/ - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Tagesschau_Klagen">https://www.tagesschau.de/ausland/oesterreich-klage-taxonomie-atomkraft-101.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref><ref name="Oekonews_Greenpeace">https://www.oekonews.at/?mdoc_id=1175330 - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="heise_Klagen">https://www.heise.de/tp/features/Umweltschuetzer-planen-Gemeinschaftsklage-gegen-EU-Taxonomie-7269696.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Auch in den Vereinigten Staaten konnte ein Rückgang der Nutzung der Atomenergie in den vergangenen Jahren festgestellt werden. 2021 wurden zwei Reaktoren stillgelegt, einer in Iowa (Duane Arnold-1) und ein weiterer im Bundesstaat New York (Indian Point-2). Fast alle Atomreaktoren in den USA haben inzwischen ein Alter zwischen 31-40 Jahren (46 Reaktoren) oder 41-50 Jahren (41 Reaktoren) erreicht, während lediglich einer jünger als 10 Jahre ist. Die übliche erlaubte Betriebszeit eines Atomkraftwerks liegt bei Inbetriebnahme in den USA bei 40 Jahren. Diese wurde bereits um 20 Jahre für 85 der derzeit betriebenen Anlagen verlängert. Eine NRC<ref>NRC: Nuclear Regulatory Commission; eine für die Atomsicherheit zuständige US-Bundesbehörde</ref>-Richtlinie aus dem Jahr 2017 ermöglicht eine weitere Laufzeitverlängerung um zusätzliche 20 Jahre, so dass Reaktoren bis zu 80 Jahre in Betrieb bleiben könnten. 6 Anlagen erhielten eine entsprechende Genehmigung bereits (Schneider et al. 2021: 147, 149–150).<br />
<br />
Die Biden-Regierung will die Treibhausgasemissionen der USA durch die Unterstützung der Atomkraft reduzieren, insbesondere mithilfe des ''Zero-emission Nuclear Power Production Credit Act'', der dem Kongress im Juni 2021 vorgelegt wurde. Dies könnte zu einer Steuergutschrift in Höhe von 15 Dollar/MWh führen, die helfen könnten, abgewrackte Atomkraftwerke vor der Stilllegung zu bewahren (WNISR 2021: 148). Zwei Reaktoren befinden sich in den Vereinigten Staaten immer noch im Bau und leiden unter mehr als vervierfachten Herstellungskosten: die Reaktoren 3 und 4 des AKW Vogtle im Bundesstaat Georgia (WNISR 2021: 147, 155 f.). Zusammengefasst befindet sich die US-amerikanische Atomenergienutzung also in einem Prozess der Schrumpfung, weil Reaktoren stillgelegt werden mussten, andererseits versucht die Biden-Regierung diesen zu stoppen, indem sie neue Maßnahmen und finanzielle Unterstützung bereitstellt (Congress 2021; Schneider et al. 2021: 147–148, 155–161).<br />
<br />
=== Fazit ===<br />
Es können eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den Energiepolitiken der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika festgestellt werden: Beide wollen ihre Energiesysteme transformieren, um Treibhausgase in Richtung null zu reduzieren. Beide sind gegenwärtig stark von fossilen Energieträgern abhängig und beide betreiben die gewaltigsten atomaren Reaktorflotten der Welt, erfahren aber eine kontinuierliche Schrumpfung der Atomindustrie. Unterschiede können einerseits hinsichtlich der Konkretheit und Ambitionen in der Klimapolitik gesehen werden<ref>Siehe dazu den Originalartikel, auf dem dieser atomkraftbezogene Auszug basiert und den der Autor im Originalbeitrag verantwortet hat: https://medium.com/unceurope/energy-transformation-nuclear-and-fossil-phase-out-policies-in-eu-and-us-be5c02e2d566</ref>, in der die Europäische Union im Augenblick größere Ziele angehen will. Der Hauptunterschied zwischen den Herangehensweisen in der Atompolitik in der EU und den USA besteht darin, dass die Europäische Union große Uneinigkeit in Hinblick auf die Zukunft der Atomtechnologie aufweist, während in den Vereinigten Staaten für diese Industrie weit mehr möglich ist, da Atomausstiegspolitiken wie in einigen EU-Staaten fehlen. Dementsprechend werden Stilllegungen von Reaktoren in den USA normalerweise durch deren Unwirtschaftlichkeit verursacht, manchmal in Verbindung mit den Auswirkungen von Protesten. In der EU sind die Atompolitiken der Mitgliedsstaaten ziemlich entgegengesetzt, aber so lange keine massive staatliche Subventionierung der Atomenergie bereitgestellt wird, wird ihre Verwendung insgesamt - gleichfalls aus wirtschaftlichen Gründen - zurückgehen. Dieser Prozess wird in einigen Ländern abgekürzt durch explizite Ausstiegspolitiken.<br />
<br />
<br />
<br />
=== Literatur ===<br />
* .ausgestrahlt (2019): „Atomkraft auf der Kippe“. .ausgestrahlt-Magazin. Hamburg S. 1–24.<br />
* Congress (2021): „H.R.4024 - Zero-Emission Nuclear Power Production Credit Act of 2021“. congress.gov. U.S. Congress.<br />
* EIA (2021): „Consumption and production“. Energy Information Administration. U.S. Energy Information Administration Abgerufen am 26.11.2021 von https://www.eia.gov/energyexplained/us-energy-facts/.<br />
* eurostat (2021a): „Energy Statistics - an overview“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 26.11.2021 von https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Energy_statistics_-_an_overview#Final_energy_consumption.<br />
* eurostat (2021b): „Nuclear energy statistics“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 25.11.2021 von http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Nuclear_energy_statistics.<br />
* Neubauer, Lundquist (2008): „Erster EPR in Frankreich wird um ein Fünftel teurer als geplant“. Verivox Abgerufen am 25.11.2021 von https://www.verivox.de/strom/nachrichten/erster-epr-in-frankreich-wird-um-ein-fuenftel-teurer-als-geplant-38450/.<br />
* Pistner, Christoph; Englert, Matthias (2021): Nuclear Power and the „do no significant harm“ criteria of the EU Taxonomy. ( Nr. 4/2021) (Oeko-Institut Working Paper).<br />
* Schneider, Mycle; Froggatt, Antony; Hazemann, Julie; u. a. (2021): The World Nuclear Industry Status Report 2021. Paris.<br />
<br />
<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atom(ausstiegs)politiken_in_EU_und_USA&diff=218352022-01:Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA2022-10-14T18:35:45Z<p>WikiSysop: </p>
<hr />
<div>== Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA ==<br />
'''fb''' Zum Stichtag 1. Juli 2021 stellte die Europäische Union mit 106 in Betrieb befindlichen Reaktoren die weltgrößte Flotte installierter Atomkraftwerksleistung bereit, nur knapp gefolgt von den USA mit 93 Reaktoren. Auf der Ebene der Staaten standen die USA auf Rangplatz 1, gefolgt von Frankreich mit 56 Reaktoren und China mit 53 Reaktoren. Der Anteil von Atomenergie am Strommix machte in den USA 19,7%, in der EU 24,8% aus. 2020 wurde in der Europäischen Union von Regenerativen Energien (ohne Berücksichtigung der Wasserkraft) zum ersten Mal mehr Elektrizität erzeugt als durch Kernspaltung. Atomkraft ist offenbar sowohl in der EU als auch in den USA eine bedeutende Energiequelle (Schneider et al. 2021: 302, 354, 394).<br />
<br />
Den entscheidenden Anteil am Primärenergieverbrauch (also nicht nur Strom) bilden jedoch in beiden Regionen fossile Energieträger. Diese dominieren den Bruttoinlandsenergieverbrauch mit 69,3% in der EU (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2019), während sie in den USA (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2020) sogar 79% ausmachten (EIA 2021; eurostat 2021a).<br />
<br />
=== Status und Perspektiven der Atomkraftnutzung ===<br />
In der Europäischen Union ist die Atomkraft hochgradig umstritten: 13 Mitgliedsstaaten betreiben Atomkraftwerke (AKW), von denen vier einen Atomausstieg beschlossen haben (Belgien, BRD, Spanien, Schweden); 14 Mitgliedsstaaten besitzen keine in Betrieb befindlichen Atomreaktoren, von denen einer (Polen) derzeit versucht ein umfangreiches Atomprogramm umzusetzen (.ausgestrahlt 2019: 24; eurostat 2021b). Drei Reaktoren wurden 2020 stillgelegt (Fessenheim-1+2, Ringhals-1), während sich vier solche im Bau befanden (Olkiluoto-3, Flamanville-3, Mochovce-3+4) – allerdings mit massiven Verspätungen von einem Jahrzehnt und länger sowie mit Kostenexplosionen bis zum 6fachen der ursprünglichen Kalkulationen (Neubauer 2008; Schneider et al. 2021: 75, 77–80, 84, 93, 355). Viele EU-Staaten werden letztlich das Kapitel der Atomstromproduktion aufgrund der zunehmenden Überalterung der Reaktorflotte (durchschnittlich 35,9 Jahre in der EU) und der wirtschaftlichen Unrentabilität neuer Atomkraftwerke in den nächsten Jahrzehnten schließen (Schneider u. a. 2021: 354 ff.).<br />
<br />
Schwer einzuschätzen sind für diese Einschätzung, die auf der Situation vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine basiert, die Auswirkungen der aktuellen Energiekrise. Diese hat zwar verdeutlicht, wie katastrophal auch in Hinsicht auf die Energieversorgungssicherheit der immer noch hohe Anteil fossiler Energieträger bei der Stromerzeugung ist, allerdings auch Kurzschlussreaktionen und aggressiven pro- nuklearen Lobbyismus verursacht. Derzeit diskutieren verschiedene europäische Regierungen über Laufzeitverlängerungen für von Stilllegungen betroffene alte AKW (Belgien<ref name="jungeWelt_Belgien">https://www.jungewelt.de/artikel/435405.nuklearenergie-aus-f%C3%BCr-schrottmeiler.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref>, BRD), die Aufgabe des Atomausstiegs oder den Neubau von Reaktoren (Bulgarien<ref name="Euraktiv_Bulgarien">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/bulgarien-will-den-bau-eines-neuen-atomreaktors-vorantreiben/ -gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Frankreich<ref name="FrankreichAtomkraft">https://de.investing.com/analysis/frankreich-vereinfacht-bau-von-atomkraftwerken-200476765 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_Frankreich">https://www.euractiv.de/section/energie/news/atomkraft-renaissance-in-frankreich-wirkt-gesetzt-aber-edf-wankt/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Niederlande<ref name="Euraktiv_Niederlande">https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/erstes-kraftwerk-seit-50-jahren-niederlande-kehren-zum-atomstrom-zurueck/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Tschechien<ref name="TschechienSMR">https://www.meinbezirk.at/gmuend/c-lokales/tschechien-baut-neues-mini-atomkraftwerk-in-grenznaehe_a5621755 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Blackout_Temelin">https://blackout-news.de/aktuelles/erstes-europaeisches-mini-akw-wird-in-suedboehmen-gebaut/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_SMR">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/osteuropaeische-laender-wollen-modulare-atomreaktoren-aus-den-usa/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>). Dabei ist die Abhängigkeit von russischen Energiequellen auch in der europäischen Atomindustrie groß: Russland ist der größte Uranexporteur in die EU und mindestens 18 Reaktoren in fünf Mitgliedsstaaten sind auf dessen Brennelemente angewiesen<ref name="AtommuellreportRussland">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/die-bedeutung-der-russischen-atomindustrie-fuer-europa.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Russland">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/10/russische-atom-diplomatie-gef%C3%A4hrdet-sicherheit-europas/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Der Neubau von Atomanlagen ist weiterhin mit großen zeitlichen (Bauzeitüberziehungen) und finanziellen (Preissteigerungen) Problemen konfrontiert und daher unter rationalen Gesichtspunkten keine Option. Infolge der Invasion in der Ukraine ist im Mai nun auch das russische AKW-Neubauprojekt Hanhikivi im Norden Finnlands gescheitert<ref name="Euractiv_Hanhikivi">https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/finnisches-unternehmen-kuendigt-rosatom-vertrag-ueber-kernkraftwerkslieferung/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, für das bereits Naturschutzgebiete verwüstet worden waren<ref name="grbl_Pyhaejoki">https://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2016-01:Mit_Taser_und_Tr%C3%A4nengas_f%C3%BCr_das_finnisch-russische_AKW - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>. Nur Atombombenstaaten haben aufgrund militärischer Interessen eine klare Motivation, die Atomindustrie weiter mit Milliardenbeträgen zu subventionieren<ref name="Atommuellreport_Taxonomie">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/eu-taxonomie-finanzspritze-fuer-die-desastroese-atompolitik-frankreichs.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Auch der Weiterbetrieb alter AKW ist kaum eine Hilfe in der Energiekrise: In der BRD kann Atomstrom nur einen winzigen Anteil der einzusparenden Gaskraftwerkskapazitäten ersetzen (ein wesentlicher Teil deren Produktion ist Heizwärme, die von den AKW nicht verfügbar ist) und könnte auch kaum zur Kostensenkung bei der Stromerzeugung beitragen. Absurderweise wird nunmehr für den deutschen AKW-Betrieb mit der französischen Atomstrommisere argumentiert, weil das hochgradig von AKW abhängige Land in diesem Jahr zeitweise mehr als die Hälfte seiner Anlagen wegen verschiedenster Probleme nicht nutzen und fast jeden Tag auf Stromimporte aus der BRD in der Größenordnung der Kapazitäten vierer Großkraftwerke angewiesen war<ref name="Atommuellreport_Taxonomie" /><ref name="AtommuellreportLauftzeitverlaengerung">https://atommuellreport.de/themen/detail/laufzeitverlaengerung-sinnlos-gefaehrlich-und-teuer.html - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="FranzoesischeEnergiekrise">https://web.de/magazine/politik/auswirkungen-franzoesische-energiekrise-deutschland-37340700 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Die Auseinandersetzungen um die Zukunft der der Atomkraftnutzung in Europa spiegelten sich in den letzten Jahren in den Kämpfen um die Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie wider. Verschiedene EU- und nationale Organisationen ebenso wie Expert*innengruppen veröffentlichten Analysen zu diesem Vorhaben. Die meisten kamen zu dem Schluss, dass es keinesfalls zulässig wäre, Atomkraft als nachhaltige Energiequelle zu behandeln. Trotzdem behauptete das ''Joint Research Centre'', das an mehreren Atomprojekten beteiligt ist, Atomkraft sei nicht schädlicher als andere bereits als nachhaltig eingestufte Energieträger. Viele Länder übten Druck auf die Europäische Kommission sowohl für als auch gegen die Aufnahme der Atomenergie in die EU-Taxonomie aus (Pistner/Englert 2021; Schneider et al. 2021: 38–41). Nach mehrfachen Verzögerungen verkündete die Kommission im Februar 2022, Atomkraft solle zukünftig als nachhaltige Energiequelle gelten. Im Juli stimmte auch das EU-Parlament knapp der Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie zu. Inzwischen haben mehrere EU-Staaten und Organisationen Klagen vor dem EU-Gerichtshof dagegen eingereicht <ref name"NAU_Taxonomie">https://www.nau.ch/ort/basel/klage-gegen-grunes-eu-label-fur-atomenergie-eingereicht-66291417 - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Taxonomie">https://www.ausgestrahlt.de/themen/europa-und-atom/eu-taxonomie/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_YelloDeal">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/01/05/eu-taxonomie-analysiert-yellow-deal-statt-klimaschutz/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="dont-nuke-taxonomy">https://dont-nuke-the-taxonomy.eu/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref><ref name="Stern_Taxonomie">https://www.stern.de/news/oesterreich-klagt-wegen-einstufung-von-atomkraft-als-nachhaltig-vor-eugh-32794520.html - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Krone_Taxonomie">https://www.kronehit.at/news/gruenes-label-fuer-atomkraft-2/ - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Tagesschau_Klagen">https://www.tagesschau.de/ausland/oesterreich-klage-taxonomie-atomkraft-101.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref><ref name="Oekonews_Greenpeace">https://www.oekonews.at/?mdoc_id=1175330 - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="heise_Klagen">https://www.heise.de/tp/features/Umweltschuetzer-planen-Gemeinschaftsklage-gegen-EU-Taxonomie-7269696.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
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Auch in den Vereinigten Staaten konnte ein Rückgang der Nutzung der Atomenergie in den vergangenen Jahren festgestellt werden. 2021 wurden zwei Reaktoren stillgelegt, einer in Iowa (Duane Arnold-1) und ein weiterer im Bundesstaat New York (Indian Point-2). Fast alle Atomreaktoren in den USA haben inzwischen ein Alter zwischen 31-40 Jahren (46 Reaktoren) oder 41-50 Jahren (41 Reaktoren) erreicht, während lediglich einer jünger als 10 Jahre ist. Die übliche erlaubte Betriebszeit eines Atomkraftwerks liegt bei Inbetriebnahme in den USA bei 40 Jahren. Diese wurde bereits um 20 Jahre für 85 der derzeit betriebenen Anlagen verlängert. Eine NRC<ref>NRC: Nuclear Regulatory Commission; eine für die Atomsicherheit zuständige US-Bundesbehörde</ref>-Richtlinie aus dem Jahr 2017 ermöglicht eine weitere Laufzeitverlängerung um zusätzliche 20 Jahre, so dass Reaktoren bis zu 80 Jahre in Betrieb bleiben könnten. 6 Anlagen erhielten eine entsprechende Genehmigung bereits (Schneider et al. 2021: 147, 149–150).<br />
<br />
Die Biden-Regierung will die Treibhausgasemissionen der USA durch die Unterstützung der Atomkraft reduzieren, insbesondere mithilfe des ''Zero-emission Nuclear Power Production Credit Act'', der dem Kongress im Juni 2021 vorgelegt wurde. Dies könnte zu einer Steuergutschrift in Höhe von 15 Dollar/MWh führen, die helfen könnten, abgewrackte Atomkraftwerke vor der Stilllegung zu bewahren (WNISR 2021: 148). Zwei Reaktoren befinden sich in den Vereinigten Staaten immer noch im Bau und leiden unter mehr als vervierfachten Herstellungskosten: die Reaktoren 3 und 4 des AKW Vogtle im Bundesstaat Georgia (WNISR 2021: 147, 155 f.). Zusammengefasst befindet sich die US-amerikanische Atomenergienutzung also in einem Prozess der Schrumpfung, weil Reaktoren stillgelegt werden mussten, andererseits versucht die Biden-Regierung diesen zu stoppen, indem sie neue Maßnahmen und finanzielle Unterstützung bereitstellt (Congress 2021; Schneider et al. 2021: 147–148, 155–161).<br />
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=== Fazit ===<br />
Es können eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den Energiepolitiken der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika festgestellt werden: Beide wollen ihre Energiesysteme transformieren, um Treibhausgase in Richtung null zu reduzieren. Beide sind gegenwärtig stark von fossilen Energieträgern abhängig und beide betreiben die gewaltigsten atomaren Reaktorflotten der Welt, erfahren aber eine kontinuierliche Schrumpfung der Atomindustrie. Unterschiede können einerseits hinsichtlich der Konkretheit und Ambitionen in der Klimapolitik gesehen werden<ref>Siehe dazu den Originalartikel, auf dem dieser atomkraftbezogene Auszug basiert und den der Autor im Originalbeitrag verantwortet hat: https://medium.com/unceurope/energy-transformation-nuclear-and-fossil-phase-out-policies-in-eu-and-us-be5c02e2d566</ref>, in der die Europäische Union im Augenblick größere Ziele angehen will. Der Hauptunterschied zwischen den Herangehensweisen in der Atompolitik in der EU und den USA besteht darin, dass die Europäische Union große Uneinigkeit in Hinblick auf die Zukunft der Atomtechnologie aufweist, während in den Vereinigten Staaten für diese Industrie weit mehr möglich ist, da Atomausstiegspolitiken wie in einigen EU-Staaten fehlen. Dementsprechend werden Stilllegungen von Reaktoren in den USA normalerweise durch deren Unwirtschaftlichkeit verursacht, manchmal in Verbindung mit den Auswirkungen von Protesten. In der EU sind die Atompolitiken der Mitgliedsstaaten ziemlich entgegengesetzt, aber so lange keine massive staatliche Subventionierung der Atomenergie bereitgestellt wird, wird ihre Verwendung insgesamt - gleichfalls aus wirtschaftlichen Gründen - zurückgehen. Dieser Prozess wird in einigen Ländern abgekürzt durch explizite Ausstiegspolitiken.<br />
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<br />
=== Literatur ===<br />
* .ausgestrahlt (2019): „Atomkraft auf der Kippe“. .ausgestrahlt-Magazin. Hamburg S. 1–24.<br />
* Congress (2021): „H.R.4024 - Zero-Emission Nuclear Power Production Credit Act of 2021“. congress.gov. U.S. Congress.<br />
* EIA (2021): „Consumption and production“. Energy Information Administration. U.S. Energy Information Administration Abgerufen am 26.11.2021 von https://www.eia.gov/energyexplained/us-energy-facts/.<br />
* eurostat (2021a): „Energy Statistics - an overview“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 26.11.2021 von https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Energy_statistics_-_an_overview#Final_energy_consumption.<br />
* eurostat (2021b): „Nuclear energy statistics“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 25.11.2021 von http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Nuclear_energy_statistics.<br />
* Neubauer, Lundquist (2008): „Erster EPR in Frankreich wird um ein Fünftel teurer als geplant“. Verivox Abgerufen am 25.11.2021 von https://www.verivox.de/strom/nachrichten/erster-epr-in-frankreich-wird-um-ein-fuenftel-teurer-als-geplant-38450/.<br />
* Pistner, Christoph; Englert, Matthias (2021): Nuclear Power and the „do no significant harm“ criteria of the EU Taxonomy. ( Nr. 4/2021) (Oeko-Institut Working Paper).<br />
* Schneider, Mycle; Froggatt, Antony; Hazemann, Julie; u. a. (2021): The World Nuclear Industry Status Report 2021. Paris.<br />
<br />
<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atom(ausstiegs)politiken_in_EU_und_USA&diff=218342022-01:Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA2022-10-14T18:35:13Z<p>WikiSysop: </p>
<hr />
<div>== Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA ==<br />
'''fb''' Zum Stichtag 1. Juli 2021 stellte die Europäische Union mit 106 in Betrieb befindlichen Reaktoren die weltgrößte Flotte installierter Atomkraftwerksleistung bereit, nur knapp gefolgt von den USA mit 93 Reaktoren. Auf der Ebene der Staaten standen die USA auf Rangplatz 1, gefolgt von Frankreich mit 56 Reaktoren und China mit 53 Reaktoren. Der Anteil von Atomenergie am Strommix machte in den USA 19,7%, in der EU 24,8% aus. 2020 wurde in der Europäischen Union von Regenerativen Energien (ohne Berücksichtigung der Wasserkraft) zum ersten Mal mehr Elektrizität erzeugt als durch Kernspaltung. Atomkraft ist offenbar sowohl in der EU als auch in den USA eine bedeutende Energiequelle (Schneider et al. 2021: 302, 354, 394).<br />
<br />
Den entscheidenden Anteil am Primärenergieverbrauch (also nicht nur Strom) bilden jedoch in beiden Regionen fossile Energieträger. Diese dominieren den Bruttoinlandsenergieverbrauch mit 69,3% in der EU (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2019), während sie in den USA (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2020) sogar 79% ausmachten (EIA 2021; eurostat 2021a).<br />
<br />
=== Status und Perspektiven der Atomkraftnutzung ===<br />
In der Europäischen Union ist die Atomkraft hochgradig umstritten: 13 Mitgliedsstaaten betreiben Atomkraftwerke (AKW), von denen vier einen Atomausstieg beschlossen haben (Belgien, BRD, Spanien, Schweden); 14 Mitgliedsstaaten besitzen keine in Betrieb befindlichen Atomreaktoren, von denen einer (Polen) derzeit versucht ein umfangreiches Atomprogramm umzusetzen (.ausgestrahlt 2019: 24; eurostat 2021b). Drei Reaktoren wurden 2020 stillgelegt (Fessenheim-1+2, Ringhals-1), während sich vier solche im Bau befanden (Olkiluoto-3, Flamanville-3, Mochovce-3+4) – allerdings mit massiven Verspätungen von einem Jahrzehnt und länger sowie mit Kostenexplosionen bis zum 6fachen der ursprünglichen Kalkulationen (Neubauer 2008; Schneider et al. 2021: 75, 77–80, 84, 93, 355). Viele EU-Staaten werden letztlich das Kapitel der Atomstromproduktion aufgrund der zunehmenden Überalterung der Reaktorflotte (durchschnittlich 35,9 Jahre in der EU) und der wirtschaftlichen Unrentabilität neuer Atomkraftwerke in den nächsten Jahrzehnten schließen (Schneider u. a. 2021: 354 ff.).<br />
<br />
Schwer einzuschätzen sind für diese Einschätzung, die auf der Situation vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine basiert, die Auswirkungen der aktuellen Energiekrise. Diese hat zwar verdeutlicht, wie katastrophal auch in Hinsicht auf die Energieversorgungssicherheit der immer noch hohe Anteil fossiler Energieträger bei der Stromerzeugung ist, allerdings auch Kurzschlussreaktionen und aggressiven pro- nuklearen Lobbyismus verursacht. Derzeit diskutieren verschiedene europäische Regierungen über Laufzeitverlängerungen für von Stilllegungen betroffene alte AKW (Belgien<ref name="jungeWelt_Belgien">https://www.jungewelt.de/artikel/435405.nuklearenergie-aus-f%C3%BCr-schrottmeiler.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref>, BRD), die Aufgabe des Atomausstiegs oder den Neubau von Reaktoren (Bulgarien<ref name="Euraktiv_Bulgarien">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/bulgarien-will-den-bau-eines-neuen-atomreaktors-vorantreiben/ -gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Frankreich<ref name="FrankreichAtomkraft">https://de.investing.com/analysis/frankreich-vereinfacht-bau-von-atomkraftwerken-200476765 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_Frankreich">https://www.euractiv.de/section/energie/news/atomkraft-renaissance-in-frankreich-wirkt-gesetzt-aber-edf-wankt/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Niederlande<ref name="Euraktiv_Niederlande">https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/erstes-kraftwerk-seit-50-jahren-niederlande-kehren-zum-atomstrom-zurueck/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Tschechien<ref name="TschechienSMR">https://www.meinbezirk.at/gmuend/c-lokales/tschechien-baut-neues-mini-atomkraftwerk-in-grenznaehe_a5621755 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Blackout_Temelin">https://blackout-news.de/aktuelles/erstes-europaeisches-mini-akw-wird-in-suedboehmen-gebaut/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_SMR">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/osteuropaeische-laender-wollen-modulare-atomreaktoren-aus-den-usa/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>). Dabei ist die Abhängigkeit von russischen Energiequellen auch in der europäischen Atomindustrie groß: Russland ist der größte Uranexporteur in die EU und mindestens 18 Reaktoren in fünf Mitgliedsstaaten sind auf dessen Brennelemente angewiesen<ref name="AtommuellreportRussland">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/die-bedeutung-der-russischen-atomindustrie-fuer-europa.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Russland">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/10/russische-atom-diplomatie-gef%C3%A4hrdet-sicherheit-europas/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Der Neubau von Atomanlagen ist weiterhin mit großen zeitlichen (Bauzeitüberziehungen) und finanziellen (Preissteigerungen) Problemen konfrontiert und daher unter rationalen Gesichtspunkten keine Option. Infolge der Invasion in der Ukraine ist im Mai nun auch das russische AKW-Neubauprojekt Hanhikivi im Norden Finnlands gescheitert<ref name="Euractiv_Hanhikivi">https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/finnisches-unternehmen-kuendigt-rosatom-vertrag-ueber-kernkraftwerkslieferung/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, für das bereits Naturschutzgebiete verwüstet worden waren<ref name="grbl_Pyhaejoki">https://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2016-01:Mit_Taser_und_Tr%C3%A4nengas_f%C3%BCr_das_finnisch-russische_AKW - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>. Nur Atombombenstaaten haben aufgrund militärischer Interessen eine klare Motivation die Atomindustrie weiter mit Milliardenbeträgen zu subventionieren<ref name="Atommuellreport_Taxonomie">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/eu-taxonomie-finanzspritze-fuer-die-desastroese-atompolitik-frankreichs.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Auch der Weiterbetrieb alter AKW ist kaum eine Hilfe in der Energiekrise: In der BRD kann Atomstrom nur einen winzigen Anteil der einzusparenden Gaskraftwerkskapazitäten ersetzen (ein wesentlicher Teil deren Produktion ist Heizwärme, die von den AKW nicht verfügbar ist) und könnte auch kaum zur Kostensenkung bei der Stromerzeugung beitragen. Absurderweise wird nunmehr für den deutschen AKW-Betrieb mit der französischen Atomstrommisere argumentiert, weil das hochgradig von AKW abhängige Land in diesem Jahr zeitweise mehr als die Hälfte seiner Anlagen wegen verschiedenster Probleme nicht nutzen und fast jeden Tag auf Stromimporte aus der BRD in der Größenordnung der Kapazitäten vierer Großkraftwerke angewiesen war<ref name="Atommuellreport_Taxonomie" /><ref name="AtommuellreportLauftzeitverlaengerung">https://atommuellreport.de/themen/detail/laufzeitverlaengerung-sinnlos-gefaehrlich-und-teuer.html - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="FranzoesischeEnergiekrise">https://web.de/magazine/politik/auswirkungen-franzoesische-energiekrise-deutschland-37340700 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Die Auseinandersetzungen um die Zukunft der der Atomkraftnutzung in Europa spiegelten sich in den letzten Jahren in den Kämpfen um die Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie wider. Verschiedene EU- und nationale Organisationen ebenso wie Expert*innengruppen veröffentlichten Analysen zu diesem Vorhaben. Die meisten kamen zu dem Schluss, dass es keinesfalls zulässig wäre, Atomkraft als nachhaltige Energiequelle zu behandeln. Trotzdem behauptete das ''Joint Research Centre'', das an mehreren Atomprojekten beteiligt ist, Atomkraft sei nicht schädlicher als andere bereits als nachhaltig eingestufte Energieträger. Viele Länder übten Druck auf die Europäische Kommission sowohl für als auch gegen die Aufnahme der Atomenergie in die EU-Taxonomie aus (Pistner/Englert 2021; Schneider et al. 2021: 38–41). Nach mehrfachen Verzögerungen verkündete die Kommission im Februar 2022, Atomkraft solle zukünftig als nachhaltige Energiequelle gelten. Im Juli stimmte auch das EU-Parlament knapp der Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie zu. Inzwischen haben mehrere EU-Staaten und Organisationen Klagen vor dem EU-Gerichtshof dagegen eingereicht <ref name"NAU_Taxonomie">https://www.nau.ch/ort/basel/klage-gegen-grunes-eu-label-fur-atomenergie-eingereicht-66291417 - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Taxonomie">https://www.ausgestrahlt.de/themen/europa-und-atom/eu-taxonomie/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_YelloDeal">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/01/05/eu-taxonomie-analysiert-yellow-deal-statt-klimaschutz/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="dont-nuke-taxonomy">https://dont-nuke-the-taxonomy.eu/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref><ref name="Stern_Taxonomie">https://www.stern.de/news/oesterreich-klagt-wegen-einstufung-von-atomkraft-als-nachhaltig-vor-eugh-32794520.html - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Krone_Taxonomie">https://www.kronehit.at/news/gruenes-label-fuer-atomkraft-2/ - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Tagesschau_Klagen">https://www.tagesschau.de/ausland/oesterreich-klage-taxonomie-atomkraft-101.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref><ref name="Oekonews_Greenpeace">https://www.oekonews.at/?mdoc_id=1175330 - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="heise_Klagen">https://www.heise.de/tp/features/Umweltschuetzer-planen-Gemeinschaftsklage-gegen-EU-Taxonomie-7269696.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Auch in den Vereinigten Staaten konnte ein Rückgang der Nutzung der Atomenergie in den vergangenen Jahren festgestellt werden. 2021 wurden zwei Reaktoren stillgelegt, einer in Iowa (Duane Arnold-1) und ein weiterer im Bundesstaat New York (Indian Point-2). Fast alle Atomreaktoren in den USA haben inzwischen ein Alter zwischen 31-40 Jahren (46 Reaktoren) oder 41-50 Jahren (41 Reaktoren) erreicht, während lediglich einer jünger als 10 Jahre ist. Die übliche erlaubte Betriebszeit eines Atomkraftwerks liegt bei Inbetriebnahme in den USA bei 40 Jahren. Diese wurde bereits um 20 Jahre für 85 der derzeit betriebenen Anlagen verlängert. Eine NRC<ref>NRC: Nuclear Regulatory Commission; eine für die Atomsicherheit zuständige US-Bundesbehörde</ref>-Richtlinie aus dem Jahr 2017 ermöglicht eine weitere Laufzeitverlängerung um zusätzliche 20 Jahre, so dass Reaktoren bis zu 80 Jahre in Betrieb bleiben könnten. 6 Anlagen erhielten eine entsprechende Genehmigung bereits (Schneider et al. 2021: 147, 149–150).<br />
<br />
Die Biden-Regierung will die Treibhausgasemissionen der USA durch die Unterstützung der Atomkraft reduzieren, insbesondere mithilfe des ''Zero-emission Nuclear Power Production Credit Act'', der dem Kongress im Juni 2021 vorgelegt wurde. Dies könnte zu einer Steuergutschrift in Höhe von 15 Dollar/MWh führen, die helfen könnten, abgewrackte Atomkraftwerke vor der Stilllegung zu bewahren (WNISR 2021: 148). Zwei Reaktoren befinden sich in den Vereinigten Staaten immer noch im Bau und leiden unter mehr als vervierfachten Herstellungskosten: die Reaktoren 3 und 4 des AKW Vogtle im Bundesstaat Georgia (WNISR 2021: 147, 155 f.). Zusammengefasst befindet sich die US-amerikanische Atomenergienutzung also in einem Prozess der Schrumpfung, weil Reaktoren stillgelegt werden mussten, andererseits versucht die Biden-Regierung diesen zu stoppen, indem sie neue Maßnahmen und finanzielle Unterstützung bereitstellt (Congress 2021; Schneider et al. 2021: 147–148, 155–161).<br />
<br />
=== Fazit ===<br />
Es können eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den Energiepolitiken der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika festgestellt werden: Beide wollen ihre Energiesysteme transformieren, um Treibhausgase in Richtung null zu reduzieren. Beide sind gegenwärtig stark von fossilen Energieträgern abhängig und beide betreiben die gewaltigsten atomaren Reaktorflotten der Welt, erfahren aber eine kontinuierliche Schrumpfung der Atomindustrie. Unterschiede können einerseits hinsichtlich der Konkretheit und Ambitionen in der Klimapolitik gesehen werden<ref>Siehe dazu den Originalartikel, auf dem dieser atomkraftbezogene Auszug basiert und den der Autor im Originalbeitrag verantwortet hat: https://medium.com/unceurope/energy-transformation-nuclear-and-fossil-phase-out-policies-in-eu-and-us-be5c02e2d566</ref>, in der die Europäische Union im Augenblick größere Ziele angehen will. Der Hauptunterschied zwischen den Herangehensweisen in der Atompolitik in der EU und den USA besteht darin, dass die Europäische Union große Uneinigkeit in Hinblick auf die Zukunft der Atomtechnologie aufweist, während in den Vereinigten Staaten für diese Industrie weit mehr möglich ist, da Atomausstiegspolitiken wie in einigen EU-Staaten fehlen. Dementsprechend werden Stilllegungen von Reaktoren in den USA normalerweise durch deren Unwirtschaftlichkeit verursacht, manchmal in Verbindung mit den Auswirkungen von Protesten. In der EU sind die Atompolitiken der Mitgliedsstaaten ziemlich entgegengesetzt, aber so lange keine massive staatliche Subventionierung der Atomenergie bereitgestellt wird, wird ihre Verwendung insgesamt - gleichfalls aus wirtschaftlichen Gründen - zurückgehen. Dieser Prozess wird in einigen Ländern abgekürzt durch explizite Ausstiegspolitiken.<br />
<br />
<br />
<br />
=== Literatur ===<br />
* .ausgestrahlt (2019): „Atomkraft auf der Kippe“. .ausgestrahlt-Magazin. Hamburg S. 1–24.<br />
* Congress (2021): „H.R.4024 - Zero-Emission Nuclear Power Production Credit Act of 2021“. congress.gov. U.S. Congress.<br />
* EIA (2021): „Consumption and production“. Energy Information Administration. U.S. Energy Information Administration Abgerufen am 26.11.2021 von https://www.eia.gov/energyexplained/us-energy-facts/.<br />
* eurostat (2021a): „Energy Statistics - an overview“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 26.11.2021 von https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Energy_statistics_-_an_overview#Final_energy_consumption.<br />
* eurostat (2021b): „Nuclear energy statistics“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 25.11.2021 von http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Nuclear_energy_statistics.<br />
* Neubauer, Lundquist (2008): „Erster EPR in Frankreich wird um ein Fünftel teurer als geplant“. Verivox Abgerufen am 25.11.2021 von https://www.verivox.de/strom/nachrichten/erster-epr-in-frankreich-wird-um-ein-fuenftel-teurer-als-geplant-38450/.<br />
* Pistner, Christoph; Englert, Matthias (2021): Nuclear Power and the „do no significant harm“ criteria of the EU Taxonomy. ( Nr. 4/2021) (Oeko-Institut Working Paper).<br />
* Schneider, Mycle; Froggatt, Antony; Hazemann, Julie; u. a. (2021): The World Nuclear Industry Status Report 2021. Paris.<br />
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<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atom(ausstiegs)politiken_in_EU_und_USA&diff=218332022-01:Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA2022-10-14T18:32:11Z<p>WikiSysop: </p>
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<div>== Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA ==<br />
'''fb''' Zum Stichtag 1. Juli 2021 stellte die Europäische Union mit 106 in Betrieb befindlichen Reaktoren die weltgrößte Flotte installierter Atomkraftwerksleistung bereit, nur knapp gefolgt von den USA mit 93 Reaktoren. Auf der Ebene der Staaten standen die USA auf Rangplatz 1, gefolgt von Frankreich mit 56 Reaktoren und China mit 53 Reaktoren. Der Anteil von Atomenergie am Strommix machte in den USA 19,7%, in der EU 24,8% aus. 2020 wurde in der Europäischen Union von Regenerativen Energien (ohne Berücksichtigung der Wasserkraft) zum ersten Mal mehr Elektrizität erzeugt als durch Kernspaltung. Atomkraft ist offenbar sowohl in der EU als auch in den USA eine bedeutende Energiequelle (Schneider et al. 2021: 302, 354, 394).<br />
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Den entscheidenden Anteil am Primärenergieverbrauch (also nicht nur Strom) bilden jedoch in beiden Regionen fossile Energieträger. Diese dominieren den Bruttoinlandsenergieverbrauch mit 69,3% in der EU (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2019), während sie in den USA (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2020) sogar 79% ausmachten (EIA 2021; eurostat 2021a).<br />
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=== Status und Perspektiven der Atomkraftnutzung ===<br />
In der Europäischen Union ist die Atomkraft hochgradig umstritten: 13 Mitgliedsstaaten betreiben Atomkraftwerke (AKW), von denen vier einen Atomausstieg beschlossen haben (Belgien, BRD, Spanien, Schweden); 14 Mitgliedsstaaten besitzen keine in Betrieb befindlichen Atomreaktoren, von denen einer (Polen) derzeit versucht ein umfangreiches Atomprogramm umzusetzen (.ausgestrahlt 2019: 24; eurostat 2021b). Drei Reaktoren wurden 2020 stillgelegt (Fessenheim-1+2, Ringhals-1), während sich vier solche im Bau befanden (Olkiluoto-3, Flamanville-3, Mochovce-3+4) – allerdings mit massiven Verspätungen von einem Jahrzehnt und länger sowie mit Kostenexplosionen bis zum 6fachen der ursprünglichen Kalkulationen (Neubauer 2008; Schneider et al. 2021: 75, 77–80, 84, 93, 355). Viele EU-Staaten werden letztlich das Kapitel der Atomstromproduktion aufgrund der zunehmenden Überalterung der Reaktorflotte (durchschnittlich 35,9 Jahre in der EU) und der wirtschaftlichen Unrentabilität neuer Atomkraftwerke in den nächsten Jahrzehnten schließen (Schneider u. a. 2021: 354 ff.).<br />
<br />
Schwer einzuschätzen sind für diese Einschätzung, die auf der Situation vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine basiert, die Auswirkungen der aktuellen Energiekrise. Diese hat zwar verdeutlicht, wie katastrophal auch in Hinsicht auf die Energieversorgungssicherheit der immer noch hohe Anteil fossiler Energieträger bei der Stromerzeugung ist, allerdings auch Kurzschlussreaktionen und aggressiven pro- nuklearen Lobbyismus verursacht. Derzeit diskutieren verschiedene europäische Regierungen über Laufzeitverlängerungen für von Stilllegungen betroffene alte AKW (BRD), die Aufgabe des Atomausstiegs oder den Neubau von Reaktoren (Belgien<ref name="jungeWelt_Belgien">https://www.jungewelt.de/artikel/435405.nuklearenergie-aus-f%C3%BCr-schrottmeiler.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref>, Bulgarien<ref name="Euraktiv_Bulgarien">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/bulgarien-will-den-bau-eines-neuen-atomreaktors-vorantreiben/ -gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Frankreich<ref name="FrankreichAtomkraft">https://de.investing.com/analysis/frankreich-vereinfacht-bau-von-atomkraftwerken-200476765 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_Frankreich">https://www.euractiv.de/section/energie/news/atomkraft-renaissance-in-frankreich-wirkt-gesetzt-aber-edf-wankt/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Niederlande<ref name="Euraktiv_Niederlande">https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/erstes-kraftwerk-seit-50-jahren-niederlande-kehren-zum-atomstrom-zurueck/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Tschechien<ref name="TschechienSMR">https://www.meinbezirk.at/gmuend/c-lokales/tschechien-baut-neues-mini-atomkraftwerk-in-grenznaehe_a5621755 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Blackout_Temelin">https://blackout-news.de/aktuelles/erstes-europaeisches-mini-akw-wird-in-suedboehmen-gebaut/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_SMR">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/osteuropaeische-laender-wollen-modulare-atomreaktoren-aus-den-usa/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>). Dabei ist die Abhängigkeit von russischen Energiequellen auch in der europäischen Atomindustrie groß (Russland ist der größte Uranexporteur in die EU und mindestens 18 Reaktoren in fünf Mitgliedsstaaten sind auf dessen Brennelemente angewiesen<ref name="AtommuellreportRussland">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/die-bedeutung-der-russischen-atomindustrie-fuer-europa.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Russland">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/10/russische-atom-diplomatie-gef%C3%A4hrdet-sicherheit-europas/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>) und der Neubau von Atomanlagen ist weiterhin mit großen zeitlichen (Bauzeitüberziehungen) und finanziellen (Preissteigerungen) Problemen konfrontiert und daher unter rationalen Gesichtspunkten keine Option. Infolge der Invasion in der Ukraine ist im Mai nun auch das russische AKW-Neubauprojekt Hanhikivi im Norden Finnlands gescheitert<ref name="Euractiv_Hanhikivi">https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/finnisches-unternehmen-kuendigt-rosatom-vertrag-ueber-kernkraftwerkslieferung/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, für das bereits Naturschutzgebiete verwüstet worden waren<ref name="grbl_Pyhaejoki">https://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2016-01:Mit_Taser_und_Tr%C3%A4nengas_f%C3%BCr_das_finnisch-russische_AKW - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>. Nur Atombombenstaaten haben aufgrund militärischer Interessen eine klare Motivation die Atomindustrie weiter mit Milliardenbeträgen zu subventionieren<ref name="Atommuellreport_Taxonomie">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/eu-taxonomie-finanzspritze-fuer-die-desastroese-atompolitik-frankreichs.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Auch der Weiterbetrieb alter AKW ist kaum eine Hilfe in der Energiekrise: In der BRD kann Atomstrom nur einen winzigen Anteil der einzusparenden Gaskraftwerkskapazitäten ersetzen (ein wesentlicher Teil deren Produktion ist Heizwärme, die von den AKW nicht verfügbar ist) und könnte auch kaum zur Kostensenkung bei der Stromerzeugung beitragen. Absurderweise wird nunmehr für den deutschen AKW-Betrieb mit der französischen Atomstrommisere argumentiert, weil das hochgradig von AKW abhängige Land in diesem Jahr zeitweise mehr als die Hälfte seiner Anlagen wegen verschiedenster Probleme nicht nutzen und fast jeden Tag auf Stromimporte aus der BRD in der Größenordnung der Kapazitäten vierer Großkraftwerke angewiesen war<ref name="Atommuellreport_Taxonomie" /><ref name="AtommuellreportLauftzeitverlaengerung">https://atommuellreport.de/themen/detail/laufzeitverlaengerung-sinnlos-gefaehrlich-und-teuer.html - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="FranzoesischeEnergiekrise">https://web.de/magazine/politik/auswirkungen-franzoesische-energiekrise-deutschland-37340700 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Die Auseinandersetzungen um die Zukunft der der Atomkraftnutzung in Europa spiegelten sich in den letzten Jahren in den Kämpfen um die Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie wider. Verschiedene EU- und nationale Organisationen ebenso wie Expert*innengruppen veröffentlichten Analysen zu diesem Vorhaben. Die meisten kamen zu dem Schluss, dass es keinesfalls zulässig wäre, Atomkraft als nachhaltige Energiequelle zu behandeln. Trotzdem behauptete das ''Joint Research Centre'', das an mehreren Atomprojekten beteiligt ist, Atomkraft sei nicht schädlicher als andere bereits als nachhaltig eingestufte Energieträger. Viele Länder übten Druck auf die Europäische Kommission sowohl für als auch gegen die Aufnahme der Atomenergie in die EU-Taxonomie aus (Pistner/Englert 2021; Schneider et al. 2021: 38–41). Nach mehrfachen Verzögerungen verkündete die Kommission im Februar 2022, Atomkraft solle zukünftig als nachhaltige Energiequelle gelten. Im Juli stimmte auch das EU-Parlament knapp der Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie zu. Inzwischen haben mehrere EU-Staaten und Organisationen Klagen vor dem EU-Gerichtshof dagegen eingereicht <ref name"NAU_Taxonomie">https://www.nau.ch/ort/basel/klage-gegen-grunes-eu-label-fur-atomenergie-eingereicht-66291417 - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Taxonomie">https://www.ausgestrahlt.de/themen/europa-und-atom/eu-taxonomie/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_YelloDeal">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/01/05/eu-taxonomie-analysiert-yellow-deal-statt-klimaschutz/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="dont-nuke-taxonomy">https://dont-nuke-the-taxonomy.eu/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref><ref name="Stern_Taxonomie">https://www.stern.de/news/oesterreich-klagt-wegen-einstufung-von-atomkraft-als-nachhaltig-vor-eugh-32794520.html - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Krone_Taxonomie">https://www.kronehit.at/news/gruenes-label-fuer-atomkraft-2/ - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Tagesschau_Klagen">https://www.tagesschau.de/ausland/oesterreich-klage-taxonomie-atomkraft-101.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref><ref name="Oekonews_Greenpeace">https://www.oekonews.at/?mdoc_id=1175330 - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="heise_Klagen">https://www.heise.de/tp/features/Umweltschuetzer-planen-Gemeinschaftsklage-gegen-EU-Taxonomie-7269696.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Auch in den Vereinigten Staaten konnte ein Rückgang der Nutzung der Atomenergie in den vergangenen Jahren festgestellt werden. 2021 wurden zwei Reaktoren stillgelegt, einer in Iowa (Duane Arnold-1) und ein weiterer im Bundesstaat New York (Indian Point-2). Fast alle Atomreaktoren in den USA haben inzwischen ein Alter zwischen 31-40 Jahren (46 Reaktoren) oder 41-50 Jahren (41 Reaktoren) erreicht, während lediglich einer jünger als 10 Jahre ist. Die übliche erlaubte Betriebszeit eines Atomkraftwerks liegt bei Inbetriebnahme in den USA bei 40 Jahren. Diese wurde bereits um 20 Jahre für 85 der derzeit betriebenen Anlagen verlängert. Eine NRC<ref>NRC: Nuclear Regulatory Commission; eine für die Atomsicherheit zuständige US-Bundesbehörde</ref>-Richtlinie aus dem Jahr 2017 ermöglicht eine weitere Laufzeitverlängerung um zusätzliche 20 Jahre, so dass Reaktoren bis zu 80 Jahre in Betrieb bleiben könnten. 6 Anlagen erhielten eine entsprechende Genehmigung bereits (Schneider et al. 2021: 147, 149–150).<br />
<br />
Die Biden-Regierung will die Treibhausgasemissionen der USA durch die Unterstützung der Atomkraft reduzieren, insbesondere mithilfe des ''Zero-emission Nuclear Power Production Credit Act'', der dem Kongress im Juni 2021 vorgelegt wurde. Dies könnte zu einer Steuergutschrift in Höhe von 15 Dollar/MWh führen, die helfen könnten, abgewrackte Atomkraftwerke vor der Stilllegung zu bewahren (WNISR 2021: 148). Zwei Reaktoren befinden sich in den Vereinigten Staaten immer noch im Bau und leiden unter mehr als vervierfachten Herstellungskosten: die Reaktoren 3 und 4 des AKW Vogtle im Bundesstaat Georgia (WNISR 2021: 147, 155 f.). Zusammengefasst befindet sich die US-amerikanische Atomenergienutzung also in einem Prozess der Schrumpfung, weil Reaktoren stillgelegt werden mussten, andererseits versucht die Biden-Regierung diesen zu stoppen, indem sie neue Maßnahmen und finanzielle Unterstützung bereitstellt (Congress 2021; Schneider et al. 2021: 147–148, 155–161).<br />
<br />
=== Fazit ===<br />
Es können eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den Energiepolitiken der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika festgestellt werden: Beide wollen ihre Energiesysteme transformieren, um Treibhausgase in Richtung null zu reduzieren. Beide sind gegenwärtig stark von fossilen Energieträgern abhängig und beide betreiben die gewaltigsten atomaren Reaktorflotten der Welt, erfahren aber eine kontinuierliche Schrumpfung der Atomindustrie. Unterschiede können einerseits hinsichtlich der Konkretheit und Ambitionen in der Klimapolitik gesehen werden<ref>Siehe dazu den Originalartikel, auf dem dieser atomkraftbezogene Auszug basiert und den der Autor im Originalbeitrag verantwortet hat: https://medium.com/unceurope/energy-transformation-nuclear-and-fossil-phase-out-policies-in-eu-and-us-be5c02e2d566</ref>, in der die Europäische Union im Augenblick größere Ziele angehen will. Der Hauptunterschied zwischen den Herangehensweisen in der Atompolitik in der EU und den USA besteht darin, dass die Europäische Union große Uneinigkeit in Hinblick auf die Zukunft der Atomtechnologie aufweist, während in den Vereinigten Staaten für diese Industrie weit mehr möglich ist, da Atomausstiegspolitiken wie in einigen EU-Staaten fehlen. Dementsprechend werden Stilllegungen von Reaktoren in den USA normalerweise durch deren Unwirtschaftlichkeit verursacht, manchmal in Verbindung mit den Auswirkungen von Protesten. In der EU sind die Atompolitiken der Mitgliedsstaaten ziemlich entgegengesetzt, aber so lange keine massive staatliche Subventionierung der Atomenergie bereitgestellt wird, wird ihre Verwendung insgesamt - gleichfalls aus wirtschaftlichen Gründen - zurückgehen. Dieser Prozess wird in einigen Ländern abgekürzt durch explizite Ausstiegspolitiken.<br />
<br />
<br />
<br />
=== Literatur ===<br />
* .ausgestrahlt (2019): „Atomkraft auf der Kippe“. .ausgestrahlt-Magazin. Hamburg S. 1–24.<br />
* Congress (2021): „H.R.4024 - Zero-Emission Nuclear Power Production Credit Act of 2021“. congress.gov. U.S. Congress.<br />
* EIA (2021): „Consumption and production“. Energy Information Administration. U.S. Energy Information Administration Abgerufen am 26.11.2021 von https://www.eia.gov/energyexplained/us-energy-facts/.<br />
* eurostat (2021a): „Energy Statistics - an overview“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 26.11.2021 von https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Energy_statistics_-_an_overview#Final_energy_consumption.<br />
* eurostat (2021b): „Nuclear energy statistics“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 25.11.2021 von http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Nuclear_energy_statistics.<br />
* Neubauer, Lundquist (2008): „Erster EPR in Frankreich wird um ein Fünftel teurer als geplant“. Verivox Abgerufen am 25.11.2021 von https://www.verivox.de/strom/nachrichten/erster-epr-in-frankreich-wird-um-ein-fuenftel-teurer-als-geplant-38450/.<br />
* Pistner, Christoph; Englert, Matthias (2021): Nuclear Power and the „do no significant harm“ criteria of the EU Taxonomy. ( Nr. 4/2021) (Oeko-Institut Working Paper).<br />
* Schneider, Mycle; Froggatt, Antony; Hazemann, Julie; u. a. (2021): The World Nuclear Industry Status Report 2021. Paris.<br />
<br />
<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atom(ausstiegs)politiken_in_EU_und_USA&diff=218322022-01:Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA2022-10-14T18:26:58Z<p>WikiSysop: </p>
<hr />
<div>== Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA ==<br />
'''fb''' Zum Stichtag 1. Juli 2021 stellte die Europäische Union mit 106 in Betrieb befindlichen Reaktoren die weltgrößte Flotte installierter Atomkraftwerksleistung bereit, nur knapp gefolgt von den USA mit 93 Reaktoren. Auf der Ebene der Staaten standen die USA auf Rangplatz 1, gefolgt von Frankreich mit 56 Reaktoren und China mit 53 Reaktoren. Der Anteil von Atomenergie am Strommix machte in den USA 19,7%, in der EU 24,8% aus. 2020 wurde in der Europäischen Union von Regenerativen Energien (ohne Berücksichtigung der Wasserkraft) zum ersten Mal mehr Elektrizität erzeugt als durch Kernspaltung. Atomkraft ist offenbar sowohl in der EU als auch in den USA eine bedeutende Energiequelle (Schneider et al. 2021: 302, 354, 394).<br />
<br />
Den entscheidenden Anteil am Primärenergieverbrauch (also nicht nur Strom) bilden jedoch in beiden Regionen fossile Energieträger. Diese dominieren den Bruttoinlandsenergieverbrauch mit 69,3% in der EU (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2019), während sie in den USA (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2020) sogar 79% ausmachten (EIA 2021; eurostat 2021a).<br />
<br />
=== Status und Perspektiven der Atomkraftnutzung ===<br />
In der Europäischen Union ist die Atomkraft hochgradig umstritten: 13 Mitgliedsstaaten betreiben Atomkraftwerke (AKW), von denen vier einen Atomausstieg beschlossen haben (Belgien, BRD, Spanien, Schweden); 14 Mitgliedsstaaten besitzen keine in Betrieb befindlichen Atomreaktoren, von denen einer (Polen) derzeit versucht ein umfangreiches Atomprogramm umzusetzen (.ausgestrahlt 2019: 24; eurostat 2021b). Drei Reaktoren wurden 2020 stillgelegt (Fessenheim-1+2, Ringhals-1), während sich vier solche im Bau befanden (Olkiluoto-3, Flamanville-3, Mochovce-3+4) – allerdings mit massiven Verspätungen von einem Jahrzehnt und länger sowie mit Kostenexplosionen bis zum 6fachen der ursprünglichen Kalkulationen (Neubauer 2008; Schneider et al. 2021: 75, 77–80, 84, 93, 355). Viele EU-Staaten werden letztlich das Kapitel der Atomstromproduktion aufgrund der zunehmenden Überalterung der Reaktorflotte (durchschnittlich 35,9 Jahre in der EU) und der wirtschaftlichen Unrentabilität neuer Atomkraftwerke in den nächsten Jahrzehnten schließen (Schneider u. a. 2021: 354 ff.).<br />
<br />
Schwer einzuschätzen sind für diese Einschätzung, die auf der Situation vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine basiert, die Auswirkungen der aktuellen Energiekrise. Diese hat zwar verdeutlicht, wie katastrophal auch in Hinsicht auf die Energieversorgungssicherheit der immer noch hohe Anteil fossiler Energieträger bei der Stromerzeugung ist, allerdings auch Kurzschlussreaktionen und aktiven pro- nuklearen Lobbyismus verursacht. Derzeit diskutieren verschiedene europäische Regierungen über Laufzeitverlängerungen für von Stilllegungen betroffene alte AKW (BRD), die Aufgabe des Atomausstiegs oder den Neubau von Reaktoren (Belgien<ref name="jungeWelt_Belgien">https://www.jungewelt.de/artikel/435405.nuklearenergie-aus-f%C3%BCr-schrottmeiler.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref>, Bulgarien<ref name="Euraktiv_Bulgarien">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/bulgarien-will-den-bau-eines-neuen-atomreaktors-vorantreiben/ -gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Frankreich<ref name="FrankreichAtomkraft">https://de.investing.com/analysis/frankreich-vereinfacht-bau-von-atomkraftwerken-200476765 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_Frankreich">https://www.euractiv.de/section/energie/news/atomkraft-renaissance-in-frankreich-wirkt-gesetzt-aber-edf-wankt/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Niederlande<ref name="Euraktiv_Niederlande">https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/erstes-kraftwerk-seit-50-jahren-niederlande-kehren-zum-atomstrom-zurueck/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Tschechien<ref name="TschechienSMR">https://www.meinbezirk.at/gmuend/c-lokales/tschechien-baut-neues-mini-atomkraftwerk-in-grenznaehe_a5621755 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Blackout_Temelin">https://blackout-news.de/aktuelles/erstes-europaeisches-mini-akw-wird-in-suedboehmen-gebaut/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_SMR">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/osteuropaeische-laender-wollen-modulare-atomreaktoren-aus-den-usa/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>). Dabei ist die Abhängigkeit von russischen Energiequellen auch in der europäischen Atomindustrie groß (Russland ist der größte Uranexporteur in die EU und mindestens 18 Reaktoren in fünf Mitgliedsstaaten sind auf dessen Brennelemente angewiesen<ref name="AtommuellreportRussland">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/die-bedeutung-der-russischen-atomindustrie-fuer-europa.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Russland">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/10/russische-atom-diplomatie-gef%C3%A4hrdet-sicherheit-europas/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>) und der Neubau von Atomanlagen ist weiterhin mit großen zeitlichen (Bauzeitüberziehungen) und finanziellen (Preissteigerungen) Problemen konfrontiert und daher unter rationalen Gesichtspunkten keine Option. Infolge der Invasion in der Ukraine ist im Mai nun auch das russische AKW-Neubauprojekt Hanhikivi im Norden Finnlands gescheitert<ref name="Euractiv_Hanhikivi">https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/finnisches-unternehmen-kuendigt-rosatom-vertrag-ueber-kernkraftwerkslieferung/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, für das bereits Naturschutzgebiete verwüstet worden waren<ref name="grbl_Pyhaejoki">https://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2016-01:Mit_Taser_und_Tr%C3%A4nengas_f%C3%BCr_das_finnisch-russische_AKW - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>. Nur Atombombenstaaten haben aufgrund militärischer Interessen eine klare Motivation die Atomindustrie weiter mit Milliardenbeträgen zu subventionieren<ref name="Atommuellreport_Taxonomie">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/eu-taxonomie-finanzspritze-fuer-die-desastroese-atompolitik-frankreichs.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Auch der Weiterbetrieb alter AKW ist kaum eine Hilfe in der Energiekrise: In der BRD kann Atomstrom nur einen winzigen Anteil der einzusparenden Gaskraftwerkskapazitäten ersetzen (ein wesentlicher Teil deren Produktion ist Heizwärme, die von den AKW nicht verfügbar ist) und könnte auch kaum zur Kostensenkung bei der Stromerzeugung beitragen. Absurderweise wird nunmehr für den deutschen AKW-Betrieb mit der französischen Atomstrommisere argumentiert, weil das hochgradig von AKW abhängige Land in diesem Jahr zeitweise mehr als die Hälfte seiner Anlagen wegen verschiedenster Probleme nicht nutzen und fast jeden Tag auf Stromimporte aus der BRD in der Größenordnung der Kapazitäten vierer Großkraftwerke angewiesen war<ref name="Atommuellreport_Taxonomie" /><ref name="AtommuellreportLauftzeitverlaengerung">https://atommuellreport.de/themen/detail/laufzeitverlaengerung-sinnlos-gefaehrlich-und-teuer.html - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="FranzoesischeEnergiekrise">https://web.de/magazine/politik/auswirkungen-franzoesische-energiekrise-deutschland-37340700 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Die Auseinandersetzungen um die Zukunft der der Atomkraftnutzung in Europa spiegelten sich in den letzten Jahren in den Kämpfen um die Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie wider. Verschiedene EU- und nationale Organisationen ebenso wie Expert*innengruppen veröffentlichten Analysen zu diesem Vorhaben. Die meisten kamen zu dem Schluss, dass es keinesfalls zulässig wäre, Atomkraft als nachhaltige Energiequelle zu behandeln. Trotzdem behauptete das ''Joint Research Centre'', das an mehreren Atomprojekten beteiligt ist, Atomkraft sei nicht schädlicher als andere bereits als nachhaltig eingestufte Energieträger. Viele Länder übten Druck auf die Europäische Kommission sowohl für als auch gegen die Aufnahme der Atomenergie in die EU-Taxonomie aus (Pistner/Englert 2021; Schneider et al. 2021: 38–41). Nach mehrfachen Verzögerungen verkündete die Kommission im Februar 2022, Atomkraft solle zukünftig als nachhaltige Energiequelle gelten. Im Juli stimmte auch das EU-Parlament knapp der Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie zu. Inzwischen haben mehrere EU-Staaten und Organisationen Klagen vor dem EU-Gerichtshof dagegen eingereicht <ref name"NAU_Taxonomie">https://www.nau.ch/ort/basel/klage-gegen-grunes-eu-label-fur-atomenergie-eingereicht-66291417 - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Taxonomie">https://www.ausgestrahlt.de/themen/europa-und-atom/eu-taxonomie/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_YelloDeal">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/01/05/eu-taxonomie-analysiert-yellow-deal-statt-klimaschutz/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="dont-nuke-taxonomy">https://dont-nuke-the-taxonomy.eu/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref><ref name="Stern_Taxonomie">https://www.stern.de/news/oesterreich-klagt-wegen-einstufung-von-atomkraft-als-nachhaltig-vor-eugh-32794520.html - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Krone_Taxonomie">https://www.kronehit.at/news/gruenes-label-fuer-atomkraft-2/ - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Tagesschau_Klagen">https://www.tagesschau.de/ausland/oesterreich-klage-taxonomie-atomkraft-101.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref><ref name="Oekonews_Greenpeace">https://www.oekonews.at/?mdoc_id=1175330 - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="heise_Klagen">https://www.heise.de/tp/features/Umweltschuetzer-planen-Gemeinschaftsklage-gegen-EU-Taxonomie-7269696.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
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Auch in den Vereinigten Staaten konnte ein Rückgang der Nutzung der Atomenergie in den vergangenen Jahren festgestellt werden. 2021 wurden zwei Reaktoren stillgelegt, einer in Iowa (Duane Arnold-1) und ein weiterer im Bundesstaat New York (Indian Point-2). Fast alle Atomreaktoren in den USA haben inzwischen ein Alter zwischen 31-40 Jahren (46 Reaktoren) oder 41-50 Jahren (41 Reaktoren) erreicht, während lediglich einer jünger als 10 Jahre ist. Die übliche erlaubte Betriebszeit eines Atomkraftwerks liegt bei Inbetriebnahme in den USA bei 40 Jahren. Diese wurde bereits um 20 Jahre für 85 der derzeit betriebenen Anlagen verlängert. Eine NRC<ref>NRC: Nuclear Regulatory Commission; eine für die Atomsicherheit zuständige US-Bundesbehörde</ref>-Richtlinie aus dem Jahr 2017 ermöglicht eine weitere Laufzeitverlängerung um zusätzliche 20 Jahre, so dass Reaktoren bis zu 80 Jahre in Betrieb bleiben könnten. 6 Anlagen erhielten eine entsprechende Genehmigung bereits (Schneider et al. 2021: 147, 149–150).<br />
<br />
Die Biden-Regierung will die Treibhausgasemissionen der USA durch die Unterstützung der Atomkraft reduzieren, insbesondere mithilfe des ''Zero-emission Nuclear Power Production Credit Act'', der dem Kongress im Juni 2021 vorgelegt wurde. Dies könnte zu einer Steuergutschrift in Höhe von 15 Dollar/MWh führen, die helfen könnten, abgewrackte Atomkraftwerke vor der Stilllegung zu bewahren (WNISR 2021: 148). Zwei Reaktoren befinden sich in den Vereinigten Staaten immer noch im Bau und leiden unter mehr als vervierfachten Herstellungskosten: die Reaktoren 3 und 4 des AKW Vogtle im Bundesstaat Georgia (WNISR 2021: 147, 155 f.). Zusammengefasst befindet sich die US-amerikanische Atomenergienutzung also in einem Prozess der Schrumpfung, weil Reaktoren stillgelegt werden mussten, andererseits versucht die Biden-Regierung diesen zu stoppen, indem sie neue Maßnahmen und finanzielle Unterstützung bereitstellt (Congress 2021; Schneider et al. 2021: 147–148, 155–161).<br />
<br />
=== Fazit ===<br />
Es können eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den Energiepolitiken der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika festgestellt werden: Beide wollen ihre Energiesysteme transformieren, um Treibhausgase in Richtung null zu reduzieren. Beide sind gegenwärtig stark von fossilen Energieträgern abhängig und beide betreiben die gewaltigsten atomaren Reaktorflotten der Welt, erfahren aber eine kontinuierliche Schrumpfung der Atomindustrie. Unterschiede können einerseits hinsichtlich der Konkretheit und Ambitionen in der Klimapolitik gesehen werden<ref>Siehe dazu den Originalartikel, auf dem dieser atomkraftbezogene Auszug basiert und den der Autor im Originalbeitrag verantwortet hat: https://medium.com/unceurope/energy-transformation-nuclear-and-fossil-phase-out-policies-in-eu-and-us-be5c02e2d566</ref>, in der die Europäische Union im Augenblick größere Ziele angehen will. Der Hauptunterschied zwischen den Herangehensweisen in der Atompolitik in der EU und den USA besteht darin, dass die Europäische Union große Uneinigkeit in Hinblick auf die Zukunft der Atomtechnologie aufweist, während in den Vereinigten Staaten für diese Industrie weit mehr möglich ist, da Atomausstiegspolitiken wie in einigen EU-Staaten fehlen. Dementsprechend werden Stilllegungen von Reaktoren in den USA normalerweise durch deren Unwirtschaftlichkeit verursacht, manchmal in Verbindung mit den Auswirkungen von Protesten. In der EU sind die Atompolitiken der Mitgliedsstaaten ziemlich entgegengesetzt, aber so lange keine massive staatliche Subventionierung der Atomenergie bereitgestellt wird, wird ihre Verwendung insgesamt - gleichfalls aus wirtschaftlichen Gründen - zurückgehen. Dieser Prozess wird in einigen Ländern abgekürzt durch explizite Ausstiegspolitiken.<br />
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=== Literatur ===<br />
* .ausgestrahlt (2019): „Atomkraft auf der Kippe“. .ausgestrahlt-Magazin. Hamburg S. 1–24.<br />
* Congress (2021): „H.R.4024 - Zero-Emission Nuclear Power Production Credit Act of 2021“. congress.gov. U.S. Congress.<br />
* EIA (2021): „Consumption and production“. Energy Information Administration. U.S. Energy Information Administration Abgerufen am 26.11.2021 von https://www.eia.gov/energyexplained/us-energy-facts/.<br />
* eurostat (2021a): „Energy Statistics - an overview“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 26.11.2021 von https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Energy_statistics_-_an_overview#Final_energy_consumption.<br />
* eurostat (2021b): „Nuclear energy statistics“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 25.11.2021 von http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Nuclear_energy_statistics.<br />
* Neubauer, Lundquist (2008): „Erster EPR in Frankreich wird um ein Fünftel teurer als geplant“. Verivox Abgerufen am 25.11.2021 von https://www.verivox.de/strom/nachrichten/erster-epr-in-frankreich-wird-um-ein-fuenftel-teurer-als-geplant-38450/.<br />
* Pistner, Christoph; Englert, Matthias (2021): Nuclear Power and the „do no significant harm“ criteria of the EU Taxonomy. ( Nr. 4/2021) (Oeko-Institut Working Paper).<br />
* Schneider, Mycle; Froggatt, Antony; Hazemann, Julie; u. a. (2021): The World Nuclear Industry Status Report 2021. Paris.<br />
<br />
<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atom(ausstiegs)politiken_in_EU_und_USA&diff=218312022-01:Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA2022-10-14T17:55:43Z<p>WikiSysop: </p>
<hr />
<div>== Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA ==<br />
'''fb''' Zum Stichtag 1. Juli 2021 stellte die Europäische Union mit 106 in Betrieb befindlichen Reaktoren die weltgrößte Flotte installierter Atomkraftwerksleistung bereit, nur knapp gefolgt von den USA mit 93 Reaktoren. Auf der Ebene der Staaten stehen die USA auf Rangplatz 1, gefolgt von Frankreich mit 56 Reaktoren und China mit 53 Reaktoren. Der Anteil von Atomenergie am Strommix machte in den USA 19,7%, in der EU 24,8% aus. 2020 wurde in der Europäischen Union von Regenerativen Energien (ohne Berücksichtigung der Wasserkraft) zum ersten Mal mehr Elektrizität erzeugt als durch Kernspaltung. Atomkraft ist offenbar sowohl in der EU als auch in den USA eine bedeutende Energiequelle (Schneider et al. 2021: 302, 354, 394).<br />
<br />
Den entscheidenden Anteil am Primärenergieverbrauch (also nicht nur Strom) bilden jedoch in beiden Regionen fossile Energieträger. Diese dominieren den Bruttoinlandsenergieverbrauch mit 69,3% in der EU (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2019), während sie in den USA (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2020) sogar 79% ausmachten (EIA 2021; eurostat 2021a).<br />
<br />
=== Status und Perspektiven der Atomkraftnutzung ===<br />
In der Europäischen Union ist die Atomkraft hochgradig umstritten: 13 Mitgliedsstaaten betreiben Atomkraftwerke (AKW), von denen vier einen Atomausstieg beschlossen haben (Belgien, BRD, Spanien, Schweden); 14 Mitgliedsstaaten besitzen keine in Betrieb befindlichen Atomreaktoren, von denen einer (Polen) derzeit versucht ein umfangreiches Atomprogramm umzusetzen (.ausgestrahlt 2019: 24; eurostat 2021b). Drei Reaktoren wurden 2020 stillgelegt (Fessenheim-1+2, Ringhals-1), während sich vier solche im Bau befanden (Olkiluoto-3, Flamanville-3, Mochovce-3+4) – allerdings mit massiven Verspätungen von einem Jahrzehnt und länger sowie mit Kostenexplosionen bis zum 6fachen der ursprünglichen Kalkulationen (Neubauer 2008; Schneider et al. 2021: 75, 77–80, 84, 93, 355). Viele EU-Staaten werden letztlich das Kapitel der Atomstromproduktion aufgrund der zunehmenden Überalterung der Reaktorflotte (durchschnittlich 35,9 Jahre in der EU) und der wirtschaftlichen Unrentabilität neuer Atomkraftwerke in den nächsten Jahrzehnten schließen (Schneider u. a. 2021: 354 ff.).<br />
<br />
Schwer einzuschätzen sind für diese Einschätzung, die auf der Situation vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine basiert, die Auswirkungen der aktuellen Energiekrise. Diese hat zwar verdeutlicht, wie katastrophal auch in Hinsicht auf die Energieversorgungssicherheit der immer noch hohe Anteil fossiler Energieträger bei der Stromerzeugung ist, allerdings auch Kurzschlussreaktionen und aktiven pro- nuklearen Lobbyismus verursacht. Derzeit diskutieren verschiedene europäische Regierungen über Laufzeitverlängerungen für von Stilllegungen betroffene alte AKW (BRD), die Aufgabe des Atomausstiegs oder den Neubau von Reaktoren (Belgien<ref name="jungeWelt_Belgien">https://www.jungewelt.de/artikel/435405.nuklearenergie-aus-f%C3%BCr-schrottmeiler.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref>, Bulgarien<ref name="Euraktiv_Bulgarien">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/bulgarien-will-den-bau-eines-neuen-atomreaktors-vorantreiben/ -gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Frankreich<ref name="FrankreichAtomkraft">https://de.investing.com/analysis/frankreich-vereinfacht-bau-von-atomkraftwerken-200476765 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_Frankreich">https://www.euractiv.de/section/energie/news/atomkraft-renaissance-in-frankreich-wirkt-gesetzt-aber-edf-wankt/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Niederlande<ref name="Euraktiv_Niederlande">https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/erstes-kraftwerk-seit-50-jahren-niederlande-kehren-zum-atomstrom-zurueck/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Tschechien<ref name="TschechienSMR">https://www.meinbezirk.at/gmuend/c-lokales/tschechien-baut-neues-mini-atomkraftwerk-in-grenznaehe_a5621755 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Blackout_Temelin">https://blackout-news.de/aktuelles/erstes-europaeisches-mini-akw-wird-in-suedboehmen-gebaut/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_SMR">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/osteuropaeische-laender-wollen-modulare-atomreaktoren-aus-den-usa/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>). Dabei ist die Abhängigkeit von russischen Energiequellen auch in der europäischen Atomindustrie groß (Russland ist der größte Uranexporteur in die EU und mindestens 18 Reaktoren in fünf Mitgliedsstaaten sind auf dessen Brennelemente angewiesen<ref name="AtommuellreportRussland">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/die-bedeutung-der-russischen-atomindustrie-fuer-europa.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Russland">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/10/russische-atom-diplomatie-gef%C3%A4hrdet-sicherheit-europas/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>) und der Neubau von Atomanlagen ist weiterhin mit großen zeitlichen (Bauzeitüberziehungen) und finanziellen (Preissteigerungen) Problemen konfrontiert und daher unter rationalen Gesichtspunkten keine Option. Infolge der Invasion in der Ukraine ist im Mai nun auch das russische AKW-Neubauprojekt Hanhikivi im Norden Finnlands gescheitert<ref name="Euractiv_Hanhikivi">https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/finnisches-unternehmen-kuendigt-rosatom-vertrag-ueber-kernkraftwerkslieferung/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, für das bereits Naturschutzgebiete verwüstet worden waren<ref name="grbl_Pyhaejoki">https://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2016-01:Mit_Taser_und_Tr%C3%A4nengas_f%C3%BCr_das_finnisch-russische_AKW - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>. Nur Atombombenstaaten haben aufgrund militärischer Interessen eine klare Motivation die Atomindustrie weiter mit Milliardenbeträgen zu subventionieren<ref name="Atommuellreport_Taxonomie">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/eu-taxonomie-finanzspritze-fuer-die-desastroese-atompolitik-frankreichs.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Auch der Weiterbetrieb alter AKW ist kaum eine Hilfe in der Energiekrise: In der BRD kann Atomstrom nur einen winzigen Anteil der einzusparenden Gaskraftwerkskapazitäten ersetzen (ein wesentlicher Teil deren Produktion ist Heizwärme, die von den AKW nicht verfügbar ist) und könnte auch kaum zur Kostensenkung bei der Stromerzeugung beitragen. Absurderweise wird nunmehr für den deutschen AKW-Betrieb mit der französischen Atomstrommisere argumentiert, weil das hochgradig von AKW abhängige Land in diesem Jahr zeitweise mehr als die Hälfte seiner Anlagen wegen verschiedenster Probleme nicht nutzen und fast jeden Tag auf Stromimporte aus der BRD in der Größenordnung der Kapazitäten vierer Großkraftwerke angewiesen war<ref name="Atommuellreport_Taxonomie" /><ref name="AtommuellreportLauftzeitverlaengerung">https://atommuellreport.de/themen/detail/laufzeitverlaengerung-sinnlos-gefaehrlich-und-teuer.html - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="FranzoesischeEnergiekrise">https://web.de/magazine/politik/auswirkungen-franzoesische-energiekrise-deutschland-37340700 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Die Auseinandersetzungen um die Zukunft der der Atomkraftnutzung in Europa spiegelten sich in den letzten Jahren in den Kämpfen um die Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie wider. Verschiedene EU- und nationale Organisationen ebenso wie Expert*innengruppen veröffentlichten Analysen zu diesem Vorhaben. Die meisten kamen zu dem Schluss, dass es keinesfalls zulässig wäre, Atomkraft als nachhaltige Energiequelle zu behandeln. Trotzdem behauptete das ''Joint Research Centre'', das an mehreren Atomprojekten beteiligt ist, Atomkraft sei nicht schädlicher als andere bereits als nachhaltig eingestufte Energieträger. Viele Länder übten Druck auf die Europäische Kommission sowohl für als auch gegen die Aufnahme der Atomenergie in die EU-Taxonomie aus (Pistner/Englert 2021; Schneider et al. 2021: 38–41). Nach mehrfachen Verzögerungen verkündete die Kommission im Februar 2022, Atomkraft solle zukünftig als nachhaltige Energiequelle gelten. Im Juli stimmte auch das EU-Parlament knapp der Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie zu. Inzwischen haben mehrere EU-Staaten und Organisationen Klagen vor dem EU-Gerichtshof dagegen eingereicht <ref name"NAU_Taxonomie">https://www.nau.ch/ort/basel/klage-gegen-grunes-eu-label-fur-atomenergie-eingereicht-66291417 - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Taxonomie">https://www.ausgestrahlt.de/themen/europa-und-atom/eu-taxonomie/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_YelloDeal">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/01/05/eu-taxonomie-analysiert-yellow-deal-statt-klimaschutz/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="dont-nuke-taxonomy">https://dont-nuke-the-taxonomy.eu/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref><ref name="Stern_Taxonomie">https://www.stern.de/news/oesterreich-klagt-wegen-einstufung-von-atomkraft-als-nachhaltig-vor-eugh-32794520.html - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Krone_Taxonomie">https://www.kronehit.at/news/gruenes-label-fuer-atomkraft-2/ - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Tagesschau_Klagen">https://www.tagesschau.de/ausland/oesterreich-klage-taxonomie-atomkraft-101.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref><ref name="Oekonews_Greenpeace">https://www.oekonews.at/?mdoc_id=1175330 - gesichtet 14. Oktober 2022</ref><ref name="heise_Klagen">https://www.heise.de/tp/features/Umweltschuetzer-planen-Gemeinschaftsklage-gegen-EU-Taxonomie-7269696.html - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Auch in den Vereinigten Staaten konnte ein Rückgang der Nutzung der Atomenergie in den vergangenen Jahren festgestellt werden. 2021 wurden zwei Reaktoren stillgelegt, einer in Iowa (Duane Arnold-1) und ein weiterer im Bundesstaat New York (Indian Point-2). Fast alle Atomreaktoren in den USA haben inzwischen ein Alter zwischen 31-40 Jahren (46 Reaktoren) oder 41-50 Jahren (41 Reaktoren) erreicht, während lediglich einer jünger als 10 Jahre ist. Die übliche erlaubte Betriebszeit eines Atomkraftwerks liegt bei Inbetriebnahme in den USA bei 40 Jahren. Diese wurde bereits um 20 Jahre für 85 der derzeit betriebenen Anlagen verlängert. Eine NRC<ref>NRC: Nuclear Regulatory Commission; eine für die Atomsicherheit zuständige US-Bundesbehörde</ref>-Richtlinie aus dem Jahr 2017 ermöglicht eine weitere Laufzeitverlängerung um zusätzliche 20 Jahre, so dass Reaktoren bis zu 80 Jahre in Betrieb bleiben könnten. 6 Anlagen erhielten eine entsprechende Genehmigung bereits (Schneider et al. 2021: 147, 149–150).<br />
<br />
Die Biden-Regierung will die Treibhausgasemissionen der USA durch die Unterstützung der Atomkraft reduzieren, insbesondere mithilfe des ''Zero-emission Nuclear Power Production Credit Act'', der dem Kongress im Juni 2021 vorgelegt wurde. Dies könnte zu einer Steuergutschrift in Höhe von 15 Dollar/MWh führen, die helfen könnten, abgewrackte Atomkraftwerke vor der Stilllegung zu bewahren (WNISR 2021: 148). Zwei Reaktoren befinden sich in den Vereinigten Staaten immer noch im Bau und leiden unter mehr als vervierfachten Herstellungskosten: die Reaktoren 3 und 4 des AKW Vogtle im Bundesstaat Georgia (WNISR 2021: 147, 155 f.). Zusammengefasst befindet sich die US-amerikanische Atomenergienutzung also in einem Prozess der Schrumpfung, weil Reaktoren stillgelegt werden mussten, andererseits versucht die Biden-Regierung diesen zu stoppen, indem sie neue Maßnahmen und finanzielle Unterstützung bereitstellt (Congress 2021; Schneider et al. 2021: 147–148, 155–161).<br />
<br />
=== Fazit ===<br />
Es können eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den Energiepolitiken der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika festgestellt werden: Beide wollen ihre Energiesysteme transformieren, um Treibhausgase in Richtung null zu reduzieren. Beide sind gegenwärtig stark von fossilen Energieträgern abhängig und beide betreiben die gewaltigsten atomaren Reaktorflotten der Welt, erfahren aber eine kontinuierliche Schrumpfung der Atomindustrie. Unterschiede können einerseits hinsichtlich der Konkretheit und Ambitionen in der Klimapolitik gesehen werden<ref>Siehe dazu den Originalartikel, auf dem dieser atomkraftbezogene Auszug basiert und den der Autor im Originalbeitrag verantwortet hat: https://medium.com/unceurope/energy-transformation-nuclear-and-fossil-phase-out-policies-in-eu-and-us-be5c02e2d566</ref>, in der die Europäische Union im Augenblick größere Ziele angehen will. Der Hauptunterschied zwischen den Herangehensweisen in der Atompolitik in der EU und den USA besteht darin, dass die Europäische Union große Uneinigkeit in Hinblick auf die Zukunft der Atomtechnologie aufweist, während in den Vereinigten Staaten für diese Industrie weit mehr möglich ist, da Atomausstiegspolitiken wie in einigen EU-Staaten fehlen. Dementsprechend werden Stilllegungen von Reaktoren in den USA normalerweise durch deren Unwirtschaftlichkeit verursacht, manchmal in Verbindung mit den Auswirkungen von Protesten. In der EU sind die Atompolitiken der Mitgliedsstaaten ziemlich entgegengesetzt, aber so lange keine massive staatliche Subventionierung der Atomenergie bereitgestellt wird, wird ihre Verwendung insgesamt - gleichfalls aus wirtschaftlichen Gründen - zurückgehen. Dieser Prozess wird in einigen Ländern abgekürzt durch explizite Ausstiegspolitiken.<br />
<br />
<br />
<br />
=== Literatur ===<br />
* .ausgestrahlt (2019): „Atomkraft auf der Kippe“. .ausgestrahlt-Magazin. Hamburg S. 1–24.<br />
* Congress (2021): „H.R.4024 - Zero-Emission Nuclear Power Production Credit Act of 2021“. congress.gov. U.S. Congress.<br />
* EIA (2021): „Consumption and production“. Energy Information Administration. U.S. Energy Information Administration Abgerufen am 26.11.2021 von https://www.eia.gov/energyexplained/us-energy-facts/.<br />
* eurostat (2021a): „Energy Statistics - an overview“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 26.11.2021 von https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Energy_statistics_-_an_overview#Final_energy_consumption.<br />
* eurostat (2021b): „Nuclear energy statistics“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 25.11.2021 von http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Nuclear_energy_statistics.<br />
* Neubauer, Lundquist (2008): „Erster EPR in Frankreich wird um ein Fünftel teurer als geplant“. Verivox Abgerufen am 25.11.2021 von https://www.verivox.de/strom/nachrichten/erster-epr-in-frankreich-wird-um-ein-fuenftel-teurer-als-geplant-38450/.<br />
* Pistner, Christoph; Englert, Matthias (2021): Nuclear Power and the „do no significant harm“ criteria of the EU Taxonomy. ( Nr. 4/2021) (Oeko-Institut Working Paper).<br />
* Schneider, Mycle; Froggatt, Antony; Hazemann, Julie; u. a. (2021): The World Nuclear Industry Status Report 2021. Paris.<br />
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<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atom(ausstiegs)politiken_in_EU_und_USA&diff=218302022-01:Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA2022-10-14T17:46:02Z<p>WikiSysop: </p>
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<div>== Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA ==<br />
'''fb''' Zum Stichtag 1. Juli 2021 stellte die Europäische Union mit 106 in Betrieb befindlichen Reaktoren die weltgrößte Flotte installierter Atomkraftwerksleistung bereit, nur knapp gefolgt von den USA mit 93 Reaktoren. Auf der Ebene der Staaten stehen die USA auf Rangplatz 1, gefolgt von Frankreich mit 56 Reaktoren und China mit 53 Reaktoren. Der Anteil von Atomenergie am Strommix machte in den USA 19,7%, in der EU 24,8% aus. 2020 wurde in der Europäischen Union von Regenerativen Energien (ohne Berücksichtigung der Wasserkraft) zum ersten Mal mehr Elektrizität erzeugt als durch Kernspaltung. Atomkraft ist offenbar sowohl in der EU als auch in den USA eine bedeutende Energiequelle (Schneider et al. 2021: 302, 354, 394).<br />
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Den entscheidenden Anteil am Primärenergieverbrauch (also nicht nur Strom) bilden jedoch in beiden Regionen fossile Energieträger. Diese dominieren den Bruttoinlandsenergieverbrauch mit 69,3% in der EU (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2019), während sie in den USA (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2020) sogar 79% ausmachten (EIA 2021; eurostat 2021a).<br />
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=== Status und Perspektiven der Atomkraftnutzung ===<br />
In der Europäischen Union ist die Atomkraft hochgradig umstritten: 13 Mitgliedsstaaten betreiben Atomkraftwerke (AKW), von denen vier einen Atomausstieg beschlossen haben (Belgien, BRD, Spanien, Schweden); 14 Mitgliedsstaaten besitzen keine in Betrieb befindlichen Atomreaktoren, von denen einer (Polen) derzeit versucht ein umfangreiches Atomprogramm umzusetzen (.ausgestrahlt 2019: 24; eurostat 2021b). Drei Reaktoren wurden 2020 stillgelegt (Fessenheim-1+2, Ringhals-1), während sich vier solche im Bau befanden (Olkiluoto-3, Flamanville-3, Mochovce-3+4) – allerdings mit massiven Verspätungen von einem Jahrzehnt und länger sowie mit Kostenexplosionen bis zum 6fachen der ursprünglichen Kalkulationen (Neubauer 2008; Schneider et al. 2021: 75, 77–80, 84, 93, 355). Viele EU-Staaten werden letztlich das Kapitel der Atomstromproduktion aufgrund der zunehmenden Überalterung der Reaktorflotte (durchschnittlich 35,9 Jahre in der EU) und der wirtschaftlichen Unrentabilität neuer Atomkraftwerke in den nächsten Jahrzehnten schließen (Schneider u. a. 2021: 354 ff.).<br />
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Schwer einzuschätzen sind für diese Einschätzung, die auf der Situation vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine basiert, die Auswirkungen der aktuellen Energiekrise. Diese hat zwar verdeutlicht, wie katastrophal auch in Hinsicht auf die Energieversorgungssicherheit der immer noch hohe Anteil fossiler Energieträger bei der Stromerzeugung ist, allerdings auch Kurzschlussreaktionen und aktiven pro- nuklearen Lobbyismus verursacht. Derzeit diskutieren verschiedene europäische Regierungen über Laufzeitverlängerungen für von Stilllegungen betroffene alte AKW (BRD), die Aufgabe des Atomausstiegs oder den Neubau von Reaktoren (Belgien<ref name="jungeWelt_Belgien">https://www.jungewelt.de/artikel/435405.nuklearenergie-aus-f%C3%BCr-schrottmeiler.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref>, Bulgarien<ref name="Euraktiv_Bulgarien">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/bulgarien-will-den-bau-eines-neuen-atomreaktors-vorantreiben/ -gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Frankreich<ref name="FrankreichAtomkraft">https://de.investing.com/analysis/frankreich-vereinfacht-bau-von-atomkraftwerken-200476765 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_Frankreich">https://www.euractiv.de/section/energie/news/atomkraft-renaissance-in-frankreich-wirkt-gesetzt-aber-edf-wankt/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Niederlande<ref name="Euraktiv_Niederlande">https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/erstes-kraftwerk-seit-50-jahren-niederlande-kehren-zum-atomstrom-zurueck/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Tschechien<ref name="TschechienSMR">https://www.meinbezirk.at/gmuend/c-lokales/tschechien-baut-neues-mini-atomkraftwerk-in-grenznaehe_a5621755 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Blackout_Temelin">https://blackout-news.de/aktuelles/erstes-europaeisches-mini-akw-wird-in-suedboehmen-gebaut/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_SMR">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/osteuropaeische-laender-wollen-modulare-atomreaktoren-aus-den-usa/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>). Dabei ist die Abhängigkeit von russischen Energiequellen auch in der europäischen Atomindustrie groß (Russland ist der größte Uranexporteur in die EU und mindestens 18 Reaktoren in fünf Mitgliedsstaaten sind auf dessen Brennelemente angewiesen<ref name="AtommuellreportRussland">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/die-bedeutung-der-russischen-atomindustrie-fuer-europa.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Russland">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/10/russische-atom-diplomatie-gef%C3%A4hrdet-sicherheit-europas/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>) und der Neubau von Atomanlagen ist weiterhin mit großen zeitlichen (Bauzeitüberziehungen) und finanziellen (Preissteigerungen) Problemen konfrontiert und daher unter rationalen Gesichtspunkten keine Option. Infolge der Invasion in der Ukraine ist im Mai nun auch das russische AKW-Neubauprojekt Hanhikivi im Norden Finnlands gescheitert<ref name="Euractiv_Hanhikivi">https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/finnisches-unternehmen-kuendigt-rosatom-vertrag-ueber-kernkraftwerkslieferung/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, für das bereits Naturschutzgebiete verwüstet worden waren<ref name="grbl_Pyhaejoki">https://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2016-01:Mit_Taser_und_Tr%C3%A4nengas_f%C3%BCr_das_finnisch-russische_AKW - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>. Nur Atombombenstaaten haben aufgrund militärischer Interessen eine klare Motivation die Atomindustrie weiter mit Milliardenbeträgen zu subventionieren<ref name="Atommuellreport_Taxonomie">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/eu-taxonomie-finanzspritze-fuer-die-desastroese-atompolitik-frankreichs.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Auch der Weiterbetrieb alter AKW ist kaum eine Hilfe in der Energiekrise: In der BRD kann Atomstrom nur einen winzigen Anteil der einzusparenden Gaskraftwerkskapazitäten ersetzen (ein wesentlicher Teil deren Produktion ist Heizwärme, die von den AKW nicht verfügbar ist) und könnte auch kaum zur Kostensenkung bei der Stromerzeugung beitragen. Absurderweise wird nunmehr für den deutschen AKW-Betrieb mit der französischen Atomstrommisere argumentiert, weil das hochgradig von AKW abhängige Land in diesem Jahr zeitweise mehr als die Hälfte seiner Anlagen wegen verschiedenster Probleme nicht nutzen und fast jeden Tag auf Stromimporte aus der BRD in der Größenordnung der Kapazitäten vierer Großkraftwerke angewiesen war<ref name="Atommuellreport_Taxonomie" /><ref name="AtommuellreportLauftzeitverlaengerung">https://atommuellreport.de/themen/detail/laufzeitverlaengerung-sinnlos-gefaehrlich-und-teuer.html - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="FranzoesischeEnergiekrise">https://web.de/magazine/politik/auswirkungen-franzoesische-energiekrise-deutschland-37340700 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref>.<br />
<br />
Die Auseinandersetzungen um die Zukunft der der Atomkraftnutzung in Europa spiegelten sich in den letzten Jahren in den Kämpfen um die Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie wider. Verschiedene EU- und nationale Organisationen ebenso wie Expert*innengruppen veröffentlichten Analysen zu diesem Vorhaben. Die meisten kamen zu dem Schluss, dass es keinesfalls zulässig wäre, Atomkraft als nachhaltige Energiequelle zu behandeln. Trotzdem behauptete das ''Joint Research Centre'', das an mehreren Atomprojekten beteiligt ist, Atomkraft sei nicht schädlicher als andere bereits als nachhaltig eingestufte Energieträger. Viele Länder übten Druck auf die Europäische Kommission sowohl für als auch gegen die Aufnahme der Atomenergie in die EU-Taxonomie aus (Pistner/Englert 2021; Schneider et al. 2021: 38–41). Nach mehrfachen Verzögerungen verkündete die Kommission im Februar 2022, Atomkraft solle zukünftig als nachhaltige Energiequelle gelten. Im Juli stimmte auch das EU-Parlament knapp der Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie zu. Inzwischen haben mehrere EU-Staaten und Organisationen Klagen vor dem EU-Gerichtshof dagegen eingereicht <ref name"NAU_Taxonomie">https://www.nau.ch/ort/basel/klage-gegen-grunes-eu-label-fur-atomenergie-eingereicht-66291417 - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Taxonomie">https://www.ausgestrahlt.de/themen/europa-und-atom/eu-taxonomie/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_YelloDeal">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/01/05/eu-taxonomie-analysiert-yellow-deal-statt-klimaschutz/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="dont-nuke-taxonomy">https://dont-nuke-the-taxonomy.eu/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref><ref name="Stern_Taxonomie">https://www.stern.de/news/oesterreich-klagt-wegen-einstufung-von-atomkraft-als-nachhaltig-vor-eugh-32794520.html - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Krone_Taxonomie">https://www.kronehit.at/news/gruenes-label-fuer-atomkraft-2/ - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Tagesschau_Klagen">https://www.tagesschau.de/ausland/oesterreich-klage-taxonomie-atomkraft-101.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref><ref name="Oekonews_Greenpeace">https://www.oekonews.at/?mdoc_id=1175330 - gesichtet 14. Oktober 2022</ref>.<br />
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Auch in den Vereinigten Staaten konnte ein Rückgang der Nutzung der Atomenergie in den vergangenen Jahren festgestellt werden. 2021 wurden zwei Reaktoren stillgelegt, einer in Iowa (Duane Arnold-1) und ein weiterer im Bundesstaat New York (Indian Point-2). Fast alle Atomreaktoren in den USA haben inzwischen ein Alter zwischen 31-40 Jahren (46 Reaktoren) oder 41-50 Jahren (41 Reaktoren) erreicht, während lediglich einer jünger als 10 Jahre ist. Die übliche erlaubte Betriebszeit eines Atomkraftwerks liegt bei Inbetriebnahme in den USA bei 40 Jahren. Diese wurde bereits um 20 Jahre für 85 der derzeit betriebenen Anlagen verlängert. Eine NRC<ref>NRC: Nuclear Regulatory Commission; eine für die Atomsicherheit zuständige US-Bundesbehörde</ref>-Richtlinie aus dem Jahr 2017 ermöglicht eine weitere Laufzeitverlängerung um zusätzliche 20 Jahre, so dass Reaktoren bis zu 80 Jahre in Betrieb bleiben könnten. 6 Anlagen erhielten eine entsprechende Genehmigung bereits (Schneider et al. 2021: 147, 149–150).<br />
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Die Biden-Regierung will die Treibhausgasemissionen der USA durch die Unterstützung der Atomkraft reduzieren, insbesondere mithilfe des ''Zero-emission Nuclear Power Production Credit Act'', der dem Kongress im Juni 2021 vorgelegt wurde. Dies könnte zu einer Steuergutschrift in Höhe von 15 Dollar/MWh führen, die helfen könnten, abgewrackte Atomkraftwerke vor der Stilllegung zu bewahren (WNISR 2021: 148). Zwei Reaktoren befinden sich in den Vereinigten Staaten immer noch im Bau und leiden unter mehr als vervierfachten Herstellungskosten: die Reaktoren 3 und 4 des AKW Vogtle im Bundesstaat Georgia (WNISR 2021: 147, 155 f.). Zusammengefasst befindet sich die US-amerikanische Atomenergienutzung also in einem Prozess der Schrumpfung, weil Reaktoren stillgelegt werden mussten, andererseits versucht die Biden-Regierung diesen zu stoppen, indem sie neue Maßnahmen und finanzielle Unterstützung bereitstellt (Congress 2021; Schneider et al. 2021: 147–148, 155–161).<br />
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=== Fazit ===<br />
Es können eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den Energiepolitiken der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika festgestellt werden: Beide wollen ihre Energiesysteme transformieren, um Treibhausgase in Richtung null zu reduzieren. Beide sind gegenwärtig stark von fossilen Energieträgern abhängig und beide betreiben die gewaltigsten atomaren Reaktorflotten der Welt, erfahren aber eine kontinuierliche Schrumpfung der Atomindustrie. Unterschiede können einerseits hinsichtlich der Konkretheit und Ambitionen in der Klimapolitik gesehen werden<ref>Siehe dazu den Originalartikel, auf dem dieser atomkraftbezogene Auszug basiert und den der Autor im Originalbeitrag verantwortet hat: https://medium.com/unceurope/energy-transformation-nuclear-and-fossil-phase-out-policies-in-eu-and-us-be5c02e2d566</ref>, in der die Europäische Union im Augenblick größere Ziele angehen will. Der Hauptunterschied zwischen den Herangehensweisen in der Atompolitik in der EU und den USA besteht darin, dass die Europäische Union große Uneinigkeit in Hinblick auf die Zukunft der Atomtechnologie aufweist, während in den Vereinigten Staaten für diese Industrie weit mehr möglich ist, da Atomausstiegspolitiken wie in einigen EU-Staaten fehlen. Dementsprechend werden Stilllegungen von Reaktoren in den USA normalerweise durch deren Unwirtschaftlichkeit verursacht, manchmal in Verbindung mit den Auswirkungen von Protesten. In der EU sind die Atompolitiken der Mitgliedsstaaten ziemlich entgegengesetzt, aber so lange keine massive staatliche Subventionierung der Atomenergie bereitgestellt wird, wird ihre Verwendung insgesamt - gleichfalls aus wirtschaftlichen Gründen - zurückgehen. Dieser Prozess wird in einigen Ländern abgekürzt durch explizite Ausstiegspolitiken.<br />
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=== Literatur ===<br />
* .ausgestrahlt (2019): „Atomkraft auf der Kippe“. .ausgestrahlt-Magazin. Hamburg S. 1–24.<br />
* Congress (2021): „H.R.4024 - Zero-Emission Nuclear Power Production Credit Act of 2021“. congress.gov. U.S. Congress.<br />
* EIA (2021): „Consumption and production“. Energy Information Administration. U.S. Energy Information Administration Abgerufen am 26.11.2021 von https://www.eia.gov/energyexplained/us-energy-facts/.<br />
* eurostat (2021a): „Energy Statistics - an overview“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 26.11.2021 von https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Energy_statistics_-_an_overview#Final_energy_consumption.<br />
* eurostat (2021b): „Nuclear energy statistics“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 25.11.2021 von http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Nuclear_energy_statistics.<br />
* Neubauer, Lundquist (2008): „Erster EPR in Frankreich wird um ein Fünftel teurer als geplant“. Verivox Abgerufen am 25.11.2021 von https://www.verivox.de/strom/nachrichten/erster-epr-in-frankreich-wird-um-ein-fuenftel-teurer-als-geplant-38450/.<br />
* Pistner, Christoph; Englert, Matthias (2021): Nuclear Power and the „do no significant harm“ criteria of the EU Taxonomy. ( Nr. 4/2021) (Oeko-Institut Working Paper).<br />
* Schneider, Mycle; Froggatt, Antony; Hazemann, Julie; u. a. (2021): The World Nuclear Industry Status Report 2021. Paris.<br />
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<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Laufzeitverl%C3%A4ngerung_-_sinnlos,_gef%C3%A4hrlich_und_teuer&diff=218292022-01:Laufzeitverlängerung - sinnlos, gefährlich und teuer2022-10-12T14:10:51Z<p>WikiSysop: </p>
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<div>== Laufzeitverlängerung - sinnlos, gefährlich und teuer ==<br />
Am 27.09.2022 erklärte Wirtschaftsminister Habeck (Grüne), dass er einen Weiterbetrieb der beiden AKW Ohu 2 (Isar 2) und Neckarwestheim 2 über den 31.12.2022 hinaus "Stand heute" für nötig halte.<ref name="eins">tagesschau.de: Habeck hält AKW-Weiterbetrieb für nötig, 27.09.2022</ref> Gleichzeitig veröffentlichte er seine Vereinbarungen mit den beiden AKW-Betreibern für den Weiterbetrieb.<ref name="zwei">Eckpunkte BMWK - E.ON - EnBW, 27.09.2022</ref> Ob dies das letzte Wort sein wird, ist fraglich. Kurz vor Ende der Atomenergienutzung in Deutschland wittern die Verfechter der Atomkraft Morgenluft angesichts möglicher Energieengpässe durch den Ukrainekrieg und die verhängten Sanktionen gegen Russland.<br />
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Jahrelang wurde versucht, Atomkraft wieder hoffähig zu machen, in dem der Atomstrom als billig und klimafreundlich deklariert wurde - von denselben Akteur*innen, die einen Energiepreisdeckel oder ein Tempolimit ablehnen. Das Umweltbundesamt hat aktuell festgestellt, dass durch ein Tempolimit (Autobahnen Tempo 100 und außerorts Tempo 80) jährlich 2,1 Milliarden Liter fossile Kraftstoffe in Deutschland eingespart werden könnten. Das entspräche 3,8 Prozent des Kraftstoffverbrauchs im Verkehrssektor.<ref name="drei">tagesschau.de: Wieviel Sprit ein Tempolimit spart, 10.04.2022</ref> Die Energieökonomin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schätzt, dass ein Tempolimit fünf bis sieben Prozent der russischen Ölimporte reduzieren könnte.<ref name="drei" /> Nachdem in der aktuellen Debatte auch der Verweis auf die Probleme bei der Gasversorgung nicht so richtig gezogen hat, da Atomkraft die Wärmeversorgung durch das Gas kaum ersetzen kann, ist das aktuelle Argument die Solidarität mit Frankreich bzw. die Netzstabilität, die durch die desolate Atompolitik Frankreichs in Frage stehen würde. Eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke ist für die Energiesicherheit unnötig, hochriskant und senkt die Abhängigkeit von Russland in keiner Weise.<br />
<br />
=== Atomenergie als Antwort auf das Atomenergie-Desaster Frankreichs? ===<br />
Die Stromproduktion in Frankreich liegt aufgrund einer völlig verfehlten, einseitig auf Atomkraft setzenden Energiepolitik ziemlich darnieder. Seit Beginn 2022 wird bis auf wenige Ausnahmen täglich Strom aus Deutschland nach Frankreich in einer Größenordnung von bis zu über 100 Gigawattstunden (GWh) exportiert. Ein konventionelles oder nukleares Großkraftwerk erzeugt ca. 20 bis knapp 30 GWh pro Tag. Die deutschen Atomkraftwerke (und mindestens ein weiteres Kraftwerk) laufen also rechnerisch nur für den Export und stützen so die verfehlte Atomenergiepolitik Frankreichs, die trotz der offensichtlichen Probleme mit den Reaktoren weiterhin auf Atomkraft statt auf Erneuerbare Energie setzt.<br />
<br />
=== Die Rolle der Grünen ===<br />
Befeuert wurde die Debatte um die Laufzeitverlängerung durch Grüne-Politiker*innen. So erklärte beispielsweise die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Katrin Göring-Eckart (Grüne) bereits am 24.7.2022. in einer Talkshow, dass Atomkraft notwendig werden könnte, um die Stromversorgung von Krankenhäusern aufrecht zu erhalten.<ref name="vier">welt.de: Goering-Eckardt offen für AKW-Streckbetrieb - Scholz will zweiten Stresstest abwarten, Stand 25.07.2022</ref> Selbst bei etwaiger Knappheit wird hier in Anbetracht der Kapazitäten Deutschlands ein unrealistisches (Horror-)Szenario aufgemalt, das Ängste schürt, anstatt eine zielorientierte Energiewende-Debatte voranzubringen.<br />
<br />
Ebenfalls im Juli 2022 haben SPD und Grüne der Stadt München im Aufsichtsrat der Stadtwerke München beschlossen, sich für einen Weiterbetrieb des AKW Ohu 2 (Isar 2) einzusetzen. Die Stadtwerke München halten 25% an dem Atomkraftwerk. Die restlichen 75% sind im Besitz der PreussenElektra GmbH, einer 100%igen Tochter des E.ON-Konzerns. Die 2. Bürgermeisterin in München, Katrin Habenschaden (Grüne), verteidigte ihre Entscheidung gegenüber dem Bayerischen Rundfunk: „Die Versorgungssicherheit der Münchnerinnen und Münchner hat da für mich wirklich Vorrang".<ref name="fuenf">br.de: SPD und Grüne in München für längere Laufzeit des AKW Isar-2, 21.07.2022</ref><br />
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Die Grüne Umweltministerin Lemke, die die Atomaufsicht in Deutschland führt und für Reaktorsicherheit zuständig ist, hält sich bedeckt. Der Grüne Wirtschaftsminister führt seine Partei Stück für Stück aus der Ablehnung der Atomenergienutzung heraus, immer mit dem Verweis auf angebliche objektive Sachzwänge. So durften die Entscheidung für einen Reservebetrieb die Übertragungsnetzbetreiber begründen.<br />
<br />
Im Wesentlichen außen vor bleibt dabei das Stromeinsparpotential, das in vielen Bereichen auf der Hand liegt. Auch eine stundenweise Reduzierung stromintensiver Produktion wäre ein Beitrag zur Netzstabilisierung. Während es im Gassektor bereits Vorkehrungen für eine eventuelle Rationierung von Gas gibt, ist dies im Stromsektor nicht der Fall.<br />
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=== Atomkraftwerke als Reserve? ===<br />
Wirtschaftsminister Habeck hat im Juli 2022 die vier Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz, Amprion, Tennet und Transnet BW mit einem sogenannten "Stresstest" beauftragt. Sie sollten erklären, ob und gegebenenfalls wie die Stromnachfrage im Winter gedeckt und die Netzstabilität erhalten werden kann. <br />
<br />
50Hertz betreibt das Stromnetz auf dem Gebiet der ehemaligen DDR und war vorübergehend im Besitz des Atomkonzerns Vattenfall. Derzeitige Anteilseigner von 50Hertz sind die börsennotierte belgische Holding Elia Group (80 Prozent) und die KfW Bankengruppe mit 20 Prozent.<ref name="sechs">50hertz.com: Historie, abgerufen am 15.09.2022</ref> Amprion ist eine Ausgründung von RWE, die heute noch 25,1 Prozent hält. Die andere Anteilseignerin ist mit 74,9 Prozent die M31 Beteiligungsgesellschaft mbH & Co. Energie KG (ein Konsortium von überwiegend deutschen institutionellen Finanzinvestoren aus der Versicherungswirtschaft und von Versorgungswerken. Dazu zählen etwa die MEAG MUNICH ERGO, Swiss Life und Talanx sowie Pensionskassen).<ref name="sieben">Amprion.net: Anteilseigner, abgerufen am 15.09.2022</ref> Tennet ist eine Ausgründung von E.ON. Heutiger Eigentümer der Tennet Holding ist der Niederländische Staat.<ref name="acht">Tennet.eu: Unsere Geschichte, abgerufen am 15.09.2022</ref> Die Transnet BW ist eine Ausgründung von EnBW und immer zu 100 Prozent im Besitz des Energieversorgers EnBW, der auch das AKW Neckarwestheim 2 betreibt.<ref name="neun">EnBW: Jahresabschluss der EnBW AG 2021</ref><br />
<br />
Im Stresstest<ref name="zehn">50 Hertz, Amprion, Tennet, TransnetBW: Abschlussbericht Sonderanalysen Winter 2022/2023, 13.09.2022</ref> wurden nach Vorgaben des Wirtschaftsministeriums verschiedene Szenarien geprüft. Parameter waren die Verfügbarkeit französischer Atomkraftwerke, mögliche Einschränkungen bei der Versorgung deutscher Kraftwerke mit Kohle auf dem Wasserweg wegen dauerhaftem Niedrigwasser, Nicht-Verfügbarkeit von Gaskraftwerken, extreme Kälte und ein deutlich erhöhter Verbrauch durch elektrische Heizlüfter. Ergebnis: Je nach Szenario kann es im Winter stundenweise zu Netzengpässen kommen. Dagegen soll ein Bündel an Maßnahmen helfen. Laut Minister Habeck gehört dazu auch, die beiden AKW Ohu 2/Isar 2 und Neckarwestheim 2 am 31.12.2022 nicht endgültig abzuschalten, sondern in die Reserve zu überführen bzw. weiterzubetreiben. Und das, obwohl die Atomkraftwerke nur einen extrem kleinen Beitrag leisten könnten und selbst in einem sehr kritischen Strombedarfsszenario im Winter den Bedarf an Redispatchkraftwerken im Ausland nur um 0,5 GW senken können und nicht um die Nennleistung der AKW.<ref name="zehn" /><br />
<br />
=== Streckbetrieb ===<br />
Das Zauberwort in dieser Debatte um eine Laufzeitverlängerung heißt „Streckbetrieb“. Bei einem Streckbetrieb, der bereits in anderen AKW im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Laufzeit durchgeführt wurde, nimmt durch eine bewusste Reduktion der Kühlmitteltemperatur die Dichte des Kühlmittels im Reaktor zu. Die Neutronen werden besser abgebremst, wodurch mehr Neutronen für die Spaltung zur Verfügung stehen. Diesen Effekt macht man sich zu Nutze und betreibt den Reaktor über sein natürliches Zyklusende hinaus. Dadurch wird die Neutronen-Moderation verbessert und man kann ein bisschen mehr Energie aus dem Brennstoff rausholen als beim Betrieb mit 100 % Leistung. Die Stromproduktion wird durch Streckbetrieb nicht nur in die Länge gezogen, sondern insgesamt leicht erhöht. Das bringt nicht viel an zusätzlicher Energie. „Ein solcher Betrieb ist für mindestens 80 Tage realisierbar. Da ein Reaktorblock im Streckbetrieb täglich ca. 0,5 % seiner Leistung einbüßt, wäre er nach 80 Tagen noch bei ca. 60 % seiner ausgelegten Leistung.“<ref name="elf">grs.de: Streckbetrieb, abgerufen am 26.07.2022</ref><br />
<br />
Laut dem niedersächsischen Umweltminister Olaf Lies sind die Brennelemente im AKW Lingen 2/Emsland zum Ende des Jahres aufgebraucht.<ref name="zwoelf">Niedersachsen Energieminister Lies warnt: AKW-Laufzeitverlängerung „völlig falsche Weg“, rnd.de, 30.08.2022</ref> Anders sieht die Situation beim bayerischen AKW Ohu 2 (Isar 2) und dem baden-württembergischen AKW Neckarwestheim 2 aus.<br />
<br />
=== AKW Ohu 2 (Isar 2) ===<br />
Die Aussagen über die Situation im AKW Ohu 2 sind höchst widersprüchlich. Im April veröffentlichte der TÜV Süd eine Stellungnahme im Auftrag der bayerischen Landesregierung zur "Bewertung der konkreten erforderlichen technischen Maßnahmen für einen Weiterbetrieb des KKI 2 bzw. eine Wiederinbetriebnahme des Blocks C des KRB II". Er kommt bei Ohu 2 (Isar 2) zu dem Schluss, dass keine Drosselung der Leistung vor dem 31.12. nötig wäre und am Ende des Betriebszyklus Reaktivitätsreserven für einen Weiterbetrieb für ca. 80 Tage bestünden. Durch ein Umsetzen der vorhandenen Brennelemente könne der Reaktor sogar bis in den August 2023 betrieben und zusätzlich bis zu 5.160 GWh Strom erzeugt werden.<ref name="dreizehn">TÜV Süd: Kernkraftwerk Gundremmingen (KRB II) Block C, Kernkraftwerk Isar 2 (KKI 2) Bewertung der konkreten, erforderlichen technischen Maßnahmen für einen Weiterbetrieb des KKI 2 bzw. eine Wiederinbetriebnahme des Blocks C des KRB II, Auftrag vom 07.04.2022</ref><br />
<br />
Am 07.09.2022, nur zwei Tage, nachdem Habeck erklärte, Ohu 2 in die Reserve überführen zu wollen, wandte sich der Chef von PreussenElektra gegen die Pläne des Ministers. Knott erklärte in einem Brandbrief an Minister Habeck, dass in einem Streckbetrieb „ein flexibles Anheben oder Drosseln der Leistung nicht mehr möglich ist“. Minister Habeck fühlte sich missverstanden und stellte klar, dass es nicht um ein beliebiges Zu- und Abschalten der beiden Atomkraftwerke gehe, sondern dass im Dezember bzw. Januar die Lage erneut beurteilt und entschieden werde, ob die AKW in Streckbetrieb gehen sollten und dann für die folgenden Wochen in Betrieb bleiben würden - unabhängig, ob dies für die Versorgung bzw. Netzstabilität tatsächlich nötig sei.<ref name="vierzehn">AKW-Betreiber spricht sich gegen Habeck-Plan aus, Süddeutsche Zeitung, 07.09.2022</ref><br />
<br />
Zwei Wochen später wurde bekannt, dass es eine Leckage an einem Sicherheitsventil in Ohu 2 gibt. Nachdem PreussenElektra noch im August betont hatte, dass es kein Problem wäre, Ohu 2 bis Ende 2022 unter Volllast zu fahren und anschließend in den Streckbetrieb zu überführen, erklärt der Betreiber nun, dass das Ventil für den Streckbetrieb ausgetauscht werden muss und zwar noch im Oktober: "Bis 31. Dezember bereite das keine Probleme, die Anlage könne sicher weiterlaufen. Ganz anders sehe das bei einem möglichen Betrieb bis Mitte April aus - dann sei eine Reparatur fällig, und das rasch, noch im Oktober. Grund: Schon im November hätten die Brennelemente des Reaktorkerns "eine zu geringe Reaktivität, um die Anlage aus dem Stillstand heraus dann wieder hochzufahren"."<ref name="fuenfzehn">Süddeutsche.de: Ein Ventil macht Ärger, 20.02.2022</ref><br />
<br />
In der Vereinbarung zwischen dem Wirtschaftsminister und den Betreibern werden die Reserven nach unten korrigiert. Das leckende Ventil soll im Oktober in einem einwöchigen Stillstand ausgetauscht werden. Der Reaktor wird dann wieder weiterbetrieben. Im Dezember entscheidet der Wirtschaftsminister, ob das AKW Ohu 2 in den Streckbetrieb gehen soll. Falls ja, werde dieser vermutlich bis Anfang März aufrecht erhalten werden können, mit anfangs 95% und am Ende 50% Leistung und ca. 2 TWh Stromproduktion.<ref name="zwei" /><br />
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=== AKW Neckarwestheim 2 ===<br />
Das AWK Neckarwestheim 2 soll zum 31.12.2022 abgeschaltet und anschließend innerhalb von 2-3 Wochen der Reaktorkern rekonfiguriert werden. Im Dezember entscheidet der Wirtschaftsminister, ob das AKW Neckarwestheim 2 in den Streckbetrieb gehen soll. Im Januar wird diese Entscheidung nochmals überprüft. Das AKW Neckarwestheim könnte dann bis zum 15.04.2023 weiterlaufen, mit anfangs 70% und am Ende 55% Leistung und ca. 1,7 TWh Stromproduktion.<ref name="zwei" /><br />
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Neckarwestheim 2 steht seit Jahren in der Kritik wegen der enormen Versprödung sicherheitsrelevanter Bauteile. Bisher wurden mehr als 300 Risse in den Rohren der Dampferzeuger entdeckt. Sie können zum Abriss der Rohre führen und einen schweren Kühlmittelverluststörfall auslösen, der bis zur Kernschmelze führen kann.<ref name="sechzehn">Prof. Dr.-Ing. habil. Manfred Mertins: Bewertung zu Schäden durch Spannungsrisskorrosion an Dampferzeuger-Heizrohren im KKW Neckarwestheim 2 (GKN-II), Juni 2020</ref><br />
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=== Periodische Sicherheitsüberprüfung der AKW seit Jahren überfällig ===<br />
Es gibt gute Gründe gegen den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke, allen voran das Risiko einer Atomkatastrophe in Landshut oder Neckarwestheim. Die Atomkraftwerke weisen erhebliche Alterungsprobleme auf. Die umfassende periodische Sicherheitsüberprüfung, die eigentlich vor drei Jahren hätte stattfinden müssen, wurde den Betreiber erlassen wegen der Beendigung des Betriebes spätestens Ende 2022.<ref name="siebzehn">Oda Becker, Adhipati Y. Indradiningrat: Atomstrom 2018 - sicher, sauber, alles im Griff? Studie im Auftrag des BUND, April 2018</ref><br />
<br />
Bei der periodischen Sicherheitsüberprüfung wird vor allem überprüft, inwieweit sich der Zustand einer Anlage von den aktuellen Sicherheitserkenntnissen und dem Stand von Wissenschaft und Technik entfernt hat und welche Nachrüstungsmaßnahmen notwendig sind. Vor dem Hintergrund, dass die letzten PSÜ vor den Anschlägen auf das World Trade Center stattgefunden haben, wird die Lücke zwischen der Sicherheit in den laufenden Reaktoren und neueren Erkenntnisse deutlich. Auch Maßnahmen gegen einen Terrorangriff außerhalb der Reaktoren wurden nicht umgesetzt. Die Nebeltarnung, die nach dem Anschlag auf das World Trade Center als angeblicher Schutz im Angriffsfall propagiert wurde, ist gar nicht erst errichtet worden.<ref name="siebzehn" /><br />
<br />
Auch das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BaSE) weist auf die fehlende Sicherheitsüberprüfung, die fehlende technische Anpassung an neueste Sicherheitsentwicklungen und den fehlenden Schutz vor einem Angriff auf die Atomkraftwerke hin. Das Risiko katastrophaler Unfälle habe sich noch einmal verschärft.<ref name="achtzehn">base.bund.de: Laufzeitverlängerung deutscher Atomkraftwerke, Stand 26.07.2022</ref><br />
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In der Vereinbarung zwischen Minister und Betreibern wurde festgelegt, dass sich an den aktuellen Sicherheitsanforderungen nichts ändert. Die Pflicht zur PSÜ bleibt ausgesetzt, die Betreiber bleiben in der atomrechtlichen Verantwortung und Haftung.<ref name="zwei" /><br />
<br />
Der Streckbetrieb birgt jedoch ein ganz eigenes Sicherheitsproblem. Denn wenn jedes ungeplante Herunterfahren des Reaktors bedeutet, dass dieser aufgrund des fortgeschrittenen Abbrandes gar nicht mehr in Betrieb gehen kann, ist zu befürchten, dass selbst bei erheblichen Problemen auf jeden Fall ein Abschalten vermieden werden wird.<br />
<br />
Im Gegensatz dazu sieht der TÜV Süd in seiner Stellungnahme für das Bayerische Staatsministerium für Umwelt weder bei einer Laufzeitverlängerung des AKW Ohu 2 noch bei einer Wiederinbetriebnahme des AKW Gundremmingen C irgendwelche Sicherheitsprobleme.<ref name="dreizehn" /> Der TÜV Süd ist seit Jahrzehnten als Gutachter für die AKW-Betreiber unterwegs und hat noch nie Sicherheitsprobleme gesehen. Der gleiche TÜV Süd hatte auch trotz offensichtlicher Sicherheitsbedenken die Stabilität des 85 Meter hohen Damms der Eisenerzmine Córrego do Feijão zertifiziert. Bei dem Dammbruch im Januar 2019 starben mehr als 270 Menschen und das Gebiet wurde mit giftigem Schlamm überflutet.<ref name="neunzehn">tagesschau.de: Verfahren gegen TÜV Süd wird ausgeweitet, 24.01.2022</ref><br />
<br />
=== Wer die Kosten trägt ===<br />
Noch vor wenigen Monaten hatten sich die Betreiber der Atomkraftwerke gegen eine Laufzeitverlängerung ausgesprochen und eine Zustimmung höchstens in Aussicht gestellt, falls der Staat alle Kosten und Risiken übernimmt.<ref name="zwanzig">bmuv.de: Fragen und Antworten zur AKW-Laufzeitverlängerung, Stand 24.06.2022</ref><br />
<br />
In der Vereinbarung zwischen Minister und Betreibern wurde festgelegt, dass davon ausgegangen wird, dass im Falle des Weiterbetriebs der Anlagen die Kosten durch die Erlöse für den Strom gedeckt werden würden. Sollte dies nicht eintreffen, erhalten die Betreiber vom Staat einen "Verlustausgleich".<ref name="zwei" /><br />
<br />
Sollte ein Reaktor nicht weiterbetrieben werden, würden die Kosten für Stillstände, Personal- und Sachkosten, Aufwand für behördliche Verfahren, Erfüllung Meldepflichten, Kosten für Deckungskäufe im Fall von Stillständen vor dem 31.12.2022, Kosten für Verzögerung des Rückbaus beim betreffenden AKW und anderen Atomkraftwerken des Konzerns sowie für die Vorhaltung in Reserve vom Staat übernommen werden.<ref name="zwei" /><br />
<br />
''Ursula Schönberger, Projektleiterin Atommüllreport''<br />
<br />
Erstveröffentlicht im Atommüllreport:<br />
* https://atomuellreport.de/themen/detail/laufzeiterlaengerung-sinnlos-gefaehrlich-und-teuer.html<br />
<br />
<br />
<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Atomkraft]]<br />
[[Kategorie: Politik]]</div>WikiSysophttp://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2022-01:Atom(ausstiegs)politiken_in_EU_und_USA&diff=218282022-01:Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA2022-10-11T19:54:12Z<p>WikiSysop: </p>
<hr />
<div>== Atom(ausstiegs)politiken in EU und USA ==<br />
'''fb''' Zum Stichtag 1. Juli 2021 stellte die Europäische Union mit 106 in Betrieb befindlichen Reaktoren die weltgrößte Flotte installierter Atomkraftwerksleistung bereit, nur knapp gefolgt von den USA mit 93 Reaktoren. Auf der Ebene der Staaten stehen die USA auf Rangplatz 1, gefolgt von Frankreich mit 56 Reaktoren und China mit 53 Reaktoren. Der Anteil von Atomenergie am Strommix machte in den USA 19,7%, in der EU 24,8% aus. 2020 wurde in der Europäischen Union von Regenerativen Energien (ohne Berücksichtigung der Wasserkraft) zum ersten Mal mehr Elektrizität erzeugt als durch Kernspaltung. Atomkraft ist offenbar sowohl in der EU als auch in den USA eine bedeutende Energiequelle (Schneider et al. 2021: 302, 354, 394).<br />
<br />
Den entscheidenden Anteil am Primärenergieverbrauch (also nicht nur Strom) bilden jedoch in beiden Regionen fossile Energieträger. Diese dominieren den Bruttoinlandsenergieverbrauch mit 69,3% in der EU (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2019), während sie in den USA (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2020) sogar 79% ausmachten (EIA 2021; eurostat 2021a).<br />
<br />
=== Status und Perspektiven der Atomkraftnutzung ===<br />
In der Europäischen Union ist die Atomkraft hochgradig umstritten: 13 Mitgliedsstaaten betreiben Atomkraftwerke (AKW), von denen vier einen Atomausstieg beschlossen haben (Belgien, BRD, Spanien, Schweden); 14 Mitgliedsstaaten besitzen keine in Betrieb befindlichen Atomreaktoren, von denen einer (Polen) derzeit versucht ein umfangreiches Atomprogramm umzusetzen (.ausgestrahlt 2019: 24; eurostat 2021b). Drei Reaktoren wurden 2020 stillgelegt (Fessenheim-1+2, Ringhals-1), während sich vier solche im Bau befanden (Olkiluoto-3, Flamanville-3, Mochovce-3+4) – allerdings mit massiven Verspätungen von einem Jahrzehnt und länger sowie mit Kostenexplosionen bis zum 6fachen der ursprünglichen Kalkulationen (Neubauer 2008; Schneider et al. 2021: 75, 77–80, 84, 93, 355). Viele EU-Staaten werden letztlich das Kapitel der Atomstromproduktion aufgrund der zunehmenden Überalterung der Reaktorflotte (durchschnittlich 35,9 Jahre in der EU) und der wirtschaftlichen Unrentabilität neuer Atomkraftwerke in den nächsten Jahrzehnten schließen (Schneider u. a. 2021: 354 ff.).<br />
<br />
Schwer einzuschätzen sind für diese Einschätzung, die auf der Situation vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine basiert, die Auswirkungen der aktuellen Energiekrise. Diese hat zwar verdeutlicht, wie katastrophal auch in Hinsicht auf die Energieversorgungssicherheit der immer noch hohe Anteil fossiler Energieträger bei der Stromerzeugung ist, allerdings auch Kurzschlussreaktionen und aktiven pro- nuklearen Lobbyismus verursacht. Derzeit diskutieren verschiedene europäische Regierungen über Laufzeitverlängerungen für von Stilllegungen betroffene alte AKW (BRD), die Aufgabe des Atomausstiegs oder den Neubau von Reaktoren (Belgien<ref name="jungeWelt_Belgien">https://www.jungewelt.de/artikel/435405.nuklearenergie-aus-f%C3%BCr-schrottmeiler.html - gesichtet 11. Oktober 2022</ref>, Bulgarien<ref name="Euraktiv_Bulgarien">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/bulgarien-will-den-bau-eines-neuen-atomreaktors-vorantreiben/ -gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Frankreich<ref name="FrankreichAtomkraft">https://de.investing.com/analysis/frankreich-vereinfacht-bau-von-atomkraftwerken-200476765 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_Frankreich">https://www.euractiv.de/section/energie/news/atomkraft-renaissance-in-frankreich-wirkt-gesetzt-aber-edf-wankt/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Niederlande<ref name="Euraktiv_Niederlande">https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/news/erstes-kraftwerk-seit-50-jahren-niederlande-kehren-zum-atomstrom-zurueck/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, Tschechien<ref name="TschechienSMR">https://www.meinbezirk.at/gmuend/c-lokales/tschechien-baut-neues-mini-atomkraftwerk-in-grenznaehe_a5621755 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="Blackout_Temelin">https://blackout-news.de/aktuelles/erstes-europaeisches-mini-akw-wird-in-suedboehmen-gebaut/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="Euraktiv_SMR">https://www.euractiv.de/section/europakompakt-2/news/osteuropaeische-laender-wollen-modulare-atomreaktoren-aus-den-usa/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>). Dabei ist die Abhängigkeit von russischen Energiequellen auch in der europäischen Atomindustrie groß (Russland ist der größte Uranexporteur in die EU und mindestens 18 Reaktoren in fünf Mitgliedsstaaten sind auf dessen Brennelemente angewiesen<ref name="AtommuellreportRussland">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/die-bedeutung-der-russischen-atomindustrie-fuer-europa.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Russland">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/03/10/russische-atom-diplomatie-gef%C3%A4hrdet-sicherheit-europas/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>) und der Neubau von Atomanlagen ist weiterhin mit großen zeitlichen (Bauzeitüberziehungen) und finanziellen (Preissteigerungen) Problemen konfrontiert und daher unter rationalen Gesichtspunkten keine Option. Infolge der Invasion in der Ukraine ist im Mai nun auch das russische AKW-Neubauprojekt Hanhikivi im Norden Finnlands gescheitert<ref name="Euractiv_Hanhikivi">https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/finnisches-unternehmen-kuendigt-rosatom-vertrag-ueber-kernkraftwerkslieferung/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>, für das bereits Naturschutzgebiete verwüstet worden waren<ref name="grbl_Pyhaejoki">https://www.gruenes-blatt.de/index.php?title=2016-01:Mit_Taser_und_Tr%C3%A4nengas_f%C3%BCr_das_finnisch-russische_AKW - gesichtet 5. Oktober 2022</ref>. Nur Atombombenstaaten haben aufgrund militärischer Interessen eine klare Motivation die Atomindustrie weiter mit Milliardenbeträgen zu subventionieren<ref name="Atommuellreport_Taxonomie">https://www.atommuellreport.de/themen/detail/eu-taxonomie-finanzspritze-fuer-die-desastroese-atompolitik-frankreichs.html - gesichtet 4. Oktober 2022</ref>. Auch der Weiterbetrieb alter AKW ist kaum eine Hilfe in der Energiekrise: In der BRD kann Atomstrom nur einen winzigen Anteil der einzusparenden Gaskraftwerkskapazitäten ersetzen (ein wesentlicher Teil deren Produktion ist Heizwärme, die von den AKW nicht verfügbar ist) und könnte auch kaum zur Kostensenkung bei der Stromerzeugung beitragen. Absurderweise wird nunmehr für den deutschen AKW-Betrieb mit der französischen Atomstrommisere argumentiert, weil das hochgradig von AKW abhängige Land in diesem Jahr zeitweise mehr als die Hälfte seiner Anlagen wegen verschiedenster Probleme nicht nutzen und fast jeden Tag auf Stromimporte aus der BRD in der Größenordnung der Kapazitäten vierer Großkraftwerke angewiesen war<ref name="Atommuellreport_Taxonomie" /><ref name="AtommuellreportLauftzeitverlaengerung">https://atommuellreport.de/themen/detail/laufzeitverlaengerung-sinnlos-gefaehrlich-und-teuer.html - gesichtet 3. Oktober 2022</ref><ref name="FranzoesischeEnergiekrise">https://web.de/magazine/politik/auswirkungen-franzoesische-energiekrise-deutschland-37340700 - gesichtet 3. Oktober 2022</ref>.<br />
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Die Auseinandersetzungen um die Zukunft der der Atomkraftnutzung in Europa spiegelten sich in den letzten Jahren in den Kämpfen um die Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie wider. Verschiedene EU- und nationale Organisationen ebenso wie Expert*innengruppen veröffentlichten Analysen zu diesem Vorhaben. Die meisten kamen zu dem Schluss, dass es keinesfalls zulässig wäre, Atomkraft als nachhaltige Energiequelle zu behandeln. Trotzdem behauptete das ''Joint Research Centre'', das an mehreren Atomprojekten beteiligt ist, Atomkraft sei nicht schädlicher als andere bereits als nachhaltig eingestufte Energieträger. Viele Länder übten Druck auf die Europäische Kommission sowohl für als auch gegen die Aufnahme der Atomenergie in die EU-Taxonomie aus (Pistner/Englert 2021; Schneider et al. 2021: 38–41). Nach mehrfachen Verzögerungen verkündete die Kommission im Februar 2022, Atomkraft solle zukünftig als nachhaltige Energiequelle gelten. Im Juli stimmte auch das EU-Parlament knapp der Aufnahme der Atomkraft in die EU-Taxonomie zu. Inzwischen haben mehrere EU-Staaten und Organisationen Klagen vor dem EU-Gerichtshof dagegen eingereicht <ref name"NAU_Taxonomie">https://www.nau.ch/ort/basel/klage-gegen-grunes-eu-label-fur-atomenergie-eingereicht-66291417 - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_Taxonomie">https://www.ausgestrahlt.de/themen/europa-und-atom/eu-taxonomie/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="ausgestrahlt_YelloDeal">https://www.ausgestrahlt.de/blog/2022/01/05/eu-taxonomie-analysiert-yellow-deal-statt-klimaschutz/ - gesichtet 4. Oktober 2022</ref><ref name="dont-nuke-taxonomy">https://dont-nuke-the-taxonomy.eu/ - gesichtet 5. Oktober 2022</ref><ref name="Stern_Taxonomie">https://www.stern.de/news/oesterreich-klagt-wegen-einstufung-von-atomkraft-als-nachhaltig-vor-eugh-32794520.html - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Krone_Taxonomie">https://www.kronehit.at/news/gruenes-label-fuer-atomkraft-2/ - gesichtet 8. Oktober 2022</ref><ref name="Tagesschau_Klagen">https://www.tagesschau.de/ausland/oesterreich-klage-taxonomie-atomkraft-101.html - gesichtet 11.10.2022</ref>.<br />
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Auch in den Vereinigten Staaten konnte ein Rückgang der Nutzung der Atomenergie in den vergangenen Jahren festgestellt werden. 2021 wurden zwei Reaktoren stillgelegt, einer in Iowa (Duane Arnold-1) und ein weiterer im Bundesstaat New York (Indian Point-2). Fast alle Atomreaktoren in den USA haben inzwischen ein Alter zwischen 31-40 Jahren (46 Reaktoren) oder 41-50 Jahren (41 Reaktoren) erreicht, während lediglich einer jünger als 10 Jahre ist. Die übliche erlaubte Betriebszeit eines Atomkraftwerks liegt bei Inbetriebnahme in den USA bei 40 Jahren. Diese wurde bereits um 20 Jahre für 85 der derzeit betriebenen Anlagen verlängert. Eine NRC<ref>NRC: Nuclear Regulatory Commission; eine für die Atomsicherheit zuständige US-Bundesbehörde</ref>-Richtlinie aus dem Jahr 2017 ermöglicht eine weitere Laufzeitverlängerung um zusätzliche 20 Jahre, so dass Reaktoren bis zu 80 Jahre in Betrieb bleiben könnten. 6 Anlagen erhielten eine entsprechende Genehmigung bereits (Schneider et al. 2021: 147, 149–150).<br />
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Die Biden-Regierung will die Treibhausgasemissionen der USA durch die Unterstützung der Atomkraft reduzieren, insbesondere mithilfe des ''Zero-emission Nuclear Power Production Credit Act'', der dem Kongress im Juni 2021 vorgelegt wurde. Dies könnte zu einer Steuergutschrift in Höhe von 15 Dollar/MWh führen, die helfen könnten, abgewrackte Atomkraftwerke vor der Stilllegung zu bewahren (WNISR 2021: 148). Zwei Reaktoren befinden sich in den Vereinigten Staaten immer noch im Bau und leiden unter mehr als vervierfachten Herstellungskosten: die Reaktoren 3 und 4 des AKW Vogtle im Bundesstaat Georgia (WNISR 2021: 147, 155 f.). Zusammengefasst befindet sich die US-amerikanische Atomenergienutzung also in einem Prozess der Schrumpfung, weil Reaktoren stillgelegt werden mussten, andererseits versucht die Biden-Regierung diesen zu stoppen, indem sie neue Maßnahmen und finanzielle Unterstützung bereitstellt (Congress 2021; Schneider et al. 2021: 147–148, 155–161).<br />
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=== Fazit ===<br />
Es können eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den Energiepolitiken der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika festgestellt werden: Beide wollen ihre Energiesysteme transformieren, um Treibhausgase in Richtung null zu reduzieren. Beide sind gegenwärtig stark von fossilen Energieträgern abhängig und beide betreiben die gewaltigsten atomaren Reaktorflotten der Welt, erfahren aber eine kontinuierliche Schrumpfung der Atomindustrie. Unterschiede können einerseits hinsichtlich der Konkretheit und Ambitionen in der Klimapolitik gesehen werden<ref>Siehe dazu den Originalartikel, auf dem dieser atomkraftbezogene Auszug basiert und den der Autor im Originalbeitrag verantwortet hat: https://medium.com/unceurope/energy-transformation-nuclear-and-fossil-phase-out-policies-in-eu-and-us-be5c02e2d566</ref>, in der die Europäische Union im Augenblick größere Ziele angehen will. Der Hauptunterschied zwischen den Herangehensweisen in der Atompolitik in der EU und den USA besteht darin, dass die Europäische Union große Uneinigkeit in Hinblick auf die Zukunft der Atomtechnologie aufweist, während in den Vereinigten Staaten für diese Industrie weit mehr möglich ist, da Atomausstiegspolitiken wie in einigen EU-Staaten fehlen. Dementsprechend werden Stilllegungen von Reaktoren in den USA normalerweise durch deren Unwirtschaftlichkeit verursacht, manchmal in Verbindung mit den Auswirkungen von Protesten. In der EU sind die Atompolitiken der Mitgliedsstaaten ziemlich entgegengesetzt, aber so lange keine massive staatliche Subventionierung der Atomenergie bereitgestellt wird, wird ihre Verwendung insgesamt - gleichfalls aus wirtschaftlichen Gründen - zurückgehen. Dieser Prozess wird in einigen Ländern abgekürzt durch explizite Ausstiegspolitiken.<br />
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=== Literatur ===<br />
* .ausgestrahlt (2019): „Atomkraft auf der Kippe“. .ausgestrahlt-Magazin. Hamburg S. 1–24.<br />
* Congress (2021): „H.R.4024 - Zero-Emission Nuclear Power Production Credit Act of 2021“. congress.gov. U.S. Congress.<br />
* EIA (2021): „Consumption and production“. Energy Information Administration. U.S. Energy Information Administration Abgerufen am 26.11.2021 von https://www.eia.gov/energyexplained/us-energy-facts/.<br />
* eurostat (2021a): „Energy Statistics - an overview“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 26.11.2021 von https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Energy_statistics_-_an_overview#Final_energy_consumption.<br />
* eurostat (2021b): „Nuclear energy statistics“. eurostat: Statistics Explained. eurostat Abgerufen am 25.11.2021 von http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Nuclear_energy_statistics.<br />
* Neubauer, Lundquist (2008): „Erster EPR in Frankreich wird um ein Fünftel teurer als geplant“. Verivox Abgerufen am 25.11.2021 von https://www.verivox.de/strom/nachrichten/erster-epr-in-frankreich-wird-um-ein-fuenftel-teurer-als-geplant-38450/.<br />
* Pistner, Christoph; Englert, Matthias (2021): Nuclear Power and the „do no significant harm“ criteria of the EU Taxonomy. ( Nr. 4/2021) (Oeko-Institut Working Paper).<br />
* Schneider, Mycle; Froggatt, Antony; Hazemann, Julie; u. a. (2021): The World Nuclear Industry Status Report 2021. Paris.<br />
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<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Artikel]]<br />
[[Kategorie: Weltweit]]<br />
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<div>'''''Rezension:'''''<br />
== Lehren aus dem Ukrainekonflikt – Krisen vorbeugen, Gewalt verhindern ==<br />
'''fb''' Dieser von Andreas Heinemann-Grüder, Claudia Crawford und Tim B. Peters herausgegebene Tagungsband erschien kurz vor der Invasion der Ukraine durch die russische Armee im Frühjahr 2022. Er trägt Beiträge von Expert*innen verschiedener Felder zusammen und umfasst sowohl militärische als auch politikwissenschaftliche Perspektiven, behandelt die Sondermission der OSZE, diskutiert sowjetische und russische Außenpolitik in Hinblick auf die Drohung mit dem größten Atomwaffenarsenal der Welt sowie die Positionen verschiedener Regierungen in diesem Konflikt. Obwohl das Thema des Buches nicht der aktuelle Krieg ist, sondern die sieben vorausgehenden Jahre einschließlich der Annexion der Krim durch Russland 2014 und der Ausrufung der prorussischen Separatisten-Republiken im Donbass zugrunde liegen, zeichnet es erstaunliche Parallelen insofern, als Erkenntnisse und Positionen, die seit dem 24. Februar 2022 medial oft als „neu“ präsentiert werden, in Fachkreisen schon seit vielen Jahren erörtert werden.<br />
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Auf den Punkt bringt diese Einschätzung die Verwendung des Begriffs der „Zeitenwende“, die heute im allgemeinen – bestätigt durch eine Fachartikelrecherche in politikwissenschaftlichen Datenbanken – Putins seit dem Frühjahr laufende „Militärische Spezialoperation“ meint und insbesondere Bundeskanzler Olaf Scholz zugeordnet wird, der diesen Begriff bei seiner Ansprache vor dem Bundestag kurz nach Kriegsbeginn benutzte. Tatsächlich wurde dieser Terminus aber bereits seit 2014 auf die veränderte russische Politik gegenüber der EU und den USA nach der Rückkehr Putins ins Präsidentenamt und insbesondere im Angesicht der militärischen russischen Interventionen in der Ukraine angewandt.<br />
<br />
Sicherlich sind Stellungnahmen und Einschätzungen in Kriegszeiten besonders kritisch zu beäugen, weil auch um Informationen und die öffentliche Meinung Krieg geführt wird, und nicht nur die direkt kämpfenden Parteien Ukraine und Russland hierbei gewichtige Interessen verfolgen, sondern auch viele andere Staaten und Akteur*innen Deutungshoheit anstreben. Aspekte wie Transparenz, Ehrlichkeit und offene Diskussionskultur sind in einem laufenden Krieg noch schwieriger als ohnehin schon, weil einerseits der direkte Zugang zu Orten und betroffenen Personen komplizierter, teils sogar nicht möglich, ist, andererseits weil unterstellt werden muss, dass Akteur*innen, die das Töten von Menschen als – unter Kriegsbedingungen – alltägliche Normalität und legitim betrachten, auch mit Informationen strategisch umgehen. In diesem Zusammenhang ist der Kontext der Publikation nicht unbedeutend. Die Tagung, von deren Vortragenden einige diesem Buch – aktualisierte – Beiträge beisteuerten, fand im September 2020 in Wien statt und wurde von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung organisiert. Dass diese ihre Veranstaltungen – wie andere Parteistiftungen auch – strategisch ausrichtet und durch eine eigene Agenda motiviert Redner*innen und Beiträge auswählt, kann als sicher angenommen werden. Dies sollte im Hinterkopf behalten werden, auch wenn die Analysen von unabhängigen Expert*innen verantwortet werden. Die Auswahl der behandelten Fakten, die Analyseperspektiven und die Interpretationen können dadurch beeinflusst sein.<br />
<br />
Der Tagungsband ist angesichts des andauernden Blutvergießens in der Ukraine und der grundsätzlichen Infragestellung des in der Konsequenz des Zweiten Weltkriegs entwickelten internationalen Rechts sowie der nach dem Ende des Kalten Krieges entstandenen europäischen Friedenssicherungsinstrumente hochbedeutend und aufschlussreich. Die Eskalation der nun Wirklichkeit gewordenen, im Buch erst noch erörterten, außenpolitischen Aggression des Putinschen Regimes wird zu einem Zeitpunkt erörtert und diskutiert, als viele der Autor*innen noch hofften, dass es nicht dazu kommen würde, unterliegt damit also einem geringeren Risiko der kriegerischen Instrumentalisierung von Information, als dies der Fall ist, wenn der Krieg gerade aktiv geführt wird und die Verfasser*innen aus Staaten kommen, die, wenn derzeit auch nur indirekt, am Kriegsverlauf beteiligt sind. Vorteilhaft in diesem Sinne erscheint auch, dass die damalige Russlandpolitik der CDU-geführten Bundesregierung einen deutlich anderen Kurs hatte und Russland bevorzugt behandelte. Die hier publizierten Einschätzungen entsprechen daher kaum einer Strategie zur Unterstützung der (damaligen) deutschen Regierungspolitik.<br />
<br />
Tatsächlich ist jeder einzelne Beitrag spannend und voller interessanter Informationen und Einschätzungen. Hier im Detail auf alles einzugehen, ist unmöglich. Stattdessen sollen nur beispielhaft einzelne Themenfelder angerissen werden. So wird zu Beginn ein politikwissenschaftlicher Überblick verschiedener Theorierichtungen in den Internationalen Beziehungen geboten, welcher nicht nur die Grundzüge dieser Denkschulen umfasst. Vielmehr werden die theoretischen Perspektiven und Schlussfolgerungen, die sich aus diesen ergeben, anschaulich auf den seit 2014 in der Ukraine laufenden Krieg angewendet. Diese Theorien sind nicht nur Fachkreisen vorbehalten, sondern spiegeln sich in den medialen Analysen und Positionierungen wider, die bekanntermaßen von imperialistischen Ambitionen des Diktators Putin bis zu einer Schuldzuweisung an „den Westen“ für den russischen Angriff auf die Ukraine reichen. Auch wenn solche, oft sich diametral widersprechend scheinenden, politischen Statements in den Medien ideologisch fundiert wirken, basieren einige ihrer Ideen auf den außenpolitischen Theorieschulen der Internationalen Beziehungen. Diese Theorien nehmen in Hinblick auf den Ukrainekonflikt oft verschiedene Perspektiven ein, beleuchten unterschiedliche Aspekte – und müssen sich deshalb nicht immer widersprechen, auch wenn die öffentlich daraus gezogenen Schlussfolgerungen zu entgegengesetzten Beschuldigungen bzw. Stellungnahmen führen. Auf diesen, teils kombinierten, Interpretationen russischer Außenpolitik bauen wiederum geläufige politische Antworten, auch deutscher, Politiker*innen auf, die vereinfacht als „Entspannungspolitik“, „Eindämmung/Abschreckung“ oder „Systemwandel“ bezeichnet werden können. Somit hilft der Tagungsband zu verstehen, auf welchen Annahmen und Sichtweisen gängige politische Forderungen basieren, aber auch zu erkennen, dass sie jeweils nur Antworten auf Teile des komplexen politischen Gesamtbildes sein könnten.<br />
<br />
Einer intensiven Analyse wird die deutsche Russlandpolitik unterworfen. Hierbei geht es um Grundannahmen über die Intentionen und Verhaltensweisen der russischen Regierung, die Argumentation deutscher Positionen und die tatsächlichen Handlungsmuster Russlands in den letzten zehn Jahren. In diesem Zusammenhang wird einerseits die veränderte Rolle der Bundesregierung als aktiver Part bei der europäischen Sanktionspolitik infolge der Krimannexion, andererseits ihr widersprüchliches Auftreten mit konsequenzlosen Megakooperationen wie Nord Stream 2, mit denen Russlands Politik gegen die Ukraine gefördert wird, angesprochen und herausgestellt, wie diese Inkonsequenz der russischen Führung gezeigt hat, dass die deutsche Politik sich beeinfluss- und erpressbar hält.<br />
<br />
Faszinierend ist auch die Erörterung der Geschichte russischer Innenpolitik seit der Auflösung der Sowjetunion sowie des Einflusses der Einstellungen relevanter Geburtenjahrgänge des Landes auf die Außenpolitik. Hier spielten die enttäuschten Hoffnungen auf Annäherungen des Lebensstandards an die westlicher Länder offenbar eine wichtige Rolle bei der Rückkehr zum kurzzeitig überwundenem Feindbild „Westen“. Nachdem die anfangs von Putin angestrebte Verbreiterung des Mittelstandes in Russland zugunsten einer winzigen Elite von Superreichen scheiterte, tauschte dieser seine politische Zielgruppe aus und orientierte seine Argumentation von da an an den anti-westlichen Ressentiments der älteren Bevölkerungsgruppe.<br />
<br />
Spannend wäre es zu erfahren, wie die Autor*innen ihre Analysen und Einschätzungen nach Beginn der russischen Offensive in der Ukraine bewerten bzw. aktualisieren würden. Vieles deutet darauf hin, dass sie ihre Prognosen und Annahmen der Basis von Putins Handeln und der erforderlichen Antwort der internationalen Gemeinde im Wesentlichen als bestätigt betrachten würden.<br />
<br />
* Heinemann-Grüder, Andreas; Crawford, Claudia; Peters, Tim B. (Hrsg.): Lehren aus dem Ukrainekonflikt. Krisen vorbeugen, Gewalt verhindern<br />
* Verlag Barbara Budrich, Opladen 2022<br />
* 249 Seiten, Paperback<br />
* ISBN: 978-3-8474-2555-7.<br />
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<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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{{Vorlage:AutorIn:fb}}<br />
[[Kategorie: Herbst 2022]]<br />
[[Kategorie: Rezensionen]]<br />
[[Kategorie: Militarismus]]<br />
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<hr />
<div>== Ist digitale Souveränität möglich? ==<br />
'''fb''' In den letzten zehn Jahren ist auch in westlichen Demokratien das Thema „digitale Souveränität“ ein prägender Aspekt der Diskussionen um die Rolle des Internets und die Implementierung von Internetpolitik geworden (vgl. Pohle/Thiel 2019: 70). Die vorausgegangenen Diskurse um staatliche Souveränität vs. einer digitalen globalen Netzwerkwelt brachten äußerst unterschiedliche Perspektiven und Deutungen zu diesem Spannungsfeld hervor, die in einer Vielzahl ganz verschiedener Definitionen digitaler Souveränität im aktuellen Diskurs wiedergefunden werden können (vgl. Goldacker 2017: 3). Voraussetzung für die Beantwortung der Frage, ob digitale Souveränität unter den aktuellen Umständen möglich ist, ist es, einen sinnvollen Rahmen zu dafür setzen, was unter digitaler Souveränität verstanden werden soll. Diesen vorausgesetzt wird in diesem Essay argumentiert, dass die Frage doppelt bejaht werden kann: Sie ist sowohl sinnvoll als auch möglich.<br />
<br />
Vom Fraunhofer Kompetenzzentrum Öffentliche IT wird folgende Kurzdefinition vorgeschlagen: <br />
''"Digitale Souveränität ist die Summe aller Fähigkeiten und Möglichkeiten von Individuen und Institutionen, ihre Rolle(n) in der digitalen Welt selbstständig, selbstbestimmt und sicher ausüben zu können." (Goldacker 2017: 3)''<br />
<br />
So elegant und prägnant dieser Formulierungsvorschlag wirken mag, ist mit dieser Definition eine Beweisführung für das Zutreffen der Fragestellung dieses Beitrags unmöglich. Etwas, das alle Fähigkeiten und Möglichkeiten umfasst, kann nur eine Zielformulierung, eine Vision sein, aber unmöglich in einer komplexen Realität mit höchst unterschiedlichen Individuen, gesellschaftlichen Prozessen und Machtverteilungen Erfüllung finden<ref>Die These könnte durch ein einziges Gegenbeispiel, bei dem es nicht gelingt, den Fähigkeiten bzw. Möglichkeiten eines Individuums (oder Personengruppe) gerecht zu werden, widerlegt werden.</ref>. Wird die angebotene Definition dagegen als Vision verstanden, der sich die realen Gegebenheiten möglichst perfekt annähern sollen, ist eine Argumentation zumindest möglich.<br />
<br />
Weiterhin ist eine Einschränkung auf Demokratien notwendig, da die Ziele und Interpretationen digitaler Souveränität von autokratischen Systemen wie China und Russland in wesentlichen Teilen von den aktuellen Diskursen in demokratischen Gesellschaften abweichen (vgl. Pohle/Thiel 2019: 70 ff.). Es handelt sich somit um verschiedene Ideen digitaler Souveränität, die vermutlich sich widersprechende Argumentationslinien erfordern würden. Bei Fokussierung auf die demokratische Perspektive kann dagegen festgehalten werden, dass es um „Selbstbestimmungsfähigkeit im digitalen Raum“ (Pohle/Thiel 2019: 70) geht, was die Sicherheit staatlicher und in Unternehmensbesitz befindlicher IT-Infrastrukturen, Datenschutz, Stärkung von Nutzer*innenrechten und wirtschaftliche Stabilität umfasst (vgl. Pohle/Thiel 2019: 72). Digitale Souveränität meint somit nicht nur die staatliche Souveränität, sondern auch die Souveränität des Individuums (vgl. Pohle/Thiel 2019: 73). Diese Definition voraussetzend, kann nun gezeigt werden, dass digitale Souveränität sowohl sinnvoll als auch möglich ist. <br />
<br />
Selbstbestimmung bedeutet insbesondere über die Bedingungen der Verwendung der eigenen Daten entscheiden zu können. Dies erfordert sowohl rechtliche Rahmenbedingungen als auch digitale Kompetenzen. Die Nutzer*innen müssen verstehen, was mit ihren Daten geschieht, welche Interessen an deren Verwendung durch Dritte bestehen können, wie sie vertraglich und softwareseitig ihre Datenfreigaben konfigurieren können und müssen Zugriff auf geeignete Programme haben. Die Unternehmen und Einrichtungen, die persönliche Daten verarbeiten, wiederum müssen wirkungsvoll dazu bewegt werden, diese Möglichkeiten zu schaffen und entsprechende Wünsche der Datengeber*innen zu respektieren. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, drohen eine ganze Reihe von Nachteilen für die Datengeber*innen – angefangen mit Übervorteilung bei der Profiterzielung im Zuge der Weiterverwendung über die unerwünschte Erzeugung umfangreicher Personenprofile, die manipulative Selektion bereitgestellter Inhalte und Angebote bis hin zu kriminellen Akten wie Identitätsdiebstahl (vgl. Goldacker 2017: 3, 5, 7, 12). Datenschutz und die Sicherstellung von Nutzer*innenrechten sind somit augenscheinlich sinnvoll für die Mitglieder der Gesellschaft.<br />
<br />
Mit zunehmender Digitalisierung der Gesellschaft steigt nicht nur die Abhängigkeit von IT-Sicherheit bei Unternehmen, die digitale Dienstleistungen anbieten oder auch nur Daten digital verarbeiten, sondern auch bei staatlichen Einrichtungen und Individuen: Die Grundprinzipien der Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Integrität von Daten werden wichtiger, da immer mehr Informationen digital verfügbar sind bzw. bereitgestellt werden müssen, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Immer mehr Aktivitäten und Dienstleistungen erfolgen über digitale Wege und ein Ausfall von Systemen kann zumindest temporär zum Ausschluss aus Kommunikation und Nutzung von privaten sowie beruflich erforderlichen Diensten führen. Die Vertrauenswürdigkeit, dass diese nicht manipuliert wurden, wird umso bedeutungsvoller, umso mehr auf digitale Daten gesetzt wird. Die IT-Infrastruktur von Staat und Wirtschaft kann sowohl das Ziel feindlicher Attacken (Terrorismus, kriegerische Aktivitäten, externe politische Einflussnahme) als auch für Wirtschaftskriminalität (Identitätsdiebstahl etc., um sich fremden Besitz anzueignen) werden. Sie vor solchen Szenarien zu schützen, ist daher sowohl auf der Makroebene für den Staat, als auch auf der Mesoebene für Unternehmen und Vereinigungen, sowie auf der Mikroebene für die individuellen Bürger*innen sinnvoll.<br />
<br />
Von einer derzeit nationalstaatlich organisierten Welt ausgehend, in der nur einzelne Themenfelder durch globale Institutionen und meist auf hohem Abstraktionsniveau reguliert sind, ist zu beobachten, dass die Bedürfnisse der Nutzer*innen digitaler Infrastrukturen realistisch nur von den Nationalstaaten oder institutionell dicht verfassten Regionalorganisationen abgesichert werden können. Einerseits unterscheiden sich die Interessen der beteiligten Unternehmen je nach Profitakkumulierungsstrategie, andererseits sind auch die Bedürfnisse der Bürger*innen abhängig von den jeweiligen Diskursen. Daher verwundert es nicht, dass auch die softwareseitigen Angebote regional variieren und beispielsweise auf Datenschutzinteressen unterschiedlich passend eingehen. Diskussionen beispielsweise in der EU über Ansätze zur Datenlokalisierung im EU-Raum verweisen auf die häufig anzutreffende Überzeugung, dass eigene wirtschaftliche und fachliche Kompetenzen Voraussetzung seien, diesen verschiedenen Interessen gerecht zu werden (vgl. Pohle/Thiel 2019: 72). Damit einher geht die bereits angesprochene wirtschaftliche Stabilität als eines der Elemente des aktuellen Diskurses um digitale Souveränität. Soll die Umsetzung innerhalb eines politischen Systems ausgehandelter Standards nicht von Akteuren außerhalb der eigenen politischen Sphäre abhängig sein, müssen entsprechende Kapazitäten in der eigenen Region und von dort verankerten Institutionen geschaffen werden.<br />
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Regelungen zur Stärkung von Nutzer*innenrechten einschließlich der Gewährleistung von Datenschutz sind möglich, wie die Einführung der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung von 2018 zeigte. Auch an den technischen Möglichkeiten einer Umsetzung besteht kein Zweifel – dies zeigen Anpassungen beispielsweise in gängigen Browsern oder auch bei der Konfigurationsfähigkeit von Webdiensten hinsichtlich der verwendeten Trackingdienste. Dass einige Unternehmen dadurch weniger Profit machen, steht außer Frage, aber offensichtlich können diese trotzdem wirtschaftlich arbeiten, und auch unabhängig davon könnte normativ argumentiert werden, dass es keinen Rechtsanspruch auf Profitmaximierungsmodelle gibt, die auf massivem Eingriff in die Grundrechte der Bürger*innen basieren. Selbstbestimmungsfähigkeit kann durch die Förderung der digitalen Kompetenzen der Nutzer*innen und durch eine rechtliche Verankerung ihres Anspruchs auf Dienste, die eine Adaption an ihre Bedürfnisse ermöglichen, hergestellt werden (vgl. Goldacker 2017: 7 ff.). Dass auch kritische IT-Infrastruktur durch restriktivere Regelungen geschützt werden kann, zeigen die auf dem niedrigeren Niveau von Alltagsanwendungen und Unternehmenssoftware implementierten Sicherheitsmerkmale sowie die Existenz solcher Regelungen für konventionelle Teile der kritischen Infrastruktur. Problematischer erscheint die Möglichkeit des Aspekts wirtschaftlicher Stabilität: Offensichtlich ist diese sehr voraussetzungsreich, da sie vermutlich eine hohe Wirtschaftskraft der betreffenden Gesellschaft erfordert, um sich Produktions- und Bereitstellungsinfrastrukturen sowie hochspezialisierte Fachkräfte leisten zu können. Möglicherweise ist dies ein Kriterium, das nur für wirtschaftlich starke Gesellschaften erreichbar ist.<br />
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Offensichtlich ist digitale Souveränität, wie hier definiert, sinnvoll. Ob sie auch möglich ist, umfasst eine Reihe an Voraussetzungen, von denen die Wirtschaftskraft einer Gesellschaft womöglich die problematischste ist. Zumindest für westliche Demokratien, wie die der BRD oder auch im Rahmen der Europäischen Union, kann die Frage nach der Möglichkeit digitaler Souveränität bejaht werden. Beide erörterte Aspekte haben allerdings theoretischen Charakter, weswegen in der praktischen Umsetzung immer auch Herausforderungen zu erwarten sind. Da digitale Souveränität aber sinnvoll und möglich erscheint, kann durchaus von der Politik gefordert werden, dass sie sich um deren möglichst optimale Umsetzung bemüht.<br />
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=== Literatur ===<br />
* Goldacker, Gabriele (2017): Digitale Souveränität. Datenschutz und Datensicherheit - DuD. Berlin: Kompetenzzentrum Öffentliche Informationstechnologie.<br />
* Pohle, Julia; Thiel, Thorsten (2019): „Digitale Vernetzung und Souveränität: Genealogie eines Spannungsverhältnisses“. In: Borucki, Isabelle; Schünemann, Wolf J. (Hrsg.) Internet und Staat: Perspektiven auf eine komplizierte Beziehung. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG S. 57–80.<br />
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<small><small>{{Fußnoten}}</small></small><br />
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